Alarmierende Zahlen
Es vergeht kaum ein Tag, an dem Dr. Catherine Senécal nicht von Kollegen oder Patienten gefragt wird, wie man verhindert, dass das eigene Kind eine Essstörung entwickelt. Seit über zehn Jahren engagiert sie sich ehrenamtlich für die Organisation ANEB (Anorexie et boulimie Québec), eine Beratungsstelle für Menschen mit Magersucht oder Bulimie. Eines ihrer Spezialgebiete als kognitive Verhaltenspsychologin ist die Behandlung von Essstörungen aller Art.
Allein die Zahlen aus ihrem Heimatland Kanada sind alarmierend und können auch auf andere Länder übertragen werden: Rund zehn Prozent der Jugendlichen haben bereits eine Diät zur Gewichtsreduktion gemacht. Ein Drittel von ihnen hat sogar einmal willentlich ein Erbrechen herbeigeführt, Abführmittel oder Appetitzügler eingenommen. Die Fragen von Eltern und Großeltern, Erziehern und Lehrern oder Trainern haben die Autorin des Erfolgstitels "Stop eating your emotions" (2018, zusammen mit Isabelle Hout) zu ihrem neuen Buch "Du bist gut so, wie du bist!" inspiriert, um betroffenen Kindern und Jugendlichen sowie ihren Eltern bei der Bewältigung von Essstörungen beizustehen.
Drei Etappen der Früherkennung
Zu den medizinischen Komplikationen, die mit Essstörungen einhergehen, gehören Herzrhythmusstörungen, Unfruchtbarkeit, Osteoporose, Schlafstörungen, Zahnschmelz-rückgang, Verdauungsprobleme, Entzündung der Speiseröhre etc. Ihre medizinische Behandlung zielt häufig auf die Verringerung dieser Risiken – ob man eben genug isst oder nicht. Dieses Modell berücksichtigt nach Senécal aber weder die psychologische Dimension noch den sozialen Druck, der besonders während der Pubertät ausgeübt wird.
Wie so häufig bei komplexen Phänomenen, sind die Ursachen von Essstörungen nicht leicht zu ermitteln. Die Entstehung von Essstörungen scheint am besten durch ein bio-psycho-soziales Modell erklärbar zu sein, das heißt, dass es eine Wechselwirkung zwischen Genetik und Umwelt gibt, die bis heute noch nicht vollständig geklärt ist. In ihrem Buch stellt die Psychologin u. a. drei Etappen vor, die zur Früherkennung von Essstörungen dienen, um dann über eine tiefergehende Behandlung zu entscheiden. Am Anfang stehe die objektive Befragung des Status quo mittels qualifizierter Fragebögen. Darüber hinaus gilt es sich mit den verschiedenen Formen von Essstörungen und ihren Besonderheiten vertraut zu machen: Unter dem Eindruck, die eigene Erscheinung sei nicht akzeptabel, wird die Nahrungsaufnahme meist entweder drastisch eingeschränkt (Anorexie bzw. Magersucht) oder zwanghaft kontrolliert (Bulimie bzw. Ess-Brech-Sucht). Je schneller eine Störung erkannt wird, desto schneller kann die Behandlung beginnen, und desto höher sind die Chancen auf eine vollständige Heilung.
Sind die Eltern verantwortlich für Essstörung ihrer Kinder?
Diese Frage wird Dr. Catherine Senécal ständig mehr oder weniger direkt gestellt. Inzwischen ist jedoch bekannt, dass die Auffassung, eine Essstörung bei einem Kind sei eine Folge des elterlichen Verhaltens, nicht haltbar ist und als überholt gilt. "Essstörungen sind sehr komplex; sie sind nicht das Ergebnis einer rationalen Entscheidung und noch weniger einer bestimmten Lebensweise", so Dr. Senécal.
Wenn Eltern sich Vorwürfe machen und schuldig fühlen, haben sie schnell das Gefühl, versagt zu haben. Daher hebt die kanadische Psychologin die positive Rolle hervor, die Eltern bei der Vorbeugung solcher Erkrankungen spielen können. Um Essstörungen bei Kindern vorzubeugen, sei es wichtig, Schluss zu machen mit den systematischen Schuldzuweisungen zu Lasten der Eltern, vor allem zu Lasten der Mütter. In den letzten Jahrzehnten haben Studien außerdem die Wirksamkeit der Familientherapie bei Kindern und Jugendlichen bewiesen, die an einer Essstörung leiden. Dieser Ansatz macht die Einbeziehung der ganzen Familie erforderlich und fordert die Eltern dazu auf, die Ernährung ihres Kindes wieder in die Hand zu nehmen, und zwar mithilfe geschulter Psychologen, Ärzte oder Ernährungsexperten, die als Berater hinzugezogen werden: "Wenn wir den Familien ermöglichen, sich einzubringen, und die Eltern dabei unterstützen, zu ‚Experten‘ zu werden, erhöhen wir also auch die Wahrscheinlichkeit, dass ihr Kind endgültig aus dieser Sackgasse herausfindet", unterstreicht Senécal.
Buch-Tipp:
Du bist gut so, wie du bist! So befreien Sie Ihr Kind vom Figurwahn. Mankau Verlag 2019, Klappenbroschur, 13,5 x 21,5 cm, 222 Seiten, € 16,90 (D) / € 17,40 (A), ISBN 978-3-86374-544-8.
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