„Ein plötzliches kardiales Ereignis wie ein Herzinfarkt oder ein überlebter Herzstillstand ist nicht nur eine leidvolle Erfahrung für die Patientinnen und Patienten selbst, sondern in nicht geringerem Maße auch für ihr engeres persönliches Umfeld“, berichtet Prof. Dr. Christoph Herrmann-Lingen vom Wissenschaftlichen Beirat der Deutschen Herzstiftung und Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsmedizin Göttingen sowie Mitglied im Vorstand des Herzzentrums Göttingen. „Häufig bindet die erkrankte Person als Epizentrum des erschütternden Ereignisses so viel Aufmerksamkeit, Fürsorge und Aktivität, dass für einen angemessenen Umgang mit den Schwierigkeiten der Angehörigen wenig Raum bleibt. Zu Versorgungsangeboten für Betroffene bedarf es mehr Aufklärung“, betont Prof. Herrmann-Lingen in der aktuellen Ausgabe der Herzstiftungs-Zeitschrift HERZ heute 4/2024, die sich mit dem Titel „Krank ist man nie allein“ den Angehörigen von Herzpatienten widmet. Ein Probeexemplar kann kostenfrei bei der Herzstiftung unter Tel. 069 955128-400 oder unter www.herzstiftung.de/bestellung angefordert werden.
Ängste, Depressionen: Auch Angehörige können therapiebedürftig werden
Die Auswirkungen einer Herzerkrankung können individuell verschieden sein. Sind die Belastungen tiefgreifend (Angst um Leib und Leben des Familienmitglieds) können sie eine Therapie auch des nicht herzerkrankten Angehörigen erforderlich machen. Die Angehörigen haben angesichts der Krisensituation, auf die sie selten vorbereitet sind, häufig den Eindruck, um jeden Preis funktionieren zu müssen und sich keine „Schwäche“ leisten zu können. „Angehörige von Herzpatienten können Zeichen von psychischem Stress wie Ängste, Depression, unklare körperliche Beschwerden oder posttraumatische Stresssymptome entwickeln, die in ihrer Intensität und in ihren Auswirkungen im Alltag denjenigen der direkt medizinisch Betroffenen in nichts nachstehen“, erklärt der Psychotherapeut Dr. Jonas Nagel, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsmedizin Göttingen.
Schutzfaktor Partnerschaft und Familie: Gut für Lebensqualität und Krankheitsverlauf
Prof. Herrmann-Lingen und Dr. Nagel sehen die Krisensituation für die Familie als Herausforderung und Chance zugleich. „Eine funktionierende Partnerschaft oder Familie ist grundsätzlich ein protektiver Faktor in Bezug auf Lebensqualität und Sterblichkeit bei Herzpatienten“, bestätigen die Göttinger Experten übereinstimmend. In einer Krisensituation erfahre die Familie Aufwertung und Beanspruchung zugleich: Aufwertung, weil die Familie angesichts der Erkrankung ins Zentrum des Lebens der Betroffenen rücke, und Beanspruchung, weil sie plötzlich zusätzliche Funktionen erfüllen müsse, die zuvor außerhalb der Familie gelegen hätten. Umso mehr ergeben sich aus diesem Spannungsfeld „neben unmittelbaren Belastungen auch Entwicklungschancen für alle Familienmitglieder“, so die Experten in HERZ heute. Belastende Faktoren für betroffene Familien sind insbesondere:
- Veränderte Rollenbilder: Rollenbilder wie das des materiellen Versorgers durch Vater oder Mutter müssen anders verteilt werden und geraten ins Wanken – möglicherweise übernehmen ältere Kinder Aufgaben des betroffenen Elternteils („Parentifizierung“).
- Schonungs- und Vermeidungsverhalten: Verunsicherung bezüglich der Belastungsgrenzen des/der Herzerkrankten und daraus folgendes Schonungsverhalten führen bei den Angehörigen, aber zuweilen paradoxerweise auch bei den Herzerkrankten selbst, zu Zusatzbelastungen. Diese können auf Dauer einen unbefangenen offenen Umgang miteinander hemmen und begünstigen damit eine emotionale Distanzierung.
- Gehemmte Sexualität: Ein Lebensbereich, in dem sich diese Hemmungen besonders konzentriert auswirken, ist die Sexualität, etwa aufgrund der Angst, sexuelle Erregung könnte einen erneuten Herzinfarkt auslösen.
Ein Schlüssel liegt dem Psychotherapeuten Dr. Nagel zufolge darin, trotz aller Verunsicherung und unerwünschter Gefühle einen gemeinschaftlichen Umgang mit belastenden Themen zu finden, anstatt sich aus Angst, Unsicherheit und übermäßiger Rücksichtnahme abzukapseln. Einen verbindlichen Rahmen hierzu können Familienkonferenzen bieten. „Wichtig ist eine offene, vorurteilsfreie Hinwendung zu den Gedanken und Gefühlen, die nun einmal dort sind, ob erwünscht oder nicht.“
Was können Betroffene selbst tun, um ihre Familie zu schützen?
Was Angehörige und ihre herzkranken Partner/Partnerinnen selbst tun können, zeigt die folgende Auswahl von weiteren Experten-Tipps:
- Gehen Sie in den Kontakt: Trotz aller Verunsicherung und unerwünschter Gefühle: Kapseln Sie sich nicht aus Angst, Unsicherheit oder übermäßiger Rücksichtnahme ab.
