Ende 1510 schickt sein Orden ihn und einen Mitbruder nach Rom. Mitten im Winter macht er sich auf zu Fuß über die Alpen und zurück, und das bei Einhaltung der strengen Fastenregeln, ist auch für einen 27-Jährigen eine Strapaze mit Folgen. Er berichtet später von „heftigem Kopfweh und Ohrensausen“ auf der Rückreise. Erste Alarmzeichen. Der 2014 verstorbene frühere ärztliche Direktor der Berliner Charité und Medizinhistoriker Hans-Joachim Neumann („Luthers Leiden“, Berlin 1995) war sich sicher, dass sich hier erste Symptome der „Menièreschen Krankheit“ zeigten. Der französische Arzt Prosper Menière hatte 1861 eine Erkrankung des Innenohrs, des Gleichgewichts- und Hörorgans beschrieben, die mit Drehschwindelanfällen und Erbrechen verbunden ist. Bis dahin hatte man die Krankheit für eine Hirnerkrankung gehalten. Die Forschung hat de Menière bestätigt. Lymphflüssigkeit staut sich in Teilen des Gehör- und Gleichgewichtsorgans. Die Krankheit kann zu Tinnitus und Schwerhörigkeit führen, Angstzuständen und Depression.
1511 geht Luther als Dozent für Philosophie und Doktorand der Theologie nach Wittenberg. Er klagt über Überanstrengung und Erschöpfung. Kein Wunder: 1512 wird er zum Doktor promoviert und übernimmt die Professur für Bibelauslegung. Gleichzeitig ist er Subprior, stellvertretender Leiter des Klosters. 1513 hat er sein „Turmerlebnis“, die Erkenntnis von der Gnade Gottes und dem Glauben als Grundlage der Rechtfertigung vor Gott – Durchbruch in seinem inneren Ringen. Die Ablasspraxis ärgert ihn derart, dass er 1517 seine 95 Thesen niederschreibt. Dauerstress.
Der aufmüpfige Mönch soll sich in Augsburg vor dem Papst-Vertreter Kardinal Cajetan rechtfertigen. Spätestens da muss in dem 34-Jährigen der Gedanke an den Scheiterhaufen aufblitzen! Zu Fuß macht er sich auf, zunächst bis zum Augustiner-Kloster in Nürnberg. Er beklagt seinen schlechten Allgemeinzustand, insbesondere Magenbeschwerden und ein offenes Bein. Kurz vor Augsburg kann er nicht mehr, muss sich einen Wagen mieten. Ermattet kommt er an. Doch er widerruft nicht!
Der Widerstandsgeist beflügelt ihn sogar. Während der Disputation mit Johannes Eck in Leipzig 1519 beschreibt ihn der Humanist Petrus Mosellanus grandios: „Martinus ist nur mittelgroß, hager und von Sorgen wie von vielem Studieren so ausgemergelt, dass man in der Nähe alle Knochen am Leibe zählen kann. Aber er steht noch im frischen Mannesalter. Seine Stimme klingt hell und klar. Außerordentlich ist seine Gelehrsamkeit und Schriftkenntnis … In Gesellschaft verkehrt er heiter und witzig und ist, wie arg auch seine Widersacher ihn bedrohen mögen, stets sicher und freudig. Zum Vorwurf aber machen ihm die meisten, dass er in der Polemik wenig Maß hält und bissiger ist, als sich für einen Theologen ziemt.“
Anschließend veröffentlicht Luther vier seiner Hauptschriften, darunter „An den christlichen Adel deutscher Nation“ und „Über die Freiheit eines Christenmenschen“. Im Frühjahr 1521 wird er vor den Reichstag mit Kaiser Karl V. nach Worms einbestellt. Das Bild vom auf dem Weg umjubelten Mutmönch ist nur ein Teil der Wahrheit. Es geht ihm gesundheitlich schlecht. In Eisenach ist erst mal Schluss. Luther sieht den Tod vor Augen. Er wird zur Ader gelassen, Heilwasser soll helfen. Vier Tage später ist er in Frankfurt, sein Zustand kaum besser. Luther sieht den Satan am Werk. Geschwächt erreicht er Worms, leidet all die Zeit an Verstopfung.
