Wenn der Sessel plötzlich zum Psychoanalytiker wird

Martin Suter, der erfolgreichste Gegenwartsautor der Schweiz, schreibt zuverlässig einen Bestseller-Roman nach dem anderen. Zuletzt hat er mit »Melody« alle Verkaufsrekorde gebrochen. Auch fünf Theaterstücke gehören zu seinem Oeuvre, in denen er ebenso wie in seiner Belletristik den Geheimnissen und Abgründen hinter gutbürgerlichen Fassaden auf der Spur ist. Das Theater Heilbronn bringt »Über den Dingen«, sein erstes Theaterstück aus dem Jahr  2005, auf die Bühne des Komödienhauses. Die Premiere der Inszenierung von Kay Neumann findet am 12. Januar 2024 um 20 Uhr statt.

Suters Blick in die Abgründe der menschlichen Seele gerät darin besonders humorvoll und absurd, denn er verleiht ganz normalen Alltagsgegenständen Stimme, Charakter und eine Meinung und lässt diese aktiv in das Leben seines Protagonisten eingreifen. Wie er auf die aberwitzige Idee kam, hat er in einem Interview mit dem Deutschlandfunk anlässlich der Uraufführung dieses Stückes in Zürich verraten: »Wenn ich allein bin, spreche ich mit den Dingen. Und ich habe mich dann gefragt: Was wäre eigentlich, wenn die Dinge antworten würden.«

Zum Inhalt
Wenn Reto nach der Arbeit nach Hause kommt, wartet niemand auf ihn. Seit seiner Trennung von Susi hat er ein abendliches Ritual. Er schiebt sich eine Tiefkühlpizza in den Ofen, gießt sich ein Glas Rotwein ein und schaltet die Glotze ein. Doch heute – nur Flackern und Rauschen auf dem Bildschirm. Der Fernsehempfang funktioniert nicht. Und wenn er bei seinen Bekannten anruft, meldet sich nur der Anrufbeantworter.

In Ermangelung von Gesprächspartnern redet Reto mit den Dingen in seiner Wohnung. »Schön backen!«, sagt er zum Ofen. »Schön bügeln!«, fordert er den stummen Diener auf. Und plötzlich! Da antworten ihm die Dinge. Die Pizza ergreift als erste das Wort und quatscht ihm alles nach. Kann das mit rechten Dingen zugehen? Reto hat doch erst ein Glas Wein getrunken. Die Pizza macht ihm klar, dass er sie falsch bäckt. Und dann mischen sich auch noch das Sofakissen, der Topfhandschuh und sein Hugo-Boss-Sakko ein. Das Sakko spricht übrigens schwäbisch, weil es aus Stuttgart kommt. Offenbar ist er zu viel allein, versucht Reto sich klarzumachen. Da wird man etwas merkwürdig, oder nicht? Plötzlich gibt auch noch der Ledersessel seinen Senf dazu. Er behauptet, er sei therapeutisch gebildet, weil er jahrelang bei einem Psychiater gestanden hat und weiß, wie es geht. Er diagnostiziert ein Einsamkeitssyndrom, wie man es häufig bei frisch Getrennten erlebt. Und als die Dinge dann auch noch pikante Details aus Susis Liebesleben ausplaudern, die sich immer dann ereignet haben sollen, wenn Reto nicht zu Hause war, ist er vollkommen bedient.
Total verrückt!? Ob es sich um Wahnvorstellungen des Protagonisten oder um echte Vorkommnisse handelt, darauf kann sich jeder selbst seinen Reim machen.

Zusammenspiel von Schauspiel und Objekttheater
Wie schafft man es, die Gegenstände zu beleben und ihnen einen individuellen Charakter zu geben, beschreibt Regisseur Kay Neumann die Herausforderung. Er hat sich für eine Mischung aus Schauspiel und Objekttheater entschieden und dafür den Figurentheaterspieler Lukas Schneider mit ins Team geholt, der den Schauspielern das Objekttheaterspiel beibringt. So spielt Judith Lilly Raab neben der Ex-Freundin von Reto auch eine Pizza, ein Blumenkissen, einen Pouf und ein Krüglein. Und Tobias D. Weber verleiht neben der Figur des Dr. Gernheim auch dem Sessel, dem Knopfkissen und dem Hugo-Boss-Anzug Stimme und Charakter. Lukas Scheider selbst verkörpert den Krankenpfleger, aber auch einen Topf-Handschuh und eine neutrale Tüte. Pablo Guaneme Pinilla spielt den Protagonisten Reto.

Lukas Schneider war auch in die Gestaltung und Bau aller Objekte einbezogen, damit diese bespielbar sind und im Vorfeld der Proben häufig in den Werkstätten des Theaters zugange. »Unser Auge hat die Tendenz, in allen Dingen ein Gesicht zu sehen«, sagt er. Dies hat er sich zunutze gemacht und dementsprechend die »Dinge« bauen lassen.

Kay Neumann (Regie) wurde 1964 in Hamburg geboren. Er studierte Geschichtswissenschaft, Germanistik und Philosophie an der Universität Hamburg. Anschließend war er Regieassistent am Hamburger Theater im Zimmer und am Bremer Theater u. a. bei Hansgünther Heyme, Barbara Bilabel und Herbert König. Kay Neumann ist heute als freier Regisseur tätig und war u. a. an den Staatstheatern Braunschweig und Karlsruhe, am Theater Regensburg, am Stadttheater Ingolstadt, den Staatstheatern Saarbrücken und Nürnberg, sowie am Theater Hof und dem Theater Kanton Zürich engagiert. Mit der Regie von Martin Suters »Über den Dingen« kehrt Kay Neumann nach vielen Jahren an das Theater Heilbronn zurück.

Lukas Schneider (Figurentheaterspieler) wurde zunächst in der Schweiz zum Zimmermann ausgebildet. Danach wandte er sich dem professionellen Figurenspiel zu. An der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart studierte er von 2018 bis 2022 Figurentheater. Seinen Abschluss machte er mit dem Solostück »Scaena Corpus«, für das er 2023 mit dem Fritz Wortelmann Preis ausgezeichnet wurde. Engagements führten ihn bisher ans FITZ Zentrum für Figurentheater Stuttgart, WorkshOpera Bern, Anhaltisches Theater Dessau, Freilichtspiele Moosegg u.a.

»Über den Dingen« ist seine erste Arbeit am Theater Heilbronn.

Premiere am 12. Januar 2024, 20 Uhr, Komödienhaus des Theaters Heilbronn
Über den Dingen
von Martin Suter
Regie: Kay Neumann
Ausstattung: Monika Frenz
Figurenspiel: Lukas Schneider

Reto: Pablo Guaneme Pinilla
Susi/Pizza/Blumenkissen/Pouf/Krüglein: Judith Lilly Raab
Dr. Gernheim/Knopfkissen/Hugo Boss /Sessel: Tobias D. Weber
Krankenpfleger/Topf-Handschuh/neutrale Tüte: Lukas Schneider

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