Die aktuelle Studie bestätigt: Bei Migränepatienten geht oft wertvolle Zeit verloren, bis die richtige Diagnose gestellt wird [2], zudem erhält die Mehrheit von ihnen keine adäquate Akuttherapie und Prophylaxe [3], was nicht nur das Risiko für eine Chronifizierung und einen Medikamentenübergebrauch erhöht [4, 5], sondern auch die Lebensqualität erheblich einschränkt und unnötige Kosten verursacht. In die Studie wurden 1935 Patienten eingeschlossen, die zwischen 2010 und 2018 wegen ihrer Migräne die Kopf- und Gesichtsschmerzambulanz des UKE aufgesucht haben. Dorthin kommen neben Patienten, die von Allgemeinmedizinern oder Spezialisten für eine Zweitmeinung oder eine Optimierung der bisherigen Therapie überwiesen werden, auch Kopfschmerzgeplagte, die auf eigene Faust nach kompetenter Hilfe suchen. Die Studienteilnehmer waren im Schnitt 37,3 Jahre alt und litten durchschnittlich an 12,1 Tagen im Monat unter Kopfschmerzen.
Zu viele Arzttermine und unnötige Untersuchungen
In den zwölf Monaten vor ihrem ersten Termin in der Ambulanz haben die Patienten wegen ihrer Beschwerden im Schnitt etwa siebenmal einen Arzt aufgesucht – 89,5 Prozent einen Allgemeinarzt und 74,9 Prozent einen Neurologen. Zudem berichtete fast ein Drittel aller Patienten, wegen ihrer Migräne mindestens einmal in der Notaufnahme gewesen zu sein.
22,5 Prozent der Studienteilnehmer wurden wegen ihres Migränekopfschmerzes sogar bereits stationär behandelt. Fast die Hälfte hatte auch einen Orthopäden aufgesucht. "Die Patienten konsultieren immer wieder Orthopäden, weil es gar nicht selten zu nackenbetonten Schmerzen im Rahmen einer Migräneattacke kommt – aber die Migräne ist keine Erkrankung der Halswirbelsäule", stellt Förderreuther klar.
Dass bei Migränepatienten häufig unnötige Untersuchungen durchgeführt werden, belegen die Studienergebnisse ebenfalls eindrücklich. So ist bei 54,2 Prozent der Patienten wegen des Kopfschmerzes ein CT, bei 51,4 Prozent ein MRT des Kopfes durchgeführt worden, ohne dass dies zur Diagnose beigetragen hätte. Dabei besteht aufgrund wissenschaftlicher Untersuchungen Konsens, dass Patienten mit typischer Migränesymptomatik und normalem Untersuchungsbefund zur Sicherung der Diagnose keine Computertomographie (CT) oder Magnetresonanztomographie (MRT) benötigen. Bildgebende Untersuchungen verursachen erhebliche Kosten und tragen nicht zu einer verbesserten Therapie bei.
"Bildgebende Untersuchungen beruhigen Patienten und Arzt gleichermaßen. Patienten fordern oft ein CT oder MRT ein, weil sie sich schwer vorstellen können, dass so schwere Kopfschmerzen ohne krankhafte Befunde am Gehirn auftreten können." Die Schwelle, entsprechende Untersuchungen anzufordern, sei damit auch für den Arzt niedrig, denn er kann sich damit ein Stück weit absichern und zugleich seinem Patienten vermitteln, dass er die Beschwerden ernst nimmt, interpretiert Frau Dr. Förderreuther dieses Studienergebnis.
Medikamentenübergebrauch bleibt häufig unerkannt
Die Daten aus Hamburg zeigen darüber hinaus, dass ein Übergebrauch von Medikamenten bei Migränepatienten und die damit verbundene Chronifizierung der Attacken offenbar häufig unerkannt und damit auch unbehandelt bleibt. Denn von den 9,2 Prozent der Patienten, die bei ihrem ersten Besuch in der Ambulanz einen Kopfschmerz bei Medikamentenübergebrauch aufwiesen, hatten sich mehr als drei Viertel noch nie einem Entzug unterzogen. "Die Medikamente werden notgedrungen genommen, um im Beruf und im Privatleben zu funktionieren. Wenn Patienten einen Übergebrauch betreiben, ist ihnen das zwar meist bewusst, sie fürchten jedoch in der Regel um ihre Nieren- und Leberfunktion und ahnen nicht, dass der Übergebrauch gerade zur Verstärkung und Chronifizierung ihrer Kopfschmerzen wesentlich beiträgt", so die Präsidentin der DMKG.
