- Deutscher Osthandel erreicht neuen Rekordwert
- Schnelle Entflechtung von der russischen Wirtschaft
- Wiederaufbau der Ukraine als gemeinsame Kraftanstrengung
- Harms: „Diversifizierung unserer Beschaffungs- und Absatzmärkte fängt direkt vor unserer Haustür im Osten an.“
Als Folge des russischen Krieges gegen die Ukraine vollziehen sich deutliche Verschiebungen in den deutschen Wirtschaftsbeziehungen mit Mittel- und Osteuropa. „Die Entflechtung vom russischen Markt kommt schnell voran und wird sich 2023 weiter fortsetzen“, sagt der Geschäftsführer des Ost-Ausschusses Michael Harms anlässlich der Frühjahrspressekonferenz des Verbandes in Berlin kurz vor dem ersten Jahrestag des russischen Überfalls. „Die Exporte nach Russland verringerten sich 2022 um 45 Prozent und lagen damit so niedrig wie seit zwei Jahrzehnten nicht mehr. Die drastischen Einbußen konnten aber durch zweistellige Exportsteigerungen in andere Märkte mehr als wettgemacht werden.“ Der deutsche Handel mit Mittel- und Osteuropa kletterte dadurch im Jahr 2022 auf einen neuen Höchststand von 562 Milliarden Euro. Die 29 Länder Mittel- und Osteuropas trugen damit weiterhin gut 18 Prozent zum gesamten deutschen Außenhandel bei, erneut mehr als China und die USA zusammen.
Wiederaufbau der Ukraine beginnt jetzt
„Der Handel mit der Ukraine ist mit minus sieben Prozent 2022 weniger stark eingebrochen, als dies angesichts der dramatischen Lage zu erwarten gewesen wäre, und befindet sich seit dem Spätherbst sogar auf Erholungskurs“, sagt Harms. Die deutschen Unternehmen im Land hätten die Produktion wo immer möglich aufrechterhalten oder schnell wieder hergestellt. Die deutsche Wirtschaft engagiere sich zudem intensiv für die schnelle Wiederherstellung zerstörter Infrastruktur und den langfristigen Wiederaufbau des Landes.
Der Ost-Ausschuss koordiniert dieses Engagement über seinen im August 2022 eingerichteten Service Desk Ukraine. „Wir vermitteln mit dieser Schaltstelle zwischen der deutschen und ukrainischen Wirtschaft und Politik“, sagt Harms. Einerseits gehe es um schnelle Nothilfe, andererseits um die Schaffung von effizienten Strukturen für den Wiederaufbau. „Das von uns dazu erarbeitete Dossier ist die Grundlage für viele Gespräche mit der Bundesregierung, ukrainischen Partnern und europäischen Wirtschaftsverbänden“, so Harms weiter. „Im Interesse der Menschen in der Ukraine muss der Wiederaufbau zeitnah starten und er wird nur durch Aktivierung der Privatwirtschaft erfolgreich sein. Benötigt werden daher insbesondere Investitionsgarantien und eine unbürokratische und transparente Verwaltung internationaler Wiederaufbaumittel.“
Erst vergangene Woche war ein Team des Ost-Ausschusses zusammen mit einer starken deutschen Unternehmerdelegation auf der Messe „Rebuild Ukraine!“ in Warschau. Auf der Münchener Sicherheitskonferenz am vergangenen Wochenende organisierte der Ost‑Ausschuss zudem eine Abstimmungsrunde führender deutscher Unternehmen mit dem für den Wiederaufbau der Ukraine zuständigen Vize-Premierminister Oleksandr Kubrakow.
Ausfuhren nach Russland brechen dramatisch ein
Die deutschen Ausfuhren nach Russland sind 2022 dramatisch eingebrochen. Mit knapp 15 Milliarden Euro rutschten die Exporte um über zwölf Milliarden Euro (-45 Prozent) unter den Wert des Vorkriegsjahres 2021. In der Rangfolge der deutschen Absatzmärkte stürzte Russland damit binnen eines Jahres von Rang 15 auf Rang 23. „Rein statistisch hat der Krieg die deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen bereits um 20 Jahre zurückgeworfen und ein Ende dieser Negativentwicklung ist nicht abzusehen“, sagt der Ost-Ausschuss-Geschäftsführer.
