„Diese Erkenntnis erstaunt ganz mich besonders, denn ich hatte immer gedacht, dass sich die Zwangsstörung nie den ersten Rang streitig machen lässt. Ob ich mit der Konstellation jetzt zufriedener bin, kann ich hierbei nicht wirklich sagen. Während der emotionale Leidensdruck bei der Zwangserkrankung deutlich höher war, plagen mich nun die Sorgen um meinen körperlichen und geistigen Verfall und es ängstigt, welch schwierigen Verlauf die Schüttellähmung in den nächsten Jahren wohl nehmen wird. Während ich bei den Zwängen trotz all ihrer Bedrohlich- und Aufdringlichkeit fast nie das Gefühl des vollständigen Kontrollverlusts über die Psyche und mich hatte, ist es jetzt anders. Wenn mich der Parkinson vor handfeste Halluzinationen stellt, mich bis zur absoluten und schmerzhaften Unbeweglichkeit schikaniert, meine Stimme schwach macht, mich nur noch in Zeitlupe voranschreiten lässt, ich mich durch ihn ständig verschlucke und keine aufrechte Sitzhaltung mehr einnehmen kann, meine Muskeln sich verdrehen und verkrampfen und ich morgens kaum noch sicher sein kann, ob ich weiß, wie ich die Kaffeemaschine bedienen und die Zahnbürste benutzen muss, frage ich mich schon, ob es dann nicht einfacher gewesen ist, Zwängen zu entgegnen, die zwar mein Denken und Handeln verändert hatten, aber mich in der Persönlichkeit und Integrität kaum antasteten. Schlussendlich wohl irgendwie eine Wahl zwischen Pest und Cholera. Sie relativiert aber keinesfalls die unheimliche seelische wie auch soziale Belastung, die mit der Zwangsstörung einhergegangen war und lange geblieben ist. Als Quintessenz formuliert Riehle noch: „Ritualhaftes Denken und Handeln hat im Dasein von uns Betroffenen allzu viel Freiräume, sich dort genüsslich ausbreiten zu können. Erst, wenn wir den Zwängen ein Gegengewicht entgegenstellen und sie damit nicht mehr die erste Geige spielen lassen, sind sie doch genötigt, die Umkehr anzutreten. Denn ihr so forderndes Naturell nach dem Rampenlicht auf der Bühne unseres Alltags verträgt sich nicht damit, ihnen unsere Konzentration zu entziehen. Denn Zwänge speisen sich vor allem aus der Fokussierung, mit der wir uns ihnen zuwenden. Bauen wir uns deshalb ein Pendant zur Zwangsstörung, das in der Lage ist, sie neidisch zu machen. Entziehen wir ihr die Macht und den Einfluss, indem wir unser Bewusstsein neu kanalisieren. Was bei mir der Parkinson gewesen sein mag, das kann für Andere ein stabiles, erfüllendes Hobby oder eine Beschäftigung sein. Oder eine sinnstiftende Beziehung zu Freunden und Bekannten, Partner oder Familie. Ein ausfüllender Alltag mit viel Ablenkung und fordernden Komponenten. Glaube oder Wissenschaft, Politik oder Philosophie. Mit Themen, die uns wirklich interessieren und fesseln können. Die obligatorische Therapeutenfrage ist durchaus zu Recht: Was würden wir denn den ganzen Tag tun, wenn wir plötzlich keine Zwänge mehr hätten?“, resümiert der Sozialberater zusammenfassend, der von 2005 bis 2015 eine Selbsthilfegruppe zu Zwängen, Phobien und Depressionen führte und diese nach Auflösung durch das ehrenamtliche Angebot zur Mailberatung für Betroffene und Angehörige ersetzt hat.
Die Psychosoziale Beratung der Selbsthilfeinitiative ist kostenlos unter www.selbsthilfe-riehle.deerreichbar.
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