Nach etwas mehr als 100 Reden im EU-Parlament hat Jean-Claude Juncker so seine Erfahrung mit dem leeren Plenum. Gut in Erinnerung ist sein Wutanfall am 4. Juli 2017 anlässlich der Abschlussdebatte der maltesischen Ratspräsidentschaft, als morgens um 9 Uhr zum üblichen Sitzungsbeginn kaum fünfzig Abgeordnete im Plenum saßen, um den Ausführungen des maltesischen Ministerpräsidenten Joseph Muscat zu folgen. „Dieses Parlament ist lächerlich, sehr lächerlich“ schimpfte Juncker in drei Sprachen, wozu Parlamentspräsident Tajani von der Tribüne zurückfauchte, die Kommission sei zu Gast im Parlament, das Parlament kontrolliere die Kommission, so und nicht umgekehrt, Herr Juncker möge sich bitte mal benehmen. „Ich werde nie wieder an so einer Art von Sitzung teilnehmen“ notiert das Protokoll einen vergrämten Kommissionspräsidenten. Doch am 22. Oktober war Juncker gezwungen, seine Abschiedsrede vor ebenso wenig Parlamentsmitgliedern zu halten. Nur ein Bruchteil der Mitglieder seiner eigenen Europäischen Volkspartei saß im Plenum. Und von den Anwesenden folgte die Hälfte nicht etwa der Abschiedsrede, sondern der Kultur des gesenkten Blicks, indem die Finger pausenlos auf iPads und Smartphones herumwischten. Die EU-Kommission war zwar vollständig anwesend, ebenso die finnische Ratspräsidentschaft flankiert vom (scheidenden) Präsidenten des Europäischen Rats. Aber Sozialdemokraten, Grüne, Liberale, Kommunisten, die Souveränisten und die fraktionslosen Brexiteers – sie alle fehlten. Also fehlten eigentlich alle, außer einer Handvoll von Junckers eigenen Leuten. Es herrschte Leere, die Stille war bedrückend. Auch der Kommentar eines FDP-Fans, der die leeren Plätze der AfD per Twitter verbreitete, geriet zum Schuss ins liberale Knie, denn das Plenum war auch in den Rängen der Liberalen Fraktion leer. Und so fiel auch die „stehende Ovation“ pflichtbewusst und ziemlich müde aus.
Das Bild spiegelte die institutionelle Realität wider, die von den EU-eigenen Umfragediensten immer gerne ausgeblendet wird: Anders als bei nationalen Regierungen und ihren Parlamenten ist die EU-Kommission gar keine Regierung und sie kann sich auch nicht auf eine stabile Koalition im EU-Parlament berufen. Wenn die EU-Parlamentarier überhaupt an etwas gebunden sind, dann vor allem an die eigenen Parteigremien, die die nächsten Europawahllisten aufstellen. Aber eine Bindung an die EU-Kommission? Man kann sich fragen, ob die allgemeine Aufmerksamkeit nicht grösser gewesen wäre, hätte die Stabübergabe am selben Tag wie die feierliche Entlassung stattgefunden. Das wäre immerhin ein sehr protokollarischer Moment gewesen: Abschiedsrede des scheidenden Kommissionspräsidenten und unmittelbar danach das Zustimmungsvotum des EU-Parlaments für den Nachfolger. Doch die neue Kommission von Frau von der Leyen ist nicht startklar. Schuld daran sind die beleidigten Leberwürste im EU-Parlament.
Seit dem Lissabon-Vertrag kann das Parlament die neue EU-Kommission mit einem Zustimmungsvotum absegnen. Daraus wird eine „Wahl der Kommission durch das Parlament“ gemacht. Ist leider falsch, und die Leitmedien geben diese falsche Darstellung unkorrigiert weiter, denn das Parlament gibt ja nur seine Zustimmung zu einer Entscheidung, die andere bereits gefällt haben, nämlich die im Europäischen Rat vereinten Staats- und Regierungschefs. Um dem Zustimmungsvotum (und damit der Institution selbst) mehr Gewicht zu verleihen als es eigentlich hat, führte das Parlament die Anhörungen der designierten Kommissare ein nach dem Motto: wenn wir über jemanden urteilen sollen, müssen wir selbst – und nicht nur die Staats- und Regierungschefs – dessen Qualitäten geprüft haben. So entstand eine umfängliche parlamentsinterne Prozedur, die Demokratie vortäuschen soll. Denn die Anhörungen sind politische Ränkespiele, die Fraktionen unterstützen ihre Kandidaten gleicher Couleur und versuchen, den Kandidaten der anderen Parteien das Leben schwer zu machen. Das kann allerdings auch schiefgehen, wenn man sich in der Person irrt, wie die Personalie der französischen Kandidatin Sylvie Goulard zeigte.
