Langsamer ist mehr: Wie ein Tempolimit für die Schiene der Bahn Beine machen könnte

Eine Gruppe von Verkehrs- und Klimaforschern wirbt für ein neues Bahnkonzept mit dem Ziel, die Kapazitäten bis 2030 zu verdreifachen. Im Zentrum steht dabei die Idee einer Durchschnittsgeschwindigkeit aller Züge des Personen- und Güterverkehrs im Bereich von 120 Stundenkilometern. Das Modell „Takt vor Tempo“ verspricht maximale Klimagasreduktionen bei vergleichsweise geringen Kosten. Das Problem: Der nach Schnelligkeit, Wachstum und Rekorden lechzende Zeitgeist hat für einfache Rezepte nichts übrig und Fachpolitiker im Raserrausch am allerwenigsten. Um so wichtiger, dass für Mensch und Natur gesunde Alternativen auf den Tisch kommen

VON RALF WURZBACHER

Eine ganz normale Eisenbahnfahrt, wie täglich tausende ihresgleichen: Schon in Hamburg-Altona legt der ICE mit Verspätung los, irgendwas mit „Betriebsstörung“. Schwitzige Hände, schaffe ich es rechtzeitig bis Hannover? Der Weg dorthin ein Wechselbad der Gefühle. Passagen mit über 300 Sachen versanden zu Langsamfahrten außer Plan und ich – mal außer mir, dann wieder voller Hoffnung, denn natürlich hat auch der Anschlusszug Verzug – sehne die Erlösung herbei. Endlich angekommen, bloß zwölf Minuten überm Soll, abgehetzt an Gleis elf, kann ich noch die Rückscheinwerfer meines Intercitys erahnen. Wäre auch zu schön gewesen …

Es könnte auch anders laufen. Bei einer Konferenz in Malente – wo ehedem ein „Geist“ die deutsche Fußballnationalmannschaft zum 1974er-Weltmeistertitel anspornte – schlug im Juni die Geburtsstunde des „200%-Plus-Bahn-Konzepts“. Das ehrgeizige Ziel dahinter: Eine Verdopplung der Kapazitäten der Deutschen Bahn (DB) auf kurze Sicht und eine Verdreifachung bis 2030. Wie das? Ganz einfach, beziehungsweise ganz schwer, denn zunächst wäre dieser Zeitgeist zu knacken. Der nämlich fährt seit langem auf „immer größer“ und „immer schneller“ ab und mag keine kleinen Brötchen backen. Für eine echte bahnpolitische Umkehr zum Wohle der Kunden, zum Wohle des Klimas bräuchte es aber vor allem das: Bescheidenheit, Mäßigung, Bodenhaftung.

Mehr Reisende, weniger Stress

In einem im Oktober auf dem Branchenportal „LOK Report“ veröffentlichten Aufruf einer Gruppe 20 namhafter Wissenschaftler aus der Verkehrs- und Klimaforschung ist der Fahrplan der Erneuerung skizziert. Würden alle Züge im DB-Netz, im Personen- wie im Güterverkehr, mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit im mittleren Bereich von 120 Kilometern pro Stunde unterwegs sein, könnten diese in deutlich geringeren zeitlichen Abständen und deutlich energieeffizienter verkehren, heißt es darin. Die Rede ist von einem Zehnminutentakt, der gerade auch auf hochfrequentierten Verbindungen ein Plus an Reisenden bei größerer Zuverlässigkeit und weniger Stress verheißt.

Zu den Unterstützern des „Weckrufs“ gehören der ehemalige DB-Manager Karl-Dieter Bodack, der Verkehrsplaner Christian Holz-Rau von der Technischen Universität Dortmund, der Sprecher des Bündnisses „Bahn für Alle“, Bernhard Knierim, Hermann Knoflacher vom Institut für Verkehrsplanung und Verkehrstechnik der Technischen Universität Wien, der Bundesvorsitzende der NaturFreunde Deutschlands, Michael Müller, sowie der Bahnexperte und Publizist Winfried Wolf. Sie eint die Überzeugung, dass die Bahn mit den bisherigen Ausbauplänen „die mögliche Verkehrsverlagerung und damit die notwendigen Klimaziele nicht erreichen“ könne. Nach dem Motto „Takt vor Tempo“ sei ihr Rezept dagegen „konsequent auf schnelle und maximale Reduktion der CO₂-Emissionen ausgerichtet“ und ein kostengünstiges Gegenstück zu der auf immer mehr Beton und immer mehr Geschwindigkeit setzenden Marschrichtung der DB-Führung sowie der Bundesregierung.