Neumann zog aus den Quellen den Schluss, dass das „Roemheld-Syndrom“, das sich schon auf dem Weg nach Augsburg angedeutet hatte, jetzt hervortritt. Das sind Magen-Darm-Beschwerden mit Rückwirkung aufs Herz, benannt nach dem Internisten Ludwig von Roemheld, der dieses gastro-kardiale Krankheitsbild Anfang des 20. Jahrhunderts erstmals beschrieben hat. In der Tat spricht Luther auch schon von Herzbeschwerden. Neumann geht von Bluthochdruck (Hypertonus) aus.
In diesem Zustand übersteht Luther die Wormser Tage, in denen es für ihn um alles geht. Der Satz „Hier stehe ich, ich kann nicht anders!“ ist eine geniale Erfindung im Nachhinein. Der authentische Ausspruch „Ich bin hindurch!“ ist nicht minder vielsagend.
Der Aufenthalt auf der Wartburg bedeutet wieder eine radikale Wendung. Historisch steht er im Licht des genialen Kraftaktes, das Neue Testament sprachschöpferisch ins Deutsche übertragen zu haben. Doch Luthers Gesundheit leidet enorm, jetzt ganz anders als im Kloster. Seelisch drückt ihn die Isolation, er beklagt die „Einöde“ und „Wüstenei“. Physisch bedeutet der Aufenthalt Bewegungsmangel bei üppiger Junkerskost – Gift für seine Gesundheit. An den Freund Spalatin schreibt Luther: „Der Schlosshauptmann bewirtet mich weit über das hinaus, was mir zukommt.“
Von „Heimsuchungen“ spricht er, wenn er über Verstopfung und Hämorrhoiden mit Verletzungen am Darmausgang klagt. Ungeschminkt schreibt er an Melanchthon: „Mein Stuhl ist so hart, dass ich gezwungen werde, ihn mit großer Kraft bis zum Schweißausbruch herauszustoßen … Gestern habe ich nach vier Tagen einmal ausgeschieden. Dadurch habe ich die ganze Nacht weder geschlafen noch habe ich bis jetzt Ruhe. Dies Übel wird unerträglich, wenn es so weitergeht.“ Luther denkt ernsthaft daran, die Wartburg zu verlassen, um in Erfurt ärztliche Hilfe zu suchen. Der Wittenberger Hofkaplan schickt Abführmittel (Aloepillen). Sie schaffen nur kurzzeitig Linderung. Burghauptmann von Berlepsch will seinem Schützling zu Bewegung verhelfen: Ausritt, Spaziergang, Hasenjagd – alles nicht so recht nach Luthers Geschmack.
Luthers Rückkehr nach Wittenberg bedeutet keineswegs ein geordneteres Leben. Die reformatorische Bewegung hat sich radikalisiert; es geht drunter und drüber. Das Augustiner-Kloster ist in Selbstauflösung begriffen. Für Luther gibt es kein echtes Zuhause, nur unregelmäßiges Essen, zu wenig Schlaf, Vernachlässigung der Körperpflege. Er sagt später, er habe nur gearbeitet, sei abends todmüde ins Bett gefallen, das ihm niemand reinigte. Und es habe ihm nicht einmal etwas ausgemacht. Ab 1523 klagt Luther immer häufiger über Kopfschmerzen, Schwindel und Ohnmachtsanfälle. Das bleibt nicht ohne Auswirkung auf sein Gesamtverhalten. Zornesausbrüche und maßlose Kritik an Gegnern nehmen zu.
Die 1525 geschlossene Ehe mit der tüchtigen Katharina von Bora, die ihm den Rücken freihält, tut ihm sicherlich gut. Die Kehrseite ist, dass er wieder überversorgt wird: viel Fleisch, viel Bier, wenig Bewegung. Er nimmt zu. Fettleibigkeit, Adipositas, ist die Folge. Sein offenes Bein (Ulcus cruris) macht ihm zu schaffen. Auch kommt es vor, dass er sich für ein, zwei Tage einschließt und niemanden zu sich lässt. Durch eine Türritze sieht man ihn auf dem Boden liegen, das Gesicht nach unten, die Arme ausgestreckt. 1526 erleidet er die erste große Kolik im Bereich der ableitenden Harnwege. Höllische Schmerzen. Ein Nierenstein verschwindet mit dem Urin.
