Floskel-Bingo nach den Landtagswahlen: Vorhersehbarkeit und Bedeutung politischer Kommunikation

„Wir stehen vor einer großen Chance“ und „Das müssen wir den Wählern noch besser erklären“! Schon jetzt ist absehbar, welche Sätze von Politikern nach den Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen fallen werden. Warum das so ist und welche Bedeutung hinter diesen Phrasen steckt, erklärt Dr. Falk Tennert, Professor für Wirtschaftspsychologie an der SRH Fernhochschule – The Mobile University.

Wählen ist wichtig. Denn jede Stimme zählt. Und so werden (hoffentlich) die rund sieben Millionen Wahlberechtigten der drei Bundesländer in die Lokale pilgern oder per Briefwahl für ihre favorisierte Partei und Kandidatinnen und Kandidaten abstimmen. Sachsen und Thüringen machen am 1. September den Auftakt. Brandenburg folgt am 22. September 2024. Bei den letzten Landtagswahlen 2019 sorgten vor allem die Wahlergebnisse für die AFD aber auch die der etablierten Parteien für reichlich Diskussionsstoff und so können wir davon ausgehen, dass es auch nach diesen Landtagswahlen reichlich zu besprechen geben wird.

Phrasendreschmaschine setzt sich bereits während erster Hochrechnungen in Gang
Am Wahlabend selbst jedoch, kann man mit wenig aussagekräftiger Berichterstattung rechnen, verrät Prof. Dr. Falk Tennert. Der Kommunikationswissenschaftler hält an der SRH Fernhochschule – The Mobile University eine Professur in Wirtschaftspsychologie mit dem Schwerpunkt auf Medien und Kommunikation. Er lehrt unter anderen Politische Kommunikation und Politische Psychologie und kennt sich aus, mit der „Phrasendreschmaschine“, die bei Politikern und politischen Berichterstattern bereits während der ersten Hochrechnungen in Gang gesetzt wird.

Deutsch – politisch, politisch – deutsch: Das bedeuten die typischen Formulierungen
Egal ob die (voraussichtlichen) Wahlergebnisse für die einzelnen Parteien berauschend oder enttäuschend sein werden, darauf angesprochen, werden die Betroffenen aus einem Vorrat an Formulierungen zurückgreifen, die wenig Aussagekraft haben, allen voran der Satz: „Wir müssen erstmal in die Analyse gehen.“ Doch dafür gibt es Gründe, weiß Tennert:

„Politische Kommunikation ist hochgradig ritualisiert und schablonisiert. Das zeigt sich auch am Wahlabend. Wenn um 18 Uhr die Wahllokale schließen und die ersten Prognosen und Hochrechnungen eintreffen – das ist eine Phase von hoher Unsicherheit. Journalisten stellen dann schnell die Frage: Wie ist das einzuordnen? Da legen sich Politikerinnen und Politiker nicht fest. Das ist strategisch, sie bleiben auf einer allgemeinen Ebene, zeigen Freude oder Enttäuschung, wenn es gemessen an den Erwartungen deutlich nach oben oder unten ging. Das sind die üblichen Kommunikationsmuster, um auch die journalistischen Regeln zu bedienen: Es gibt eine Frage, man muss darauf reagieren. Das ist so früh am Wahlabend nicht ganz einfach. Denn dieser Abend ist auch das Ende des monatelangen Wahlkampfs. Da zeigt sich also, ob die Strategie aufgegangen ist oder nicht. Schuldzuweisungen verbieten sich, denn das wäre ein Verriss an der eigenen Strategie und vielleicht am Spitzenkandidaten oder der -kandidatin.“

Floskeln aus Zeitnot
Ein weiterer Faktor ist ein sehr greifbarer. Es ist die Zeit, die der oder dem Befragten zur Verfügung steht, um auf die Frage der Einschätzung zu antworten. „Für eine tiefe Analyse ist aber in der Wahlberichterstattung gar keine Zeit. Das geht so: Schalte in Wahlzentrale A, Interview, Schalte in Wahlzentrale B, Interview, Hochrechnung. Wir haben das in unserer Forschung gemessen, die ersten Interviews und Statements nach den Hochrechnungen sind zwischen 15 und 40 Sekunden lang. Da kann ich mich bei den Wählern und der Partei bedanken noch den Satz mit der Analyse sagen, dann ist die Zeit vorbei“, weiß Tennert.

