Kinderärzte warnen vor Kapazitätsüberlastung und Aufnahmestopp an Kinderkliniken

Die drei Kinderkliniken sowie das Praxisnetz der Kinder- und Jugendärzte Münster e.V. in Münster sind heute in einer gemeinsamen Pressekonferenz an die Öffentlichkeit gegangen, um auf ihre schwierige Situation aufmerksam zu machen. „Seit Jahren warnen wir Kinder- und Jugendmediziner vor einer Überlastung sowohl der niedergelassenen Kinderärztinnen und Kinderärzte als auch der Kinderkliniken“, so Prof. Heymut Omran, Direktor der Klinik für Kinder- Und Jugendmedizin am UKM (Universitätsklinikum Münster). „Wir haben aktuell ein massives Problem mit dem raschen Anstieg von Atemwegserkrankungen. Es erkranken gerade sehr viele Kinder und Jugendliche gleichzeitig. Viele können ambulant von den Niedergelassenen behandelt werden, die aktuell eine große Kraftanstrengung unternehmen, die Kinder vor stationären Aufenthalten zu bewahren. Jedoch kann –  insbesondere bei vorerkrankten Kinder – eine Atemwegsinfektion so schwer verlaufen, dass die Kinder in eine Klinik eingewiesen werden müssen. Wir stehen aber vor der Situation, dass es bundesweit keine Betten gibt. Wir waren am UKM bereits gezwungen, Kinder aus Münster bis nach ins Ruhrgebiet hinein zu verlegen. Das ist nicht nur für die Eltern unzumutbar, auch der Transport kann je nach Zustand des Kindes bedrohlich sein.“, sagt Omran.

Sein Kollege aus dem Clemenshospital, Dr. Georg Hülskamp, einer der beiden Chefärzte der Kinderklinik dort, ergänzt: „Die aktuelle Situation kommt mit jahrelanger Ansage, niemand kann sagen, man habe es nicht gewusst. Es klafft eine große Lücke zwischen der berechtigten Erwartungshaltung der Patienten und ihrer Eltern und dem was wir derzeit in den Praxen und Krankenhäusern leisten können. Wie in der Corona-Pandemie leiden darunter aktuell nicht nur die mit RSV infizierten Kinder, sondern auch die Versorgung anderer Kinder mit bedrohlichen Erkrankungen. Viele warten schon lange auf einen geplanten stationären Termin, der immer wieder verschoben werden muss.“

Der Chefarzt der Allgemeinen Kinder- und Jugendmedizin am St. Franziskus-Hospital Münster, Priv.-Doz. Michael Böswald, verknüpft die ohnehin angespannte Lage dann auch mit einer dringende Impfempfehlung: „Schon jetzt sehen wir so früh in der Saison erste Fälle von Influenza. Damit der Druck auf die Krankenhäuser nicht noch durch eine Grippewelle mit unbekanntem Ausmaß zunimmt, sollten Eltern ihre Kinder gegen Grippe impfen lassen. Wir Kinder- und Jugendärzte sind untereinander in Münster und in der Region gut vernetzt und versuchen, für die Patienten und Eltern alles möglich zu machen, damit eine sichere Versorgung stattfinden kann. Aber die Grenze der freien Behandlungskapazität ist einfach erreicht.“

Nicht nur die Kinderkliniken, auch die niedergelassenen Kinder- und Jugendärzte an der Basis stehen derzeit vor einer Flut von Infektionsfällen, die sie neben dem täglichen Geschäft der ebenfalls notwendigen und vorgeschriebenen Vorsorge-Untersuchungen in ihren Praxen täglich kaum noch bewältigen können. Dr. Nike Strobelt, Sprecherin des Kinder- und Jugendärztenetzes Münster. „Durch die Pandemie wurden die Kinder nicht mehr mit den ‚normalen‘ Krankheitserregern konfrontiert, teilweise fehlt ganzen Jahrgängen ein Immungedächtnis. Außerdem hatten sehr viele Kinder und Jugendliche bereits Corona, was das Immunsystem vermutlich selbst anfälliger macht. Das heißt sämtliche Krankheitserreger treffen gleichzeitig auf besonders viele anfälligere Kinder und Jugendliche. Das macht die Praxen voll und wir verschieben sogar U-Untersuchungen oder lassen sie teils ausfallen.“ Gleichzeitig sei der ambulante Sektor seit Jahren fehlfinanziert und das verbliebene Personal gerate zunehmend an seine Belastungsgrenzen. Für Ärztinnen und Ärzte auf der einen und für die Gesellschaft auf der anderen Seite seien diese Zustände nicht länger hinnehmbar. „Dass in einem so verhältnismäßig reichen Land wie Deutschland die Gesundheitsfürsorge für die Jüngsten immer zurückgestellt wurde, bringt uns jetzt an den Rand eines relevanten Versorgungsengpasses. Wir fordern ein Umdenken bei den Verantwortlichen der Gesundheitspolitik“, schließt Strobelt.“

In einem Punkt waren sich die Kinder- und Jugendärzt*innen einig, die Abschaffung der Ausbildung für die Kinderkrankenpflege war falsch und hat den Pflegemangel in unserem Fach eklatant befördert. Das habe dem Bettenabbau in den Kliniken Vorschub geleistet, denn gleichzeitig müssten die Kliniken mit immer weniger Pflegepersonal die Pflegepersonaluntergrenzen einhalten“, moniert Omran. „Das UKM plant deshalb ab August 2023 die Wiedereinrichtung des Ausbildungsgangs einer spezialisierten Kinderkrankenpflege. Das ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung“, so Omran.

Wie der Richtungswechsel in der medizinischen Versorgung gelingen könnte, darüber waren sich die Kinder- und Jugendmediziner heute einig: Es brauche einerseits schnell verfügbares Geld. Die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin geht von einem Aufschlag von zwanzig Prozent auf die aktuellen stationären Kosten in Kinderchirurgie und Kinder- und Jugendmedizin aus. Andererseits müssten auch die Strukturvorgaben klarer definiert sein, um die Vorhaltung von für Kinder und Jugendliche spezialisiertem Personal zu gewährleisten, hieß es.

Kinder- und Jugendmedizin bedarf insgesamt einer erheblich besseren Finanzierung der Vorhaltekosten", so Jörg Dötsch, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin. "Durch den jahrelangen betriebswirtschaftlichen Druck, der auf den Kinder- und Jugendkliniken lastete, sind die vorhandenen Teams in den Jahren der Pandemie weit über ihre Leistungsfähigkeit gegangen. In der Folge haben insbesondere Pflegekräfte den klinischen Betrieb verlassen", bemerkt Dötsch, "die Fachgesellschaft setze sich deswegen dafür ein, dass die Arbeitsbedingungen für die Gesundheits- und Kinderkrankenpflege schnellstmöglich verbessert würden. "Zudem ist es notwendig, klarere und attraktivere Ausbildungsbedingungen für die Kinderkrankenpflege zu schaffen", so Dötsch.  Die Konsequenz bestehe in fehlenden Betten. Dies führe für die Familien zu einer großen Belastung, da sie oft lange Wartezeiten in den Notaufnahmen, Verlegungen in andere Kliniken oder kurzfristige Absagen geplanter Termine hinnehmen müssten. Dötschs Fazit: „Für die Kinder und Jugendlichen und ihre Familien ist diese Situation extrem belastend. Gleichzeitig können wir versichern, dass wir alles in unseren Kräften Stehende tun werden, um kein Kind zurückzulassen.“

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