Jetzt kommt es Schlag auf Schlag: Ohnmacht, Angina-pectoris, Menièresche Anfälle mit Drehschwindel, Erbrechen, Schweißausbrüche, Ohrensausen. Dazu Herzattacken, Atemnot, Verstopfung und Hämorrhoiden „fast von der Größe einer Wallnuss“ und eine „kleine juckende Erhabenheit von der Größe eines kleinen Hanfkorns“. 1529 ereilt ihn ein fieberhafter, fast tödlicher grippaler Infekt. Er kann kaum sprechen.
1529 findet das Marburger Religionsgespräch mit dem Schweizer Reformator Zwingli statt. Luther will nicht hin, doch sein Kurfürst will es. Der kranke Luther wirkt entsprechend auf die Schweizer, die er wiederum nicht mag, da er in ihnen auch Konkurrenz sieht. So verhält er sich fast wie ein Ideologe, der gegen Abweichler schärfer polemisiert als gegen den gemeinsamen Hauptfeind. Luther, jetzt 46, wird immer unleidlicher. Seine eigene Gemeinde in Wittenberg kanzelt er ab: Lieber wolle er tollen Hunden predigen. Doch er gönnt sich keine Ruhe. Zum Augsburger Reichstag 1530 kann er nicht, da er unter Kirchenbann und Acht steht. Er reist auf die Veste Coburg, Gebiet seines Kurfürsten. Das Ohrensausen ist jetzt beidseitig, nicht nur links. Das Gekrächze der Dohlen und Raben geht ihm genauso auf die Nerven wie das Stimmengewirr auf dem Burggelände. Und er klagt über sein Bein. Bald schreibt er an seinen Mitstreiter Amsdorf: „Ich nehme sehr an Kräften ab, besonders im Haupt. Das hindert mich im Schreiben, Lesen und vielen Sprechen, und lebe ich, wie ein Kranker.“
1533 erleidet er seinen ersten Gichtanfall, befördert durch die fettreiche Kost. Besonders betroffen ist der linke Fuß. Die Störung in den Nieren führt zur Bildung von Harnsäurekristallen, zu Nierensteinen (Nephrolithiasis) und Steinen in der Blase (Urolithiasis). Trotzdem schreibt und engagiert sich Luther, soviel er kann. Im Januar 1537 begibt er sich zum Bündnisgespräch der Protestanten nach Schmalkalden. Doch vor Ort ist an eine Teilnahme nicht zu denken. Wegen Nierenkoliken, begleitet von Brechreiz, muss er seine feuchte Herberge verlassen. Tagelang kann er kein Wasser lassen. Das heißt Lebensgefahr. Luther nimmt auch an keinem der späteren Religions- und Bündnisgespräche mehr teil. Er ist längst ein Wrack. Der Erfurter Arzt Professor Georg Sturtz leitet die Rückreise nach Wittenberg ein. Luther ordnet an, dass seine Katharina ihm entgegenkomme, um nicht zu sterben, ohne sie gesehen zu haben. Bei der holprigen Kutschfahrt löst sich gottlob der Stein. Es entfließen Unmengen an Urin. Noch auf der Weiterreise stellt sich eine neue Harnverhaltung mit Koliken, Erbrechen und Durchfall ein. Luther setzt sein erstes Testament auf und bittet den Pfarrer von Gotha um eine dortige Grabstätte. Doch es lösen sich sechs Steine, einer „fast bohnengroß“. Und so geht das weiter mit dem Mittfünfziger. 1538 erkrankt er an Ruhr, hat Fieber. Seine Gelenkschmerzen sind so stark, dass er sich auf dem Boden wälzt. Verbitterung und Depression wachsen. Geht es ihm mal besser, lebt und dreht er sofort auf. 1540 schreibt er aus Eisenach: „Meine liebe Jungfer und Frau Käthe! Euer Gnaden sollen wissen, dass wir hier (gottlob) frisch und gesund sind. Fressen wie die Böhmen und (doch nicht sehr), saufen wie die Deutschen (doch nicht viel), sind aber fröhlich.“
Das Glück weilt nur kurz. Beschwerden im Hals- und Nasenbereich. Neumann vermutete einen Abszess, der sich spontan entleerte, aber nicht richtig abheilte. Dann Mittelohrentzündungen beidseitig, Eiter tritt aus. Man muss schreien, damit Luther versteht. Im Januar 1542 verfasst er sein zweites Testament. Der Bluthochdruck verstärkt die Kopfschmerzen. Luther kann kaum noch lesen und schreiben. Auf einem Wägelchen muss er zur Kirche gezogen werden. Er bäumt sich auf. Seine Reizbarkeit und Zornesausbrüche sind gefürchtet. 1543 schreibt er: „Ich habe genug. Ich bin erschöpft.“ Keine Arznei hilft. Sein Freund und Arzt Matthäus Ratzeberger lässt eine Fontanelle, eine künstliche Öffnung setzen, damit „böse Körpersäfte“ abfließen können. Mit einem Ätzstift aus ungelöschtem Kalk und Pottasche hält Luther die Wunde offen.
