Zensurversuch: Kampagne gegen Radio Azattyk

Von 1953 an war er in Kirgistan zu empfangen, seit der Unabhängigkeit des Landes vor mehr als 30 Jahren sendet er aus einer Redaktion in der Hauptstadt Bischkek: Radio Azattyk (Kirgisisch für Freiheit) ist der kirgisische Dienst des US-finanzierten Radio Free Europe/Radio Liberty (RFE/RL). Auf Russisch und Kirgisisch informiert der Sender kritisch über Politik und Gesellschaft und deckte in preisgekrönten Untersuchungen Korruptionsfälle in höchsten Regierungskreisen auf. Damit soll nun Schluss sein: Das kirgisische Kulturministerium beantragte Ende Januar 2023 die Schließung des traditionsreichen Senders in Kirgistan. Erste Anhörungen in dem Verfahren begannen am 20. Februar. Der nächste Termin ist für die erste Märzhälfte 2023 angesetzt.

„Die kirgisische Regierung will mit der Schließung von Radio Azattyk einen der bekanntesten und renommiertesten Nachrichtensender des Landes zerstören“, sagt Christian Mihr, Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen (RSF). Dies wäre ein weiterer dramatischer Rückschlag für die Pressefreiheit in Kirgistan, das noch bis vor wenigen Jahren als demokratische Ausnahme in Zentralasien galt. „Kirgistan muss die Kampagne gegen Radio Azattyk umgehend einstellen und aufhören, unabhängige Medien zu schikanieren.“

Das Verfahren markiert den Höhenpunkt einer monatelangen Kampagne gegen Radio Azattyk. Diese begann am 24. Oktober 2022 mit einer Forderung des kirgisischen Kulturministeriums: Der Sender solle einen auf YouTube veröffentlichten Videobericht innerhalb von 24 Stunden löschen. Im Falle einer Weigerung würde die Webseite des Senders blockiert. Thema des Beitrags vom 16. September 2022 war der bewaffnete Grenzkonflikt mit dem Nachbarland Tadschikistan im Sommer 2022. Das Stück enthalte Hassrede sowie Fake News und beleuchte den Konflikt einseitig aus tadschikischer Perspektive, begründete das Ministerium seine Forderung. Der Präsident von Radio Free Europe/Radio Liberty (RFE/RL) Jamie Fly wies die Vorwürfe zurück: Der Bericht sei ausgewogen und entspreche den journalistischen Standards des Senders – er werde nicht gelöscht. Zwei Tage darauf sperrte Kirgistan die Webseite von Radio Azattyk zunächst für zwei Monate. Ende Oktober 2022 froren die Behörden ohne Vorwarnung die Konten des Senders ein. Ende Dezember 2022 verlängerte das Kulturministerium die Sperrung der Webseite auf unbestimmte Zeit. Am 23. Januar 2023 beantragte das Ministerium die Schließung von Radio Azattyk.

Präsident Dschaparow drängt die Pressefreiheit zurück

Das Vorgehen gegen den Sender ist Teil eines Trends: Seit dem Amtsantritt des autoritär regierenden Präsidenten Sadyr Dschaparow im Januar 2021 zeichnet sich in dem zentralasiatischen Land, das in der Region lange als demokratische Ausnahme mit vergleichsweise vielfältiger Medienlandschaft galt, eine autoritäre Wende ab. Dschaparow setzt kritische Journalistinnen und Journalisten unter Druck, gängelt unabhängige Medien und schränkt den Raum für Dissens und Kritik immer mehr ein. Auch gesetzgeberisch lässt er die Pressefreiheit zurückdrängen: Im April 2022 unterschrieb der Präsident ein „Gesetz zum Schutz vor Falschnachrichten“ – die juristische Grundlage für die spätere Sperrung von Radio Azattyk. Das Gesetz verleiht dem kirgisischen Kulturministerium weitgehende Befugnisse zur Sperrung von Webseiten. Abschaltungen muss das Ministerium nicht offiziell begründen. Betroffene Medien können Sperrungen vor ihrem Inkrafttreten juristisch nicht anfechten. Außerdem erschwert das Gesetz die Registrierung neuer Medien.

