Ehemaliger Vizekanzler besucht Kloster Irsee

Im Gespräch mit Augsburgs Weihbischof Dr. Anton Losinger und Ex-MdB Robert Antretter warnt Sigmar Gabriel vor einer „Dekade der Konflikte“.

Zum französischen Nationalfeiertag, der die Werte der westlichen Demokratien von Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit betont, luden Augsburgs Weihbischof Dr. Dr. Anton Losinger und der frühere Bundestagsabgeordnete und Vizepräsident des Europarats, Robert Antretter, den ehemaligen Außenminister und Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland, Sigmar Gabriel, ins Schwäbische Bildungszentrum Kloster Irsee ein. Nach zweijähriger Pandemie-Pause widmeten sich die Irseer Gespräche angesichts des brutalen Angriffskriegs auf die Ukraine den Herausforderungen einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur.

Gabriel, der auch Vorsitzender der Atlantikbrücke ist, erinnerte daran, bereits 2018 angesichts tektonischer Verschiebungen in den globalen Machtachsen von einer „Zeitenwende in der Weltpolitik“ gesprochen zu haben. Amerikas Rückzug aus der – auch in Deutschland vielfach kritisierten – Rolle als Weltpolizist habe einen freien Raum hinterlassen, wobei autoritäre Staaten versuchten, dieses Macht-Vakuum zu füllen. „Die Berliner Republik hat zu lange aus einem Gefühl der moralischen Selbstüberschätzung gelebt, stattessen müssen wir es wieder lernen, uns in die Schuhe der anderen zu stellen. Nicht, um deren Positionen einzunehmen, sondern um Kompromisse auszuloten“, mahnte Gabriel, der als Niedersächsischer Ministerpräsident, Umwelt-, Wirtschafts- und Außenminister sowie als ehemaliger SPD-Vorsitzender und Vizekanzler einer der prägendsten Politiker der letzten Jahrzehnte ist.

Dr. Anton Losinger, Weihbischof und Dompropst im Bistum Augsburg, der 1994/95 eine Gastprofessur an der Catholic University of America in Washington innehatte, warnte in diesem Zusammenhang vor einer Spaltung der Gesellschaft, wenn diese sich nicht mehr auf ein gemeinsames Wertegerüst verständigen kann: „Eine christlichen Friedensethik ist prinzipiell geleitet von der Idee der Menschenwürde und des Völkerrechts, aber aktuell getrieben von der brutalen Realität eines Krieges in Europa, der politische Instrumente seltsam ohnmächtig und stumpf erscheinen lässt.“

Realpolitiker Gabriel gab zu bedenken: „Wir haben unsere Logik verabsolutiert. Dabei wird das Zeitalter der Globalisierung, von dem Deutschland als Exportweltmeister maximal profitiert hat, von einer neuen Geo-Politik abgelöst, sodass wir uns auf mittel- bis langfristige Auseinandersetzungen einzustellen haben.“ Der Überfall auf die Ukraine bedeutet den Bruch des Minimalstandards des Völkerrechts, beklagte der ehemalige deutsche Außenminister: „Ein Imperium will ein Land, das in die Freiheit gegangen ist, rekolonialisieren“. Um sich dem entgegen zu stellen, ist Deutschland auf ein einiges Europa wie auf die Unterstützung der Vereinigten Staaten dauerhaft angewiesen.

Robert Antretter, langjähriger Abgeordneter im Deutschen Bundestag und von 1993 bis 1999 Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, stimmte dem zu: „Europa muss sich weiterentwickeln und auf einen gemeinsamen Blick auf die Welt festlegen“, wobei Sigmar Gabriel zu strategischer Geduld, aber auch zu realpolitischer Vorsicht mahnte. „Politik heißt immer auch, sich schuldig zu machen“, stellte Gabriel nüchtern fest, so müsse aktuell jede Partei das Gegenteil von dem machen, für was sie eigentlich programmatisch stehe: Die SPD Waffen verkaufen, die Grünen fossile Brennstoffe organisieren und die FDP Schulden machen.

Die Irseer Gespräche bieten ein vertrauliches Dialog-Forum zwischen Kirche, Politik und Gesellschaft. Gäste waren bislang Münchens ehem. Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel mit seiner Frau Lieselotte (2016), der ehem. Vorsitzende des Bundes für Umwelt und Naturschutz, Prof. Dr. Hubert Weiger (2017), Bayerns ehem. Wirtschaftsminister Franz Josef Pschierer (2019) sowie der langjährige Kultusminister und Vorsitzende des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Prof. Dr. Hans Maier (2019). „Irsee ist weder Davos noch Elmau“, bilanziert Dr. Stefan Raueiser, Leiter des Tagungs-, Bildungs- und Kulturzentrums des Bezirks Schwaben, die Gesprächsreihe: „Ohne Publikum und ohne Presse geht es um Fragen der ethischen Grundierung gesellschaftlicher Herausforderungen. All dies geschieht im Angesicht der Gräber der NS-„Euthanasie“-Opfer, so dass ein Besuch des Irseer Patientenfriedhofs fester Bestandteil der Treffen ist.“

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