Je schwächer Luther körperlich wird, desto wüster werden seine Worte. 1543 verfasst er „Von den Juden und ihren Lügen“. Nichts ist mehr da von dem verbindlichen Ton in „Dass Jesus ein geborener Jude sei“ von 1523. Kaum zu fassen, dass beide Schriften von ein- und demselben Autor stammen … 1545 ist der Papst noch einmal dran. Die Zunge solle man ihm ausreißen, ihn am Galgen annageln. Andererseits bezeichnet Luther sich gegenüber Melanchthon als „alt, abgelebt, träge, müde, kalt und nun gar einäugig“. Einäugig? Hatte er etwa den Grauen Star? 1545 ist er in Zeitz an der rechtswidrigen Einsetzung des Nikolaus von Amsdorf als Bischof auf Druck des Kurfürsten beteiligt. Anschließend überwältigen ihn Depressionen. Er teilt seiner Käthe mit, er würde am liebsten nicht nach Wittenberg zurückkehren. Sie solle alles verkaufen, das geschenkte Haus würde er dem Kurfürsten zurückgeben. Die Studenten seien verloddert. „Nur weg aus diesem Sodom!“ Abordnungen von Kurfürst, Magistrat und Universität reisen an, ihn umzustimmen.
Dann ein letztes Aufflackern. Die Mansfelder Grafen bitten ihn, in einem Streit zu vermitteln. Luther fühlt sich gefragt und verpflichtet. Im Winter Anfang Januar 1546 bricht er in Begleitung seiner Söhne und von Freunden auf. Kurz vor Eisleben steigt er vom Wagen und geht zu Fuß. Er kommt ins Schwitzen, verspürt gleichzeitig ein Schweregefühl im linken Arm, „eine Compression des Herzens und gleichsam Erstickungsnot“ – klassische Anzeichen für einen drohenden Herzinfarkt. Die Einigung der Grafen gelingt. An Käthe schreibt Luther verharmlosend, es gehe ihm recht gut. Noch einmal predigt er unter größten Mühen; es fallen schlimme antijüdische Sätze. Zum Freund Aurifaber raunt er: „Wenn ich wieder heim gen Wittenberg komm, so will ich mich alsdann in Sarg legen und den Maden einen feisten Doctor zu essen geben.“ Am 17. Februar fühlt sich Luther so schwach, dass er sein Zimmer nur kurz zum Abendessen verlässt. „Mir wird weh und bange wie nie zuvor um die Brust.“ Luther wird, wie damals üblich, mit warmen Tüchern abgerieben. Gegen 21 Uhr schläft er ein, wacht einmal kurz auf, schläft weiter bis ein Uhr. Abermals Herzbeklemmungen, Frösteln und Schwitzen. Luther weiß: „Ja es ist ein kalt Totenschweiss … Mir ist sehr weh und angst, ich fahre dahin; ich werde nun wohl in Eisleben bleiben.“ Um drei Uhr morgens am 18. Februar 1546 antwortet Luther auf Ansprache nicht mehr. Das Leiden hat ein Ende. Er ist 62 Jahre alt.
Dr. Franz Kadell ist Historiker. Er war von 2001 bis 2010 Chefredakteur der Volksstimme Magdeburg und von 2011 bis 2013 Regierungssprecher des Landes Sachsen-Anhalt.
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