Neuer RSF-Bericht über gefährliche Recherchen in der Amazonasregion

Ein neuer Bericht von Reporter ohne Grenzen (RSF) mit dem Titel „Verbrannte Erde – Journalismus in der Amazonasregion“ führt vor Augen, wie herausfordernd und gefährlich Recherchen in Brasiliens Amazonasregion besonders für lokale Medienschaffende sind. Das auf neun Bundesstaaten verteilte Gebiet beherbergt eine der größten Artenvielfalten der Erde, spielt eine zentrale Rolle für das Weltklima und ist gleichzeitig eine der von der globalen Klimakatastrophe am stärksten betroffenen Regionen der Welt. Umweltschutz und Menschenrechte kollidieren hier in besonderem Maße mit wirtschaftlichen Interessen. Auch deshalb erleben Reporterinnen und Reporter in der Amazonasregion regelmäßig Belästigungen, Drohungen und körperliche Gewalt. Zwischen Juni 2022 und Juni 2023 erfasste RSF 66 solcher Übergriffe. 

„Um zu verstehen, was an der Front eines der wichtigsten Konflikte unserer Zeit passiert, brauchen wir zuverlässige Berichterstattung von vor Ort. Die Verteidigung von unabhängigem und vielfältigem Lokaljournalismus im Amazonasgebiet muss ein fester Bestandteil des Kampfs gegen die Klimakatastrophe sein“, sagte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr. „Wir werden weiterhin Angriffe auf die Medien im brasilianischen Amazonasgebiet dokumentieren und anprangern, egal ob sie aus der Politik oder der Wirtschaft kommen. Politik und Wirtschaft müssen verstehen, welch globale Bedeutung diesen Lokaljournalistinnen und -journalisten zukommt. Sie liefern unverzichtbare Informationen in der Klimadiskussion, und das oft quasi ohne Ressourcen und ohne öffentliche Anerkennung.“

Angesichts der zentralen Rolle der Amazonasregion für das globale Klima bieten einige Entwicklungen vor Ort, vor allem die fortschreitende Entwaldung, großen Anlass zur Sorge. Eine unabhängige journalistische Begleitung dieser Entwicklungen ist dabei unerlässlich, kollidiert jedoch mit den wirtschaftlichen Interessen vieler Interessengruppen. Ob Landwirte, Viehzüchter, Holzfäller, Goldgräber oder Bergbauunternehmen: Diejenigen, die das Land und seine natürlichen Ressourcen monopolisieren, verstoßen oft in großem Stil gegen Menschenrechte und Umweltgesetze und versuchen jene zum Schweigen zu bringen, die diese Verstöße öffentlich machen.

66 Übergriffe auf Medienschaffende innerhalb von 13 Monaten

Eine von RSF eingerichtete Beobachtungsstelle bestehend aus Journalistinnen, Journalisten und zivilgesellschaftlichen Gruppen mit regionaler Expertise dokumentierte zwischen dem 30. Juni 2022 und dem 30. Juni 2023 in den neun Bundesstaaten des brasilianischen Amazonas 66 Fälle von Belästigung, Drohungen und körperlichen Angriffen. 57 Prozent dieser Übergriffe gingen vom privaten Sektor aus – von der Landwirtschaft über Sicherheitskräfte und Bergbau-, Lebensmittel- und Tourismusindustrie bis hin zu kriminellen Organisationen. Die meisten Übergriffe geschahen in den größten Städten der Region, Manaus und Belém.

Der Bericht zeichnet auch die schleppend verlaufenden Ermittlungen nach dem Mord an dem britischen Journalisten Dom Phillips und dem Indigenen-Experten Bruno Pereira im Javari-Tal im Bundesstaat Amazonas im Juni 2022 nach. Bereits 2018 wurden in der Amazonasregion zwei Journalisten ermordet, zudem wurden in den vergangenen zehn Jahren rund 300 Umweltaktivistinnen und -aktivisten getötet.

Diese Taten führte auf grausame Weise vor Augen, wie schwierig es ist, Medienschaffende in der Region zu schützen. „Es ist unmöglich, vom Amazonas zu berichten, ohne auf irgendeine Weise bedroht, eingeschüchtert oder verfolgt zu werden“, sagte der freie Journalist Francisco Costa im Gespräch mit RSF. Journalist Marcos Wesley Pedroso berichtete etwa von zerstochenen Reifen, einem Drohbrief und einem abgetrennten Rinderkopf. Sein unabhängiges Medium Tapajós de Fato hatte über die Ausbreitung von illegalem Bergbau und Soja-Monokulturen berichtet. Auch Informantinnen und Informanten werden immer wieder angegriffen oder sogar mit dem Tod bedroht. „Wir versuchen, nicht in Konflikt mit den Gemeinden zu geraten, in denen die Verwandten indigener Medienschaffender leben, um Vergeltungsaktionen zu vermeiden“, sagte die indigene Podcast-Produzentin Cláudia Ferraz. Sie arbeitet für das 2017 gegründete indigene Mediennetzwerk  Wayuri Network.