Gefährliche Formulierung: Erklärung fürs Volk
Doch was kommt danach? Den politischen Gegner zu beschämen, gehört sich nicht und auch wenn man enttäuscht ist, vom eigenen Ergebnis, verbitten sich Schuldzuweisungen in Richtung des Wählers. Politische Akteure sagen dennoch Sätze wie „Das müssen wir den Wählerinnen und Wählern (noch) besser erklären.” Doch dieser Satz ist gefährlich“, erklärt Tennert. „Denn hierzu muss man die ideologisch-dogmatische Tiefenstruktur solcher Aussagen erfassen. Zum einen ist es direkte Kritik am Wähler, dass er das Programm offensichtlich nicht ganz verstanden hat und man es nun im erzieherischen Duktus “noch besser” erklären muss. Ein solcher Stil vermittelt schnell den Charakter von Belehrungskommunikation, der eher zu Reaktanzeffekten führt. Zum anderen zeugt die „noch besser“-Formel von der Beharrlichkeit des politischen Personals, die eigenen Positionen unkritisch beizubehalten und dadurch keine anderen politischen Lösungen zu offerieren. Kommunikationswissenschaftlich stehen hinter solchen Aussagen verschiedene Funktionen eines Sprechers: die des Verschleierns von Wahrheiten, des Ausdrucks eines Elitegefühls und die der Normierung. Diejenigen, die sich solcher Formulierungsmuster zur Erklärung von Wahrergebnissen bedienen, entledigen sich ihrer eigenen Denkleistung!“

Was Wahlen und Fußballbeispiele gemeinsam haben
In diese Choreografie hinein könnte man sich die Frage stellen: Wenn all diese Abläufe so vorhersehbar sind, warum dann eigentlich das ganze Brimborium rund um den Wahlabend? Können sich Politikerinnen und Politiker nicht einfach zurückziehen, gar nichts sagen und am Ende ihrer Sondierungsgespräche den Wählerinnen und Wählern verkünden, welche Koalitionen mit welchen besetzten Positionen sich jetzt gebildet haben? Der Kommunikationsexperte sagt nein und erklärt auch, warum diese politische Berichterstattung notwendig ist: „Eine Wahl ist ein soziales Ereignis und das will interpretiert werden. Es ist wie beim Fußball. Wenn es vier zu eins für Spanien steht, will ich nicht nur wissen, dass Spanien führt, sondern auch warum. Das numerische Ergebnis muss sozial und politisch eingeordnet werden: Was bedeuten diese Zahlen? Wer ist tatsächlich Gewinner oder Verlierer? Wenn eine Partei bei der letzten Wahl acht Prozent hatte und dieses Mal zwölf hat, kann sie sich als Gewinner sehen, obwohl sie wahrscheinlich in der Opposition landen wird. Andererseits kann eine mögliche Regierungspartei, die deutlich unter den Erwartungen bleibt als Verlierer hervorgehen. Wie das alles zu sehen und bewerten ist, muss ausgehandelt werden. Beim Fußball würde man auch fragen: War die Taktik gut? War die Besetzung gut? Hat der Trainer einen guten Job gemacht? Und in der Spitzenpolitik ist das ähnlich.”

Wir dürfen gespannt sein auf die kommenden Landtagswahlen. Und vielleicht verstehen wir sie nach diesem Text ein klein wenig besser. Die Aussagen der Politikerinnen und Politiker.

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