- Suchen Sie das vertrauensvolle Gespräch mit der Ärztin oder dem Arzt, um die Notwendigkeit und gegebenenfalls die Art weitergehender Behandlungsmöglichkeiten niedrigschwellig zu besprechen.
- Bei psychischen Störungen Hausarzt aufsuchen: Sollte sich bei einem Familienmitglied eine psychische Störung entwickeln, etwa eine Depression, ist eine professionelle Behandlung notwendig. Wenn Sie unsicher sind, ob Belastungsanzeichen einer Behandlung bedürfen, empfiehlt sich ein gemeinsames Gespräch mit dem Hausarzt. Dort können die Notwendigkeit und Art der weitergehenden Therapie niedrigschwellig besprochen werden.
- Nutzen Sie die Kardiologische Reha: Auch während der kardiologischen Rehabilitationsbehandlung (z.B. nach einem Infarkt oder einer Herz-Op) ist der Einbezug von Familienangehörigen ausdrücklich vorgesehen. Zielsetzung ist laut Leitlinie unter anderem die „Reduktion von Distress bei Familienangehörigen, Diskussion von Partnerschaftsproblemen (inklusive sexueller Probleme), [sowie] Förderung der Anpassung an die Herz-Kreislauferkrankung bei Patient und Partner“.
„Es ist wichtig, dass Betroffene bei Bedarf von diesen Möglichkeiten wissen und die entsprechenden Leistungen auf eigene Initiative anfragen“, betont der Psychokardiologe und Herzstiftungs-Experte Prof. Herrmann-Lingen.
In der ambulanten und vollstationären kardiologischen Rehabilitation befinden sich nach Schätzungen der Deutschen Gesellschaft für Prävention und Rehabilitation von Herz-Kreislauferkrankungen (DGPR) über 180.000 Herzpatienten (davon sind 93.000 Kard-Reha-Patienten erfasst/Deutscher Herzbericht – Update 2024). Nur rund die Hälfte aller Herzpatienten nimmt die kardiologische Rehabilitation, die ihnen zusteht, in Anspruch, weil sie oft auch nicht auf die Möglichkeit hingewiesen werden. Infos für Patienten zur Kardiologischen Reha: https://herzstiftung.de/reha-broschuere
(wi)
Literatur: Nagel, Jonas und Herrmann-Lingen, Christoph, Krank ist man nie allein, HERZ heute 2024; 4, 10-17
Herzstiftungs-Zeitschrift HERZ heute
Mehr Informationen rund um das Thema des Umgangs Angehöriger mit Herzpatienten bietet die Herzstiftung in der Ausgabe 4/2024 ihrer Zeitschrift HERZ heute mit dem Titel „Krank ist man nie allen – Vom Umgang mit Herzpatienten“. Ein Probe-Exemplar dieser Ausgabe kann kostenfrei unter Tel. 069 955128-400 oder unter https://herzstiftung.de/bestellung angefordert werden.
Herzstiftungs-Podcast der IMPULS-Reihe
Hören Sie rein in den Podcast „Den plötzlichen Herztod überlebt – wie geht es weiter?“ – Ein Gespräch mit Robin W. und seiner Frau Stephanie, die ihren Ehemann zu Hause wiederbelebte: https://herzstiftung.de/podcasts/ploetzlicher-herztod-ueberlebt
Ratgeber „Kardiologische Rehabilitation“
Über psycho-soziale Themen und Angebote für Betroffene in kardiologischer Reha informiert der Ratgeber „Kardiologische Rehabilitation“ (94 Seiten). Der Band ist ein umfassender Leitfaden, der alle Aspekte der Rehabilitation bei verschiedensten Herz-Kreislauf-Erkrankungen beleuchtet. Der Ratgeber kann kostenfrei unter Tel. 069 955128-400 oder unter https://herzstiftung.de/reha-broschuere bestellt werden.
Bildmaterial erhalten Sie gerne unter presse@herzstiftung.de oder per Tel. unter 069 955128-114
Kontakt: Deutsche Herzstiftung e.V., Pressestelle: Michael Wichert (Ltg.) / Pierre König, Tel. 069 955128-114/-140, E-Mail: presse@herzstiftung.de, www.herzstiftung.de
Die Deutsche Herzstiftung e. V. wurde 1979 gegründet und ist heute die größte gemeinnützige und unabhängige Anlaufstelle für Patienten und Interessierte im Bereich der Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Zu den Hauptaufgaben der Herzstiftung gehört es, Patienten in unabhängiger Weise über Herz-Kreislauf-Erkrankungen, deren Vorbeugung sowie über aktuelle Diagnose- und Therapiemöglichkeiten aufzuklären. Bekannt ist die Herzstiftung außerdem durch ihre bundesweiten Aufklärungskampagnen und als wichtige Förderinstitution in der Herz-Kreislauf-Forschung. Die hohe Qualität ihrer Informationsangebote beruht nicht zuletzt auf der Expertise der rund 500 Herzspezialisten im Wissenschaftlichen Beirat der Herzstiftung. Vorstandsvorsitzender ist der Kardiologe Prof. Dr. Thomas Voigtländer (Frankfurt am Main), Schirmherrin ist Barbara Genscher.
Deutsche Herzstiftung e.V.
Bockenheimer Landstr. 94-96
60323 Frankfurt am Main
Telefon: +49 (69) 955128-0
Telefax: +49 (69) 955128-313
http://www.herzstiftung.de
Leitung
Telefon: +49 (69) 955128-114
Fax: +49 (69) 955128-345
E-Mail: wichert@herzstiftung.de