Im Visier der Regierung stehen auch einzelne Medienschaffende: Ende November 2022 schoben die Behörden den Reporter Bolot Temirow nach Russland ab. Temirow zählt zu den bekanntesten Investigativjournalisten des Landes und besitzt neben der kirgisischen auch die russische Staatsbürgerschaft. Seit dem Jahr 2020 berichtet er auf seinem YouTube-Kanal Temirov Live über Korruption und Vetternwirtschaft unter Regierungsbeamten. Diese Themen führten letztlich auch zu seiner Abschiebung: Temirow hatte 2020 einen zweiteiligen Bericht über illegale Geschäfte der Familie des Chefs des kirgisischen Inlandsgeheimdiensts (GKNB) Kamtschybek Taschijew mit den staatlichen Erdölkonzernen Kyrgysneftegas und Kyrgys Petroleum Company veröffentlicht. Taschijew gilt als enger Vertrauter des Präsidenten. Die Behörden ließen Temirow zunächst wegen angeblichen Drogenbesitzes vorübergehend verhaften. Im November 2022 ordnete ein Gericht schließlich seine Ausweisung an – wegen angeblich gefälschter Dokumente zur Erlangung eines kirgisischen Passes. RSF kritisiert das Urteil als Rache der Behörden.

Gerichte kämpfen gegen kritische Berichte

Zwei Monate zuvor gingen die Behörden gegen Talaaj Dujschenbijew vor. Am 21. September 2022 wurde der Direktor des privaten Radio- und Fernsehsenders Next TV wegen angeblicher Aufstachelung zu ethnischem Hass zu fünf Jahren Haft verurteilt. Die Strafe wurde allerdings zu einer dreijährigen Bewährung ausgesetzt. Während dieser Zeit muss sich der Journalist zweimal im Monat bei den Behörden melden und darf die Hauptstadt Bischkek nicht verlassen. Grund für die Anklage gegen Dujschenbijew waren Posts in den sozialen Medien des Senders. In diesen wurde im März 2022 ein früherer Leiter des kasachischen Inlandsgeheimdienstes (KNB) mit der Behauptung zitiert, Kirgisistan haben sich in geheimen Gesprächen bereit erklärt, Russland bei der Invasion in der Ukraine militärische Hilfe zu leisten. Die Posts wurden vom Obersten Gericht Kirgistans als extremistisch eingestuft und Dujschenbijew festgenommen. Der Journalist bestreitet seine Schuld und bezeichnete das Verfahren gegen ihn als politisch motiviert.

Bereits zu Beginn des Jahres hatte die Bischkeker Staatsanwaltschaft am 31. Januar 2022 ein Strafverfahren gegen Kaktus Media eingeleitet – wegen angeblicher Kriegspropaganda. Das einflussreiche unabhängige Nachrichtenportal hatte wenige Tage zuvor einen Artikel der unabhängigen tadschikischen Nachrichtenagentur Asia-Plus über den Grenzkonflikt zwischen Tadschikistan und Kirgistan veröffentlicht. In diesem hieß es, Kirgistan habe den Grenzkonflikt mit ersten Schüssen provoziert. Dutzende Demonstrierende forderten vor der Redaktion daraufhin eine Bestrafung der Medienschaffenden sowie die Einführung eines Gesetzes für ausländische Agenten nach russischem Vorbild. Das Verfahren wurde am 31. März 2022 eingestellt.

