Mehr Mathematik in der Krebsforschung

Es gibt Projekte wie „Mathematics in Oncology“, die haben das Zeug dazu, unsere Welt ein Stückchen besser zu machen. Wenn die Förderung der Klaus Tschira Stiftung im Oktober 2024 ausläuft, dann hat die interdisziplinäre Arbeit zwischen Mathematik, Krebsmedizin und Tumorbiologie es vielleicht geschafft, fähige Köpfe aus ganz Europa zu einer „Community“ zusammenzubringen, die neue Wege in Vorbeugung, Diagnose und Behandlung von Krebs aufzeigt. Vehikel der neuen Erkenntnisse sind riesige Datenmengen über das Lynch-Syndrom, die häufigste erbliche Krebserkrankung, weil sie Prinzipien der Tumorentstehung exemplarisch widerspiegeln.

Aufgrund der Fortschritte durch die Genomsequenzierung und dank der Forschung über die molekularen und immunologischen Grundlagen von Krebs stehen zwar immer mehr Daten zur Verfügung, die Interpretation ist allerdings herausfordernd. Hier kann im Projekt die Mathematik die Onkologie voranbringen, und umgekehrt kann die Medizin wichtige Impulse für die Entwicklung neuer Modelle und Algorithmen liefern.

Wir haben mit Vincent Heuveline sowie Saskia Haupt über das Projekt gesprochen. Heuveline ist der geschäftsführende Direktor des Rechenzentrums und Chief Information Officer (CIO) der Universität Heidelberg. Als Professor leitet er das Engineering Mathematics and Computing Lab (EMCL) am Interdisziplinären Zentrum für Wissenschaftliches Rechnen (IWR). Darüber hinaus leitet er die Arbeitsgruppe „Data Mining and Uncertainty Quantification“ am Heidelberger Institut für Theoretische Studien (HITS). Saskia Haupt ist Doktorandin der Mathematik mit interdisziplinärer Ausrichtung für die Medizin in der Arbeitsgruppe von Vincent Heuveline an der Universität Heidelberg und Gastwissenschaftlerin am HITS.

Wie erklären Sie einem Menschen, der weder etwas vom Lynch-Syndrom weiß noch von der Mathematik großer Datenmengen, worum es in Ihrem Projekt geht?

Saskia Haupt: Die Mathematik soll im Projekt genutzt werden, um die Entstehung von Krebs besser verstehen und behandeln zu können – am Beispiel des Lynch-Syndroms.

Vincent Heuveline: Ziel ist es, mit Hilfe der Mathematik personalisierte Behandlungen zu entwickeln. Das heißt, man erfasst die Daten der jeweiligen Person und entwickelt daraus ein individuelles Muster. Es geht nicht nur um die Quantität, sondern vor allem um die Qualität und darum, dem Krebs eines Tages vielleicht sogar vorbeugen zu können.

Wie kam es zur Idee?

Vincent Heuveline: Es gibt massive Herausforderungen im Bereich der Krebsforschung. Und die Mathematik bietet eine „Sprache“ an, in der viele Vorgänge in der Krebsforschung beschrieben werden und die Prozesse verstanden werden können. Beispielsweise um zu erklären, warum eine Person erkrankt und die andere nicht. Sobald man in der Lage ist, solche Vorgänge abzubilden, hat man natürlich das Bedürfnis, dazu beizutragen, dass möglichst viele Personen gesund bleiben können. Onkologie und Mathematik bilden da eine Kombination, die uns definitiv weiterbringt – zum Wohl der Menschen.

Saskia Haupt: Ich kam dazu, weil ich gerne promovieren wollte und schon während meines Studiums den Bezug zur Anwendung in der Medizin gesucht hatte. Ich wollte immer in die Krebsforschung gehen, da war diese Promotion das perfekte Angebot.

Warum ausgerechnet das Lynch-Syndrom und warum ausgerechnet Heidelberg?

Saskia Haupt: Die Patienten mit Lynch-Syndrom haben ein großes Krebsrisiko und leiden in der Regel sehr darunter. Wenn wir das ein wenig verringern können, haben wir schon etwas Wichtiges erreicht.

Vincent Heuveline: Wir haben das enorme Glück, in Heidelberg auf eine große interdisziplinäre Expertise zu treffen. Allerdings ist es nicht selbstverständlich, dass zwei Kulturen wie Krebsforschung und Mathematik zusammenfinden. Als wir anfingen, habe ich gesagt, es kann erst einmal holprig werden und dauern.

Wo ticken denn Menschen aus Medizin und Mathematik anders?

Vincent Heuveline: Erst einmal die Sprache und die Begriffe. Aber wir lernen schnell voneinander und verstehen, wie es ist, in der Haut des Anderen zu stecken. In der Mathematik haben wir nicht den Druck, den Medizinerinnen und Mediziner spüren. Wir können uns auch mal zurückziehen und uns einfach Gedanken machen.

