The Happy End of Franz Kafka’s ‘Amerika’ ist nicht nur Kippenbergers größtes Werk, sondern auch Sinnbild für sein gesamtes künstlerisches Schaffen. Der Künstler, der in Essen als Sohn des Direktors der Zeche Katharina aufwuchs, verbrachte mehrere Jahre mit den Vorbereitungen, Recherchen und Produktionsmaßnahmen. Auf einem 20 x 23 Meter großen Fußballfeld – flankiert von zwei Besuchertribünen – arrangierte er fünfzig Tisch-Stuhl-Ensembles zu einem kafkaesken Kommunikationsraum für eine aberwitzige Personal-Rekrutierung. Neben Ikonen des Möbeldesigns und einfachen Fundstücken von Trödelmärkten integrierte Kippenberger auf der Spielfläche spezifische Anfertigungen und Objekte aus früheren Ausstellungen sowie Skulpturen, Videoinstallationen und Malereien zahlreicher befreundeter Künstler*innen – etwa von Cosima von Bonin, Georg Herold, Tony Oursler, Jason Rhodes, Ulrich Strothjohann und Franz West.
In dieser Großinstallation zwischen skulpturalem Wimmelbild und sozialer Plastik erzählt Kippenberger die Geschichte (s)eines Lebens inspiriert von Franz Kafkas unvollendetem Roman Der Verschollene / Amerika: Kafkas Protagonist, der junge Karl Roßmann, wird von seinen Eltern nach Amerika geschickt, wo er auf sich allein gestellt ein entbehrungsreiches Leben voller Härten und Zurückweisungen führt, bis er eines Tages das Plakat des großen Theaters von Oklahoma erblickt: „Wer an seine Zukunft denkt, gehört zu uns! Jeder ist willkommen! Wer Künstler werden will, melde sich! Verflucht sei, wer uns nicht glaubt!“ heißt es da. Die Bewerbungsgespräche finden auf der Pferderennbahn von Clayton statt. Ob sich dort für Karl Roßmann die Hoffnung auf ein besseres Leben erfüllt, bleibt in dem Romanfragment unbeantwortet.
Kafkas literarische Vision übersetzte Kippenberger in ein dreidimensionales Bild. Die Tisch-Stuhl-Ensembles imaginieren ein improvisiertes Großraumbüro unter freiem Himmel als Schauplatz von massenhaften, gleichzeitig stattfindenden Einstellungsgesprächen. Tribünen am Rand des Feldes machen die Installation zu einer Arena des Wettbewerbs um das menschliche Streben nach Glück, Anerkennung und Heimat. Ob dieser zum Erfolg führt, ist bei Kippenberger ebenso ungewiss wie in Kafkas Roman. Zwischen ständigem Aufbegehren, Wortwitz und scharfsinniger Gesellschaftsanalyse entfaltet das Werk einerseits den einzigartigen künstlerischen Kosmos Kippenbergers. Andererseits ruft das scheinbar improvisierte „Camp“ Bilder von Ausnahmesituationen hervor und konfrontiert die Betrachter*innen mit aktuellen gesellschaftlichen Fragen nach den Mechanismen von Integration, Repression und Macht.
Während Kippenberger bei der Erstpräsentation 1994 im Rotterdamer Museum Boijmans Van Beuningen zusätzlich Möbelobjekte aus den Büroräumen und den Beständen der dortigen Museumssammlung in die Installation integrierte, werden in Essen die Tisch-Stuhl-Ensembles durch Möbelstücke aus der Villa Hügel ergänzt.
Zur Ausstellung erscheint eine Publikation, die neben begleitenden Texten auch die fünfzig Ensembles in ihren Einzelheiten untersucht. Es ist das erste Mal, dass die ‚Biografien‘ dieser Objekte und ihre Entstehungs- und Sammlungskontexte dank ausgiebiger Recherchearbeit in Zusammenarbeit mit dem Estate of Martin Kippenberger bis ins kleinste Detail erfasst werden.
Parallel zeigt die Kulturstiftung Ruhr in der Villa Hügel mit Vergessene Einrichtungsprobleme in der Villa Hügel rund 120 Künstlerbücher und 100 Plakate Martin Kippenbergers aus der Sammlung des Museum Folkwang. Der Titel ist einer Ausstellung Kippenbergers entlehnt, die 1996 in der Villa Merkel in Esslingen zu sehen war. Kippenbergers Künstlerbücher sind in der historischen Bibliothek, die Plakate in den ehemaligen Wohnräumen der Villa Hügel zu Gast. Die experimentellen, höchst individuellen und mitunter provokativen Bücher Kippenbergers stehen in wirkungsvollem Kontrast zu den klassischen Buchbeständen der Familie Krupp. Die Präsentation der Plakate richtet den Blick vor allem auf die unterschiedlichen Formen der Selbstinszenierung des Künstlers, aber auch auf seine Stellung im Netzwerk mit befreundeten Künstler*innen. Für Kippenberger waren Bücher und Plakate nicht nur eine Form der Dokumentation seiner Ausstellungen, sondern vielmehr ein demokratisches und leicht erschwingliches Mittel zur Verbreitung und Vervielfältigung seiner künstlerischen Ideen. Zugleich boten ihm Bücher und Plakate die Möglichkeit, gattungsübergreifend mit den Medien zu spielen: So klebte er unter anderem in die Mitte eines ansonsten leeren Ausstellungskatalogs ein Plakat zum Ausfalten (Collages, 1989), oder band für Old Vienna Posters (1992) überzählige zerschnittene Plakate zu einem Buch zusammen.
Das Buch war das ideale Medium für Kippenbergers Sprachwitz: Neben Publikationen zu Ausstellungen veröffentlichte er Reiseberichte, Kommentare zur Kunstwelt, Kalauer, schmale Bändchen und mit Café Central (1987) einen umfangreichen autobiografischen Text. Oft entstanden die Bücher in Gemeinschaftsarbeit mit anderen oder auf Anregung Kippenbergers – wie bei den zehn Büchern, die befreundete Autor*innen zur ersten Schau von The Happy End of Franz Kafka’s ‘Amerika’ veröffentlichten. Kongenial spinnen sie die Idee verschiedener Einstellungsgespräche fort, die sich in Kippenbergers The Happy End … abspielen könnten.
Einige Bücher in der Ausstellung laden ein, darin zu blättern und zu lesen. In einzelnen Fällen wird der Inhalt anhand digitaler Präsentationen erschlossen. Die Frage, wie sich Bücher ausstellen lassen, auch wenn Besucher*innen nicht darin blättern können, beantwortete Martin Kippenberger 1993 selbst mit der Installation Westfalenorgie mit Vorgeschichte für König von Kippenberger, die im Gartensaal der Villa Hügel zu sehen ist. Ebenfalls dort ausgestellt ist die Berliner Mauer: Geschaffen 1991 für eine Buchpräsentation im Schaufenster der Kölner Buchhandlung Walther König ist dieses außergewöhnliche Bücherregal nun erstmals wieder öffentlich zu sehen.
Die Bücher und Plakate konnten in den vergangenen Jahren dank der Unterstützung der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung für das Museum Folkwang erworben werden, sodass diese wichtigen Bereiche in Martin Kippenbergers Schaffen nun weitgehend vollständig in der Sammlung des Museums vertreten sind.
Die Ausstellung im Museum Folkwang wird gefördert von der Kunststiftung NRW.
Die Ausstellung in der Villa Hügel wird gefördert von der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung.
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