Fast zur selben Zeit erregte auch die renommierte Nachrichtenagentur Kloop den Zorn der Behörden. Am 1. Februar 2022 forderte das kirgisische Kulturministerium die sofortige Löschung eines Artikels über die staatliche Entwicklungsagentur Aris. Die Behörde soll für den Wiederaufbau von Gebäuden, die im Grenzkonflikt mit Tadschikistan zerstört wurden, mehr Geld ausgegeben haben als vorgesehen. Im Falle einer Weigerung werde die Internetseite des Mediums für zwei Monate gesperrt. Noch am selben Tag wies Kloop die Forderung in einer öffentlichen Stellungnahme zurück. Der Artikel enthalte keine falschen Informationen und werde nicht gelöscht. Nur einen Tag später zog Aris die Forderung überraschenderweise zurück.

Neues Gesetz soll Schließung von Medien vereinfachen

Für tiefe Beunruhigung unter Kirgistans Medienschaffenden sorgt zudem der Entwurf eines neuen Mediengesetzes, welches die Administration des Präsidenten am 28. September 2022 vorlegte. Der Gesetzesentwurf erleichtere die Schließung von Medien und die Abschaltung von Internetseiten und kopiere in weiten Teilen russische Mediengesetze, so die Kritik kirgisischer Journalistinnen und Journalisten. Zudem enthalte der vorgelegte Entwurf zahlreiche Fehler und unklare Formulierungen. Die Regierung reagierte auf die Kritik und richtete im November 2022 eine Arbeitsgruppe mit unabhängigen Medienvertreterinnen und -vertretern ein, welche am 8. Januar 2023 eine überarbeitete Version vorlegte – die aber nicht veröffentlicht wurde. Der Entwurf soll zur Prüfung der Venedig-Kommission des Europarats zugehen, die Staaten in verfassungsrechtlichen Fragen berät.

Aber auch die neue Version des Gesetzesentwurfs sorgt für Kritik: Sie stärke die Kontrollmöglichkeiten der Regierung, kritisieren Medienfachleute. Zudem enthalte der überarbeitete Entwurf einen neuen Artikel, der auf die Zensur von Bloggern ziele. Diese sollen juristisch als Medien eingestuft werden. Das bedeutet: Blogger müssen in den sozialen Medien zahlreiche persönliche Daten, darunter etwa Telefonnummer und E-Mail-Adresse, angeben – und können so schneller juristisch belangt werden. Für Blogger sollen dem Gesetzesentwurf zufolge Arbeitsvorschriften wie für professionelle Redaktionen gelten: So könnten sie beispielsweise für die gezielte Veröffentlichung von Fake News – oder als solchen eingestuften Informationen – vor Gericht kommen.

RSF fordert Gespräch mit kirgisischem Präsidenten

Gegen den zunehmenden Druck der kirgisischen Regierung regt sich auch Widerstand: In einer gemeinsamen Erklärung forderten kritische Medienschaffende und Medien, journalistische Berufsverbände und Medienorganisationen am 24. Oktober 2022 ein Ende der Kampagne gegen Radio Azattyk. Vier Tage darauf veranstalteten unabhängige Medien einen sogenannten Blackout Day: Als Zeichen der Solidarität mit Radio Azattyk stellten sie für drei Stunden die Berichterstattung ein. Die Webseiten der beteiligten Medien wurden schwarz geschaltet. Nur der Schriftzug „Keine Nachrichten heute. Die Medien in Kirgistan sind unter Druck“ war zu lesen. Am 31. Januar 2023 kritisierten RSF und sechs weitere Nichtregierungsorganisationen in einem Brief an Präsident Dschaparow die immer stärkere Einschränkung der Pressefreiheit und baten um ein Gespräch mit dem kirgisischen Präsidenten. Eine Reaktion Dschaparows steht bisher aus. Er empfing jedoch am 10. Februar 2023 Jamie Fly, den Präsidenten von Radio Free Europe/Radio Liberty (RFE/RL), in Bischkek zu einem Gespräch, in dem Fly für eine weitere Zukunft von Radio Azattyk in Kirgistan warb.

Auf der Rangliste der Pressefreiheit belegt Kirgistan Platz 72 von 180 Staaten.

Mehr zur Lage der Pressefreiheit in Kirgistan: www.reporter-ohne-grenzen.de/kirgistan

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