Sylvie Goulard wäre die perfekte Besetzung als Kommissarin gewesen. Man muss nicht alle politischen Überzeugungen teilen, deswegen gibt es ja Alternativen in der Politik. Aber sie war auf den Posten technisch bestens vorbereitet: erst Assistentin von EU-Wettbewerbskommissar Mario Monti, dann zwei Legislaturperioden lang Europa-Abgeordnete. Zu ihren Ungunsten würde sprechen, dass sie in dieser Zeit die Zulage für parlamentarische Assistenz missbrauchte und Mitarbeiter der Parteizentrale in Paris aus Haushaltsmitteln des EU-Parlaments bezahlte. Deshalb wurde ihr ethisches Fehlverhalten vorgeworfen. An diesen Maßstäben gemessen hätte aber die ehemalige Bundesverteidigungsministerin angesichts aller bekannter und noch nicht bekannter Probleme und drohender Untersuchungsausschüsse auch nicht Kommissionschefin werden dürfen. Frau Goulard gilt als eine der ersten und eifrigsten Unterstützer von Emmanuel Macron – und das wurde ihr im EU-Parlament zum Verhängnis. Denn der französische Staatspräsident Macron lehnt das Spitzenkandidatenprinzip ab. Es besagt, dass der Kommissionpräsident aus der Siegerpartei der EU-Parlamentswahlen hervorgehen muss. Darauf hatten sich seinerzeit die führenden Parteien auf eine Initiative von Martin Schulz geeinigt, der damit seine Aussichten auf den Präsidentenposten verbessern wollte. Macron lehnt das allerdings ab, schon weil er keine eigene schlagkräftige liberale Partei auf europäischer Ebene hat, die es mit der Europäischen Volkspartei oder den Sozialdemokraten aufnehmen könnte. Also blockierte Macron die Ernennung von „Spitzenkandidat“ Manfred Weber. Der sann auf Rache und schmiedete eine Allianz mit den ebenso düpierten Sozialdemokraten. Die beleidigten Leberwürste zielten auf Macron und trafen Goulard. So wurde Macrons Kandidatin mit einer haushohen Mehrheit abgelehnt – nur die eigene Parteienfamilie stimmte für Sylvie Goulard. Oft sind parteitaktische Spielchen in Brüssel und persönliche Befindlichkeiten in Strasbourg eben wichtiger für die Politikgestaltung als die so tief beschworene europäische Integration. So ungerecht kann Politik als Beruf manchmal sein. Und deswegen ist die von-der-Leyen Kommission noch immer nicht arbeitsfähig.
Jetzt schickt Macron einen neuen Kandidaten ins Rennen: Thierry Breton. Das ist eine gezielte Provokation, ein beidhändiger Effenberger aus dem Elyseepalast in Richtung Brüssel. Denn Thierry Breton ist Industriemanager in der Digitalbranche (sein Unternehmen ATOS beschäftigt weltweit 110.000 Mitarbeiter), also ausgerechnet in all den Sektoren, die er zukünftig als EU-Kommissar verwalten soll und das, obwohl seine Unternehmen regelmäßig EU-Fördergelder in Millionenhöhe erhalten. Das wirft zum einen die prinzipielle Frage auf, warum die EU überhaupt Fördergelder an börsennotierte Unternehmen zahlt und deren Taschen füllt, an deren Gewinnen jedoch nicht beteiligt wird (nach der EU-Vergaberichtlichtlinie müssen die Unternehmensgewinne so exorbitant hoch sein, dass die Rückzahlungsregel sowieso nicht greift). Aber noch fragwürdiger als diese Politik der vollen Taschen ist, ob sich das EU-Parlament durch diese Wahl Macrons vorführen lässt. Denn wenn Manfred Weber und seine Verbündeten im Parlament diesem leibhaftig gewordenen Interessenkonflikt zwischen Privatwirtschaft und EU-Verwaltung zustimmen und Thierry Breton um des lieben Friedens willen als französischen Kommissar durchwinken, dann ist das eine Bankrotterklärung und niemals wieder brauchen die selbsternannten Transparenz- und Ethikapostel in die Brüsseler Bütt steigen, um ihre hehren Ansichten zu verbreiten. Macron weiß das wohl und er treibt nun das EU-Parlament mit dieser Personalie vor sich her in der Gewissheit, dass die Mehrheit der Parlamentarier den Mut zum Nein und damit zum Konflikt kaum aufbringen wird.
Die Anhörungen sollen im November stattfinden, damit die EU-Kommission von Frau von der Leyen am 1. Dezember ihre Arbeit aufnehmen kann. Für das neue Amt wünschen wir viel Glück. Das wird sie sicher gebrauchen.
Ihr
Junius
Zur Erinnerung: Mehrfach wurden wir gebeten, die Identität des Briefeschreibers aus Brüssel preiszugeben. Es handelt sich um eine Gemeinschaftsarbeit von Informanten und Redaktion. Sie erinnert an die sogenannten Junius letters, in denen ein Pseudonym namens Junius in der Zeitschrift Public Advertiser in London vom 21. Januar 1769 bis zum 12. Mai 1772 Briefe über die Geschehnisse am Hofe und im Parlament veröffentlichte. Darin wurden die Machenschaften in der Königsfamilie, von Ministern, Richtern und Abgeordneten satirisch und mit Sachkenntnis der internen Vorgänge und Intrigen aufgespießt. Die Junius-letters gelten als erster Beleg des journalistischen Zeugnisverweigerungsrechts.
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