Die schnelle Entkoppelung von Russland ist nach Einschätzung des Ost-Ausschusses nur zum Teil auf die EU-Sanktionspakete zurückzuführen. „Die Mehrheit der deutschen Unternehmen im Russland-Geschäft tut wesentlich mehr, als es die Sanktionen verlangen, hat ihr Neugeschäft eingestellt oder ist dabei, ihr Russland-Geschäft komplett abzuwickeln,“ so Harms. Nur in Branchen, die ausdrücklich von EU-Sanktionen ausgenommen seien, wie dem Gesundheits- und Agrarsektor finde noch mehr oder weniger normales Geschäft statt. „Die vielzitierten Statistiken zum angeblichen Verbleib der meisten Unternehmen in Russland sind irreführend, weil ein hundertprozentiger Rückzug hochkompliziert und zeitraubend ist“, sagt Harms. „Der russische Staat tut inzwischen alles, um einen weiteren Exodus ausländischer Unternehmen zu verhindern.“
Während es der deutschen Wirtschaft überraschend schnell gelungen sei, sich an eine Welt ohne russische Energielieferungen anzupassen, fahre die russische Wirtschaft mit hohem Tempo in eine langanhaltende Krise hinein. „Wir haben immer gesagt, dass die russische Wirtschaft nicht über Nacht zusammenbrechen wird“, betont Harms. „Aber die Sanktionen, der Rückzug ausländischer Unternehmen und der Exodus hunderttausender junger Arbeitskräfte haben eine toxische Wirkung. Wir erleben eine Desintegration Russlands aus der Weltwirtschaft und eine beispiellose Rückabwicklung marktwirtschaftlicher sowie technischer Errungenschaften der letzten 30 Jahre.“
Gewichte im Handel verschieben sich
Während der deutsche Handel mit der Ukraine, Russland und Belarus 2022 rückläufig war, bauten die ostmitteleuropäischen EU-Länder ihre Vorrangstellung im Osthandel weiter aus. Polen war mit einem Umsatz von 168 Milliarden Euro vor Italien der fünftgrößte deutsche Handelspartner weltweit. Tschechien überholte Großbritannien und stieg damit in die Top Ten der deutschen Handelspartner auf. Ungarn ließ Russland hinter sich und kletterte auf Platz 14. Die Handelszahlen zeigen auch, wie sich internationale Lieferketten und Handelsströme neu sortieren. So gewinnt der Mittlere Korridor über den Südkaukasus und das Kaspische Meer an Bedeutung, sowohl für Rohstofflieferungen aus Richtung Aserbaidschan und Zentralasien als auch für den Transit aus China. Auf der Importseite haben Kasachstan und Aserbaidschan fehlende Energielieferungen aus Russland teilweise ersetzt.
Eindrucksvoll entwickelt hat sich 2022 auch der deutsche Handel mit Südosteuropa. Im Außenhandel mit Bulgarien, Serbien und Kroatien gab es Zuwächse von über einem Fünftel. Für deutsche Unternehmen gewinnen neben den EU-Mitgliedern Rumänien, Bulgarien und Kroatien die Länder des Westlichen Balkans verstärkt an Bedeutung, gerade im Rahmen des Nearshorings.
Handel auf Rekordhoch
Insgesamt war der deutsche Außenhandel mit den 29 Partnerländern des Ost-Ausschusses im Jahr 2022 um zwölf Prozent höher als im Jahr 2021. „Die starke Verankerung der deutschen Wirtschaft in Mittel- und Osteuropa hat dazu beigetragen, dass wir 2022 trotz des Krieges und seiner Folgen ein Rekordergebnis im Osthandel verzeichnet haben“, sagt Michael Harms. Dabei stiegen die Einfuhren mit 15 Prozent fast doppelt so stark wie die Ausfuhren (+ 8 Prozent). Zu diesem beachtlichen Ergebnis trug der Preisauftrieb bei Energieträgern, Rohstoffen und Vorleistungsgütern maßgeblich bei – vor allem importseitig.
Alle Ost-Ausschuss-Regionen sind vom Krieg betroffen, etwa durch Flüchtlingsströme, stark gestiegene Rohstoffpreise und hohe Inflationsraten. Gleichzeitig eröffnen sich für diese Länder und für Deutschland neue Kooperationschancen. Regionalisierung und Diversifizierung gewinnen infolge der Erfahrungen der Corona-Pandemie und des Krieges rapide an Bedeutung. „Unternehmen wollen das China-Sourcing vermindern, Lieferketten verkürzen und richten sich mehr nach Europa aus“, sagt Ost-Ausschuss-Geschäftsführer Harms. Dabei spielten die Länder Mittel- und Osteuropa eine zentrale Rolle. „Die Diversifizierung unserer Beschaffungs- und Absatzmärkte fängt eben nicht in Asien oder Lateinamerika, sondern direkt vor unserer Haustür im Osten an.“
Der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft e.V. (gegründet 1952) fördert die deutsche Wirtschaft in den 29 Ländern Mittel-, Ost- und Südosteuropas, des Südkaukasus und Zentralasiens. Der deutsche Osthandel steht insgesamt für rund ein Fünftel des gesamten deutschen Außenhandels und ist damit bedeutender als der Handel mit den USA und China zusammen. Der Ost-Ausschuss hat rund 350 Mitgliedsunternehmen und -verbände und wird von sechs Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft – BDI, BGA, Bankenverband, DIHK, GDV und ZDH – getragen.
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