Eine Prophylaxe wird selbst von Spezialisten zu selten eingeleitet
Patienten, die die Hamburger Kopfschmerzambulanz aufsuchten, hatten zu einem Drittel (34,2 Prozent) keine leitliniengerechte Therapie erhalten. Lediglich bei 0,6 Prozent waren alle empfohlenen Behandlungsstrategien ohne Erfolg eingesetzt worden. Mehr als der Hälfte der Studienteilnehmer (53,3 Prozent) war entweder nie ein Medikament zur Prophylaxe verschrieben worden oder sie hatten dieses nicht eingenommen – und das, obwohl bei drei von 5 Patienten (60,8 Prozent) die Indikation für eine Migräneprophylaxe bestanden hatte. Von diesen Patienten hatten 87,9 Prozent einen Allgemeinarzt und 67,5 Prozent sogar einen Neurologen aufgesucht. Für die Betroffenen hatte das gravierende Folgen. Denn diejenigen, die nicht vorbeugend behandelt worden waren, versäumten in den drei Monaten vor ihrem ersten Termin in der Ambulanz im Schnitt 5,1 (bis zu 15) Arbeits- oder Schultage, konnten an 8,2 (bis zu 19) Tagen im Monat den Haushalt nicht erledigen und verpassten im Schnitt 7,3 und in Einzelfällen bis zu 18 Tage ihres Familienlebens oder ihrer Freizeit.
Leitliniengerechte Therapie erweist sich als wirksam und gut verträglich
Dabei ist Migräne, wie Förderreuther betont, an sich nicht schwer zu therapieren. "Die Behandlung wird allerdings aufwendiger, je weiter ein Patient chronifiziert ist", gibt die Neurologin zu bedenken. Migräne ist eine hirnorganische Erkrankung, deren Verlauf durch viele Einflussgrößen, seien es nun zum Beispiel hormonelle Schwankungen, Lifestyle-Faktoren oder Stress, mitbestimmt wird. Dies zu erkennen und anzuerkennen ist für Arzt und Patient gleichermaßen eine Aufgabe. "Individuelle Therapiekonzepte erfordern mehr als nur ein Rezept. Die sprechende Medizin ist hier gefordert", ist Förderreuther überzeugt.
Dass viele Patienten tatsächlich gut auf eine leitliniengerechte Behandlung ansprechen, bestätigen die Follow-up-Daten der Hamburger Studie. So bewerteten die Ärzte die Wirksamkeit der am UKE eingeleiteten Behandlung in 71,2 Prozent der Fälle als sehr gut oder gut. Auch die Akuttherapie wurde in 77,3 Prozent der Fälle als sehr gut oder gut eingestuft. Bei 140 Patienten mit mindestens drei Migräneattacken pro Monat ohne prophylaktische Vorbehandlung erwies sich eine Prophylaxe in 79,3 Prozent der Fälle als sehr gut, gut oder ziemlich gut, die Verträglichkeit fiel mit 75,8 Prozent ähnlich positiv aus.
Die Ergebnisse dieser Studie zeigen, so die Ansicht der Autoren, wie wichtig es ist, die Behandlungsleitlinien besser in die tägliche klinische Praxis zu implementieren. Außerdem sollte das Wissen zur Diagnose und Behandlung von Kopfschmerzen in der Ausbildung junger Ärzte eine größere Rolle spielen, so ihr Fazit.
Referenzen
1. Diener H-C, Holle-Lee D, Nägel S, Dresler T, Gaul C, Göbel H et al (2019) Treatment of migraine attacks and prevention of migraine: guidelines by the German migraine and headache society and the German Society of Neurology. Clin Transl Neurosci 3(1, 1) 2514183X18823377.
2. Feigin VL, Abajobir AA, Abate KH, Abd-Allah F, Abdulle AM, Abera SF et al (2017) Global, regional, and national burden of neurological disorders during 1990-2015: a systematic analysis for the global burden of disease study 2015. Lancet Neurol 16(11):877-897.
3. Katsarava Z, Mania M, Lampl C, Herberhold J, Steiner TJ (2018) Poor medical care for people with migraine in Europe – evidence from the Eurolight study. J Headache Pain 19(1):10.
4. Lipton RB, Fanning KM, Serrano D, Reed ML, Cady R, Buse DC (2015) Ineffective acute treatment of episodic migraine is associated with new-onset chronic migraine. Neurology. 84(7):688-695 5. May A, Schulte LH (2016) Chronic migraine: risk factors, mechanisms and treatment. Nat Rev Neurol 12(8):455-464.
Die Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft e.V. (DMKG) ist seit 40 Jahren die interdisziplinäre wissenschaftliche Fachgesellschaft für Kopf- und Gesichtsschmerzen, in der Ärzte, Psychologen, Physiotherapeuten, Pharmakologen und Apotheker organisiert sind. Der unabhängige und gemeinnützige Verein setzt sich für die Verbesserung der Therapie der vielen Millionen Patienten mit akuten und chronischen Kopfschmerzen ein, fördert u.a. die Wissenschaft und organisiert Fortbildungen. Homepage: www.dmkg.de
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