Größenwahn hat Konjunktur

Tatsächlich sollen mittel- und langfristig erhebliche Investitionen in die in Jahrzehnten auf Verschleiß gefahrene Bahninfrastruktur getätigt werden. Allerdings wollen die Macher weiterhin Unsummen in größenwahnsinnige Projekte wie Stuttgart 21, die Fehmarnbelt-Querung oder die Verlegung des Bahnhofs Hamburg-Altona stecken. Allein für die „Rettung“ von S21 müssen vier Extratunnel gebuddelt werden, womit die Gesamtausgaben stramm auf die Marke 20 Milliarden Euro zusteuern. Noch stärker schlagen die versteckten Klimakosten zu Buche. Mit jedem neuen Tunnel, jeder neuen Brücke werden gewaltige Energiemengen in Stahl, Beton und den Bau gesteckt, was die CO₂-Bilanz auf Jahrzehnte verhagelt.

Das Fatale: Diese sogenannte graue Energie haben viele der selbsternannten Klimaretter, etwa in Reihen der Grünen-Partei, gar nicht auf dem Zettel. Die Bundesregierung will die Fahrgastzahlen bis 2030 verdoppeln – schön. Nicht schön, dass dafür zunächst Abermillionen Tonnen an Erde, Stein und Sand bewegt werden müssen, nur damit man eine 500-Kilometerstrecke (theoretisch) ein Viertelstündchen schneller abreißt. So erschöpft sich der sogenannte Zweck der geplanten ICE-Trasse zwischen Bielefeld und Hannover darin, die Fahrzeit zwischen Berlin und Köln um 20 Minuten zu verkürzen. Wow! Aber wer braucht so etwas? Wäre es nicht viel schöner und zielführender, würde die Verbindung mehrmals pro Stunde offeriert und dafür mit ein bisschen mehr Gemütlichkeit?

Graue Energie, graue Theorie

Zur grauen Energie kommt noch die graue Theorie. Ihren möglichen Topspeed von bis zu 330 Kmh können die ICE-Geschosse der neuesten Generation gar nicht ausreizen (das Streckennetz erlaubt maximal 300 Kmh) und wenn es punktuell doch mal Richtung Limit geht, dann nur um den Preis, dass andere ausgebremst werden. Wie oft hängt man in der S- oder Regionalbahn auf den Überholgleisen fest (und verpasst seinen Anschluss), damit ein ICE-Sprinter vorbeirauschen kann, um wenigstens die übliche Fünf-Minuten-Verspätung einzuhalten. Zur Normalität gehört es auch, dass Güterzüge stundenlang auf die Streckenfreigabe warten müssen, die Güterbahnhöfe verstopfen und so ihr Alternativpotential zum Straßenverkehr nicht ausspielen können.

Hendrik Auhagen, Mitbegründer des Bündnisses „Bahn für Alle“, hat die Vorzüge des „200%-Plus-Bahn-Konzepts“ in einem Beitrag auf dem Blog „bruchstücke“ am Beispiel der „völlig überlasteten“ Strecke Hamburg-Hannover aufgezeigt. Bei Umsetzung könnten demnach im Fünf-Minutentakt „pro Stunde jeweils sechs Personenzüge und sechs lange Güterzüge in einer Richtung verkehren“. Dabei würden lediglich zehn Minuten mehr Fahrzeit anfallen, die aber ausreichten, „sofort große Kapazitätssteigerungen zu ermöglichen“.