Saskia Haupt: Ich habe im Projekt versucht, eine gemeinsame Sprache zu entwickeln. In der ersten Sitzung haben die Mediziner Matthias Kloor und Magnus von Knebel Doeberitz erzählt, sie hätten ein Modell. Und ich war sofort begeistert, wie weit der Prozess schon ist, und fragte nach der Gleichung. Bis sich dann herausstellte, dass ihr „Modell“ eine in Petrischalen erzeugte Zellkultur war. Das waren so die Missverständnisse des Anfangs (lacht).

Was qualifiziert die Klaus Tschira Stiftung dazu, solch ein Projekt zu ermöglichen?

Vincent Heuveline: Es ist genau diese Brücke von Mathematik, Informatik und Medizin, die mich Klaus Tschira persönlich aufgefordert hat, zu stärken. In dieser Interdisziplinarität steckt ein unglaubliches Potenzial, das wir bisher noch kaum nutzen. Für uns bedeutet das aber auch, dass wir Themen adressieren, die übliche Förderer nur bedingt oder mit sehr engen Vorgaben angehen würden. Wir erhalten von der Klaus Tschira Stiftung die Freiheit und das Vertrauen, das wir brauchen. Das ist sonst nicht immer der Fall. Oft muss man sich rechtfertigen. Das wiederum erfordert aber Zeit und Energie, die für die Forschung fehlt. Wir dagegen können unsere ganze Energie auf die Forschungsaktivitäten richten. Das ist alles andere als selbstverständlich.

Wer ist denn mit im Boot?

Saskia Haupt: Das sind neben uns Magnus von Knebel Doeberitz als ärztlicher Direktor der Abteilung für Angewandte Tumorbiologie am Institut für Pathologie des Universitätsklinikums Heidelberg und Matthias Kloor als stellvertretender Leiter der Abteilung für Angewandte Tumorbiologie und Experte für Tumorimmunologie beim Lynch-Syndrom. Dazu kommt noch eine ganze Gruppe von Wissenschaftlerinnen, Wissenschaftlern, Doktorandinnen und Doktoranden. Darüber hinaus gibt es um dieses Kernteam noch sehr viel Weitere, so dass sich eine richtige „Community“ gebildet hat.

Vincent Heuveline: Aus dem Projekt sind jetzt schon weitere Aktivitäten entstanden. Da gibt es schon jetzt eine große, internationale Strahlkraft.

Das Projekt läuft bis zum 31. Oktober 2024. Wenn sich das so prächtig weiterentwickelt, was haben wir denn dann im besten Fall?

Vincent Heuveline: Eine echte „Community“ und eine Marke – „Mathematics in Oncology“ –, die in ganz Europa etabliert sein wird. Wenn das entstanden ist, werden auch die klassischen Fördereinrichtungen einsteigen und das Ganze weiterentwickeln. Das große Ziel ist, dass das Wissen wirklich in neue Ansätze zur Behandlung und Prävention von Tumoren mündet. Dafür braucht es einen langen Atem, das wissen wir. Fest steht heute schon, dass beide Seiten viel gelernt haben.

Saskia Haupt: Durch diese interdisziplinäre Zusammenarbeit entstehen ganz neue Ideen, neue Blickwinkel und neue Denkweisen. So öffnen sich viele neue Türen.

Man kann den Eindruck gewinnen, dass die großen Erkenntnissprünge ohnehin nur noch interdisziplinär passieren. Stimmt das so?

Vincent Heuveline: Ja, unbedingt. Das Silodenken in Fächern bringt uns nicht weiter. Sehr viel Erkenntnis entsteht an Schnittstellen. Die Bündelung von Wissen verschiedener Disziplinen ermöglicht die Verwendung von Werkzeugen, die im jeweils anderen Bereich bislang gar nicht bekannt waren. Die Lehre ist uns in diesem Zusammenhang auch sehr wichtig. Wir wollen auch jüngere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für diese Sichtweise gewinnen. Wir bereiten Vorlesungen und Seminare in „Mathematischer Onkologie“ vor und wollen sie dauerhaft implementieren, damit es immer mehr Menschen gibt, die sowohl mathematisch als auch medizinisch denken können.

Über Klaus Tschira Stiftung gGmbH

Die Klaus Tschira Stiftung (KTS) fördert Naturwissenschaften, Mathematik und Informatik und möchte zur Wertschätzung dieser Fächer beitragen. Sie wurde 1995 von dem Physiker und SAP-Mitgründer Klaus Tschira (1940–2015) mit privaten Mitteln ins Leben gerufen. Ihre drei Förderschwerpunkte sind: Bildung, Forschung und Wissenschaftskommunikation. Das bundesweite Engagement beginnt im Kindergarten und setzt sich in Schulen, Hochschulen und Forschungseinrichtungen fort. Die Stiftung setzt sich für den Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft ein. Weitere Informationen unter: www.klaus-tschira-stiftung.de

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