Pläne zur Statin-Verordnung fußen auf veralteter Evidenz
Kritisch sieht das Institut unter anderem die geplanten neuen gesetzlichen Festlegungen zur risikoadaptierten Verordnungsfähigkeit von Statinen. Im vorgesehenen neuen §34 Absatz 5 SGB V wird beschrieben, wann Versicherte einen Anspruch auf Versorgung mit welchen Statinen haben sollen. Diese Vorschläge sind nicht evidenzgesichert, das heißt nicht wissenschaftlich belegt.
So zeigt eine aktuelle systematische Übersicht und Metaanalyse der US-amerikanischen Agency for Healthcare Research und Quality (AHRQ), dass die Datenlage zur Primärprävention bei Menschen unter 50 Jahren äußerst dünn ist: Zu Menschen im Alter zwischen 40 und 50 Jahren liegt nur wenig, für noch jüngere Menschen praktisch keine relevante Evidenz zur Primärprävention mit Statinen vor (familiäre Hypercholesterinämie ausgenommen).
Nicht nachvollziehbar ist auch die Empfehlung in der Begründung für §34 Absatz 5 SGB V, dass bei der präventiven Versorgung der Risikogruppen insbesondere „hoch potente Statine wie Atorvastatin oder Rosuvastatin“ eingesetzt werden sollen. Denn die systematische Übersicht und Metaanalyse der AHRQ konstatiert, dass es keine Evidenz für eine LDL-Zielwert-Titration bei der risikoadaptierten Primärprävention mit Statinen gibt – und die AHRQ- Evidenzgrundlage ist nicht nur systematischer, sondern auch aktueller als die vom BMG angeführte ESC-Leitlinie. Die ausgesprochene Empfehlung für „hoch potente“ Statine birgt überdies das Risiko, solche nicht evidenzbasierten Strategien in der risikoadaptierten Primärprävention auch jenseits von Statinen zu verankern – mit der Folge einer drastischen Überversorgung von Gesunden mit lipidsenkenden Arzneimitteln.
Früherkennung: Evaluieren, ob die Ziele erreicht werden
Der Referentenentwurf sieht zudem vor, dass Maßnahmen zur besseren Früherkennung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, deren Nutzen nach den Grundsätzen der evidenzbasierten Medizin noch nicht belegt ist, vom BMG mittels Rechtsverordnung festgelegt werden können und zu Lasten der Krankenkassen zu erbringen sind. Es ist für das IQWiG nicht nachvollziehbar, warum gerade im Bereich der Früherkennung, der die gesamte Bevölkerung betrifft und damit einen großen Teil an gesunden oder beschwerdefreien Menschen, vom Grundsatz der Evidenzbasierung abgewichen werden soll.
Wenn neue Früherkennungsmaßnahmen eingeführt werden sollen, ist es eigentlich unverzichtbar, dass diese auf belastbarer Evidenz beruhen, die eine Abwägung von potenziellem Nutzen und potenziellem Schaden dieser Maßnahme erlaubt. Denn es ist keineswegs so, dass durch das frühe Erkennen von Risikofaktoren oder Anzeichen einer Erkrankung immer bessere Behandlungsergebnisse erzielt werden oder das Erkrankungsrisiko gesenkt wird. Gleichzeitig können durch Früherkennungsuntersuchungen Schäden entstehen, zum Beispiel in Form von Überdiagnosen, also Diagnosen einer Erkrankung, die den Betroffenen in ihrem Leben nie geschadet hätte bzw. die sie möglicherweise niemals bemerkt hätten.
Entscheidet man sich für eine Einführung von Maßnahmen, zu denen noch keine ausreichende Evidenz vorliegt, sollte unbedingt eine Begleitevaluation vorgesehen werden, um die Evidenzlücke mit den Erkenntnissen aus der Versorgung zu schließen. Auf dieser Basis lässt sich dann entscheiden, ob und wie die Maßnahmen weitergeführt werden sollten. Derartige Überlegungen fehlen im vorliegenden Referentenentwurf.
Schnelle Reaktion auf neue Evidenz wichtig
„Medizinische Maßnahmen sind nicht in Stein gemeißelt“, merkt IQWiG-Leiter Thomas Kaiser weiter an. „Werden wichtige neue Erkenntnisse gewonnen, sollte die Versorgung angepasst werden.“ Das bestehende System der Beratung im Gemeinsamen Bundesausschuss sei vom Grundsatz her gut geeignet, auf neue Evidenz zügig zu reagieren. Insbesondere aus dem Arzneimittelbereich seien solche schnellen Reaktionszeiten bekannt. „Eine Festlegung von gesundheitsbezogenen Maßnahmen in einem Gesetz erscheint dagegen viel schwergängiger, da jede Änderung eines umfassenden parlamentarischen Prozesses bedarf. Ähnliches gilt bei Festlegungen via Rechtsverordnung. Welche Aktualisierungsstruktur das BMG für die angedachten Regelungen vorsieht, ist dem Referentenentwurf nicht zu entnehmen“, so Kaiser.
Das IQWiG ist ein unabhängiges wissenschaftliches Institut, das Nutzen und Schaden medizinischer Maßnahmen für Patienten untersucht. Wir informieren laufend darüber, welche Vor- und Nachteile verschiedene Therapien und Diagnoseverfahren haben können
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