Die fünf Kernpunkte des Berichts:

Tabu-Themen

Von den 66 dokumentierten Verstößen gegen die Pressefreiheit stand gut die Hälfte in Zusammenhang mit Berichterstattung über politische Themen, darunter zehn mit Berichterstattung über Agrarindustrie, Bergbau und indigene Gemeinschaften. Auch wenn sie nicht das zentrale Thema der Berichterstattung ist, ist die Umweltsituation in den meisten politischen Themen im Amazonasgebiet präsent. Viele lokale Politikerinnen und Politiker halten den Schutz des Urwaldes und der Rechte indigener Gemeinschaften noch immer vor allem für Hindernisse bei der wirtschaftlichen Entwicklung der Region. Ein Drittel der Verstöße (22) ereignete sich im November 2022, unmittelbar nach den brasilianischen Präsidentschaftswahlen, darunter eine Schussattacke auf die Redaktion von Rondônia Ao Vivo und eine Brandstiftung bei Rádio Nova FM.

Selbstzensur 

Die lange Geschichte von Todesfällen bei Landkonflikten und die alltägliche Gewalt, mit der etwa Regierungsbeamtinnen und -beamte sowie Geschäftsleute kritische Stimmen zum Schweigen bringen wollen, tragen ebenso zur Einschüchterung unabhängiger Journalistinnen, Journalisten und Medien bei wie juristische Schikanen. Zahlreiche Medienschaffende, die von RSF interviewt wurden, berichteten, dass ihnen regelmäßig wegen vermeintlicher Verleumdungsdelikte Klagen angedroht werden, die zu hohen Gerichtskosten und eventuellen Geldstrafen führen könnten. All dies fördert die Selbstzensur vor allem kleiner Medien. Sich an die Polizei zu wenden ist oft keine Option, allein schon weil die Polizei in vielen abgelegenen Regionen gar nicht präsent ist.

Politische und wirtschaftliche Einmischung

Ein wirtschaftlich schwieriges Umfeld schränkt die Pressefreiheit sowie das Recht der Bevölkerung auf Nachrichten und Informationen in der Amazonasregion zusätzlich ein. Die lokale Medienkonzentration ist noch höher als im brasilianischen Durchschnitt. So gehören rund 20 Prozent der Fernsehsender Politikerinnen, Politikern oder ihren Verwandten, an manchen Orten bis zu 80 Prozent. Politische Gruppen und Oligarchen mischen sich regelmäßig in die Berichterstattung ein. In Regionen, in denen es lange gar keine lokalen Medien gab, wurden in den vergangenen Jahren Blogs gegründet, die aber als Sprachrohre lokaler Interessengruppen agieren, da diese die Finanzierung sicherstellen. Unabhängigen Journalismus wirtschaftlich nachhaltig zu betreiben, ist somit eine große Herausforderung. Dies begünstigt Desinformation.

Geografische Herausforderungen

Reisen im Amazonasgebiet sind immens aufwändig und somit sehr teuer. Das Gebiet umfasst 61 Prozent des brasilianischen Staatsgebiets, Flüge kosten umgerechnet oft Tausende Euro. Viele Orte sind nur nach einer langen Reise erst mit dem Flugzeug, dann mit einem Geländewagen und schließlich mit dem Boot erreichbar. Viele journalistische Recherchen werden nicht realisiert, weil den Medien die Ressourcen dafür fehlen. Dass es in weiten Teilen der Region quasi keine Internet- oder Telefonverbindungen gibt, erschwert journalistische Arbeit zusätzlich. Zugleich sind Konflikte in solch schwer zugänglichen Regionen oft besonders gewalttägig; diese Geschichten bleiben aber meist unerzählt.

Reaktionen vor Ort

Angesichts der Bedrohungen und der Gewalt aus dem öffentlichen wie dem privaten Sektor müssen Medienschaffende in der Amazonastegion erfinderisch sein, um sich zu schützen. Dabei spielen sowohl die Zusammenarbeit auf internationaler Ebene als auch die Stärkung lokaler Netzwerke eine herausragende Rolle – etwa die „informelle Journalismusschule“ Abaré in Manaus, die Desinformation bekämpfen will, oder das Nationale Netzwerk für den Schutz von Journalistinnen und Bloggern, bei dem auch RSF Mitglied ist. Gewerkschaften haben Monitoring-Stellen für Übergriffe eingerichtet. Und manche Medien wie Tapajós de Fato investieren im Rahmen ihrer Möglichkeiten in stärkeren Selbstschutz, etwa mit Überwachungskameras, einem Elektrozaun und Weiterbildung in digitaler Sicherheit.

Sicherere Arbeitsbedingungen wären möglich

Basierend auf den Erkenntnissen des Berichts hat RSF fünf Empfehlungen entwickelt, mit der unabhängige Berichterstattung in und aus der Amazonasregion sowie sichereres Arbeitsumfeld für Medienschaffende ermöglicht werden können:

  • Verteidigung von zuverlässigem, unabhängigem und vielfältigem Journalismus als zentraler Punkt der Umweltschutzprogramme in der Amazonasregion
  • Entwicklung von Präventions- und Schutzprogrammen für Medienschaffende, die in der Region an sensiblen Geschichten arbeiten
  • Förderung einer vielfältigen und finanziell nachhaltig aufgestellten lokalen Medienlandschaft
  • Stärkung der Medienkompetenz und der Bemühungen zur Bekämpfung von Desinformation in der Region
  • Ausweitung der Überwachung von Übergriffen auf Medienschaffende in der Region

Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht Brasilien auf Platz 92 von 180 Staaten. Mehr zur Lage der Pressefreiheit in Brasilien unter www.reporter-ohne-grenzen.de/brasilien

Der Bericht in englischer Sprache kann hier heruntergeladen werden.

 

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