Die Analogie zum Straßenverkehr liegt auf der Hand: Auch dort gilt, dass eine einheitliche Geschwindigkeit den Verkehrsfluss befördert, während bei einem Gemisch aus Raserei, moderatem und Schneckentempo insgesamt mehr Autos weniger rasch zum Ziel gelangen, zumal auch wegen der erhöhten Unfall- und Staugefahr. Ein dichteres Taktangebot werde hingegen „für die meisten Fahrgäste auch bei teilweise langsamer fahrenden Fernzügen zu kürzeren Reisezeiten führen“, heißt es in besagtem Aufruf. Dabei könnten die Güterzüge „eingereiht in den Rhythmus der Reisezüge mitfahren“. Im übrigen verfechten die Unterzeichner kein Tempolimit im Sinne eines Dogmas. Wo es die Streckenverhältnisse hergeben, etwa auf reinen ICE-Trassen, sollen durchaus höhere Geschwindigkeiten gestattet und sogar erwünscht sein, sofern damit dem Verkehrsfluss in der Gesamtheit gedient ist.

Klimaziele „viel zu klein“

Freilich wären für all das auch Vorarbeiten zu erledigen. Die Pläne sähen die Errichtung von 50 bis 100 Güterzentren in Deutschland vor und „nur noch für die letzten maximal 50 Kilometer sollen die Güter dann per LKW zu den Endadressen unterwegs sein“, schrieb Auhagen in besagtem Artikel. Innerhalb weniger Jahre „könnte so ein Drittel der Gütermengen von der Straße auf die Schiene verlagert werden, weil es beim Taktkonzept auch ohne neue teure Schnellstrecken möglich ist, die Kapazitäten stark zu erhöhen“. Ebenso wäre eine Abkehr von der einseitigen Fixierung auf den Fernverkehr vonnöten. Politisch rechtfertigt wird dies vor allem mit der Maßgabe, den Inlandsflugverkehr auf die Schiene umzulegen. Dabei entfalle auf diesen „nur ein Prozent der Verkehrsleistung und rund zwei Prozent der Verkehrsemissionen“, führen die Initiatoren in einem fachlichen Hintergrund zu ihrem „Weckruf“ aus.

In dem Papier sind die politisch ausgegebenen Ausbau- und Klimaziele als „viel zu klein“ eingestuft. Die propagierte Verdopplung des Personenaufkommens und die Erhöhung des Schienenanteils am Güterverkehr auf 25 Prozent leisteten „keinen relevanten Beitrag zur Klimarettung“, heißt es. Plädiert wird für eine neue Priorisierung dahingehend, den Schwerpunkt der Investitionen auf den Regional- und Güterverkehr zu legen. Beim Personenverkehr müsste dabei der Hebel bei Fahrten zwischen 15 und 250 Kilometern angesetzt werden, beim Güterverkehr im Bereich von 150 Kilometer aufwärts. Denn für diesen werde die Schiene mit steigender Entfernung „immer attraktiver (nur ein Lokführer statt 50 LKW-Fahrer)“.

Fernzüge im Regionalverkehr

Verlockend ist die Strategie vor allem deshalb, weil sie auf dem Vorhandenen aufbaut und nicht erst zuwarten muss, bis diese oder jene Brücke aus dem Boden gestampft wurde. Zunächst müsste man sich auf ein 5.000 Kilometer langes „Grundnetz“ konzentrieren, auf dem „Personenzüge mindestens halbstündlich fahren, auf Hauptachsen alle zehn Minuten“, liest man in besagtem Hintergrundpapier. Zum Einstieg alle halbe Stunde sollten auch Güterzüge rollen, nach erfolgtem Kapazitätsausbau dann gleichfalls im Zehn-Minuten-Abstand. Der Tagverkehr reduziere dabei die benötigten Abstellgleise, die dann verstärkt für die Verladung genutzt werden könnten. Auf mittlere Sicht sollten Regionalzüge „hochbeschleunigende Triebwagen mit vielen Türen und stufenlosen Einstiegen für schnellere Passagierwechsel“ bekommen und sogar Fernzüge in den Regionalverkehr eingebunden werden. Das würde die Taktdichte erhöhen und zu „kürzeren Wartezeiten zur schnelleren Ankunft“ führen.

Sind das alles nur Luftschlösser? Sicherlich nicht, wenn es bloß ums technisch Machbare ginge. Und auch in puncto Finanzierung wäre das Modell der „Bahnstrategie“ der Bundesregierung haushoch überlegen. Für Auhagen von „Bahn für Alle“ hat das Konzept jedoch einen entscheidenden Haken: „Es ist nicht sexy! Es bricht mit einem heiligen Grundsatz der offiziellen Bahnpolitik, nämlich mit dem absoluten Vorrang der Geschwindigkeit.“ Dafür nehme man „unglaubliche Summen und gigantische CO₂-Mengen in Kauf, für die die junge und kommende Generationen werden bezahlen müssen“, bemerkte er gegenüber den NachDenkSeiten. Selbst viele umwelt- und klimapolitisch Aktive fühlten sich von der „ICE-Raserei angezogen und wollen nichts von den damit verbundenen Verheerungen fürs Klima wissen“.

Fridays for Future nicht interessiert?

Hierin sieht Auhagen auch den Grund dafür, dass das Rezept bisher weitgehend ohne mediale Resonanz geblieben ist und selbst Akteure wie die Fridays-for-Future-Bewegung (FFF) nicht für eine öffentliche Unterstützung zu gewinnen waren. „Dabei verspricht es genau das, was händeringend von Klimabewegten gefordert wird: statt Kleinstmaßnahmen endlich einen großen Wurf bei Klimagasreduktionen im Verkehrssektor hinzukriegen.“ Wie zum Beleg äußerte sich eine FFF-Sprecherin am Dienstag auf Anfrage der NachDenkSeiten: „Mit dem Konzept haben wir uns nicht beschäftigt und werden daher keine Aussagen dazu treffen. Entsprechend möchten wir dazu auch nichts veröffentlichen.“

Aus Sicht von Greenpeace beinhaltet das Konzept „richtige Ansätze, allerdings teilen wir nicht alle Schlussfolgerungen“. Sabine Sommer, Fachkampaignerin für „Transport & Mobility“, nannte die Harmonisierung der Durchschnittsgeschwindigkeiten den „falschen Weg“. Wie sie gegenüber den NachDenkSeiten mitteilte, fordere ihr Verband auf europäischer Ebene ein Verbot der Kurzstreckenflüge, für die Bahnverbindungen von unter sechs Stunden Reisezeit existierten. „Ohne solche schnellen Bahn-Alternativen wird es kein Verbot dieser klimaschädlichen Flüge geben.“ Die Menge der dadurch vermiedenen Treibhausgase „liegt nach unserer Überzeugung oft schon nach wenigen Jahren deutlich über den CO₂-Emissionen durch den Ausbau von Hochgeschwindigkeitsstrecken“.

In Beton gemeißelt

Auhagen hält dagegen: Erstens gebe die auf maximales Tempo ausgerichtete Bahnpolitik den „Löwenanteil ihrer Investitionen für einen kleinen Teil der Passagiere aus“. Zweitens schaffe der Bund das Konkurrenzproblem selbst, indem er den Luftverkehr „steuerlich subventioniert, keine Kerosinsteuer erhebt“ und „unrentable Regionalflughäfen subventioniert“. Sein Plädoyer: „Lohnt es sich nicht, für ein großes Verkehrswendeprojekt, das jährlich über 20 Millionen Tonnen CO₂ im Verkehrsbereich einsparen hilft, notfalls zehn Prozent Reisezeit länger unterwegs zu sein?“ Angesichts der Dringlichkeit der klimapolitischen Herausforderungen sollte das eigentlich eine rhetorische Frage sein. Nur ticken die politisch Verantwortlichen irgendwie anders. Was beschied Endlich-Ex-Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) zur Forderung nach einem generellen Tempolimit von 130 Kmh auf deutschen Autobahnen? Das sei „gegen jeden Menschenverstand“. Wer mit dergleichen für die Schiene liebäugelt, handelt mindestens gegen den Zeitgeist. Und der wirkt bahnpolitisch seit Jahrzehnten wie in Beton gemeißelt.

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