„Auch wenn die Zinserhöhungen der EZB im Dezember weitgehend so ausgefallen sind wie angenommen, waren viele Marktteilnehmer von den Aussagen des EZB-Rates überrascht: Die Auffassung, dass die Zinsen noch deutlich und in einem gleichmäßigen Tempo steigen müssen, hat die Erwartungen an die Zinsentwicklung verändert“, ordnet Schmidt ein. Im Dezember waren die Leitzinsen um weitere 50 auf insgesamt 250 Basispunkte gestiegen. Auch wenn die EZB das Tempo gedrosselt hat, sieht Schmidt keinen Hinweis auf ein baldiges Ende der Zinserhöhungen.
Szenario 1: Leitzins von 4 Prozent
„Es ist sicher, dass die Zentralbank auf ihren Sitzungen im ersten Quartal 2023 noch zwei Erhöhungen um 50 Basispunkte plant. Insgesamt scheint damit ein Höchstwert von 4 Prozent für die Refinanzierungszinsen wahrscheinlich“, erläutert Schmidt. Aus seiner Sicht ist dies das wahrscheinlichste Zinsszenario für 2023. Dies sei ein Kompromiss zwischen den Erfordernissen der Nachfragedämpfung, der Verankerung der Inflationserwartungen auf einem niedrigen Niveau und der Vorsicht vor einem Überziehen der Zinserhöhungen. Lese man die langfristigen Inflationserwartungen aus Verbraucherumfragen und den Preisen inflationsindexierter Anleihen ab, so blieben sie laut Schmidt mit rund 3 Prozent überschaubar. Eine Entkopplung der Inflationserwartungen sei aktuell die größte Sorge der EZB, allerdings habe sie auf einige Faktoren kaum Einfluss, allen voran auf die explodierenden Energiekosten, die vom Wetter und geopolitischen Entwicklungen abhängen.
Szenario 2: Zinsniveau von 6 Prozent
Die Inflation in der Eurozone dürfte im Jahresdurchschnitt 2023 erneut über 6 Prozent liegen und damit höher als in den USA. „Das allein würde schon ein Zinsniveau von 6 Prozent rechtfertigen. Dies würde auch bedeuten, dass die europäischen Leitzinsen über denen in den USA lägen“, erläutert der ETHENEA-Experte. „Um die Inflation langfristig zu bekämpfen, müsste die Zentralbankpolitik deutlich restriktiver werden: Die Leitzinsen müssten höher sein als die Inflationsrate. Die umfangreichen staatlichen Unterstützungsprogramme wirken dabei aber gegen die restriktiven Maßnahmen der Zentralbanken.“
Schmidt verweist auf eine These des bekannten französischen Ökonoms Olivier Blanchard: Die übermäßigen Unterstützungsprogramme der Regierungen Trump und Biden hätten letztlich die aktuelle Inflation verursacht. Die Regierungen in Europa und die Europäische Union begingen demnach derzeit den gleichen Fehler und würden mit ihren geplanten Ausgaben die Inflation hochhalten oder weiter anfachen. Durch eine deutliche Anhebung der Leitzinsen könne die EZB die notwendige Schuldenaufnahme verteuern und letztlich begrenzen. „Staatliche Unterstützung sowie deutliche Lohnsteigerungen würden aber weiterhin für einen stabilen Konsum sorgen“, erklärt Schmidt. Die überdurchschnittlich hohe Zahl der offenen Stellen werde erst bei zusätzlichem Druck auf die Wirtschaft zurückgehen. Bis dahin bleibe der Aufwärtstrend bei den Löhnen bestehen. Die Tarifvereinbarungen in Deutschland (zum Beispiel IG Metall, VW-Haustarif) zeigten für 2022 und 2023 eine Lohnzurückhaltung, aber einen deutlichen Anstieg im Jahr 2024..
Szenario 3: Schocktherapie mit hohen Zinsen von 8 Prozent
Eine weitere Option wäre eine Schocktherapie in Form einer Anhebung der Leitzinsen auf 8 Prozent, ähnlich wie in Ungarn. „Dies ließe sich mit dem dramatischen Anstieg der Geldvermögen in der Pandemie begründen. Um die Inflation besiegen zu können, bedarf es eines Schocks. Allerdings schließen wir ein derartiges Ansinnen für die EZB aus“, so Schmidt.
Er resümiert: „Wir gehen derzeit davon aus, dass die absolute Höhe der Leitzinsen weniger entscheidend ist. Die EZB kann nur einen Teil des jüngsten starken Preisanstiegs wirklich beeinflussen. Sie kann die Kreditkosten für Unternehmen, Verbraucher und Staat direkt erhöhen.“ Allerdings seien insbesondere die privaten Geldvermögen sehr hoch, sodass die Konsumenten weniger auf Kredite angewiesen sind. „Und auf die Flusspegel in Frankreich oder die Stilllegungsdebatten für Kraftwerke, auf Boykotte und Liefer- bzw. Abnahmebeschränkungen von und gegen Russland hat die EZB keinen Einfluss. Sie ist aktuell bestenfalls die Beifahrerin bei der Inflationsentwicklung oder sitzt sogar nur auf der Rückbank.“ Die Zentralbank unternehme aktuell nur das Minimum, um die Inflationserwartungen niedrig zu halten, und sei darüber hinaus vom Handeln anderer abhängig.
Inflationsbekämpfung muss weltweit erfolgen
„Die Inflation in ihrer jetzigen Ausprägung ist global und kann nur gemeinsam bekämpft werden; jede Zentralbank muss ihren Teil dazu beitragen und keine kann das allein schaffen“, so der ETHENEA Portfolio Manager. Auch die anderen großen Zentralbanken in den USA, England, Kanada und der Schweiz erhöhen weiterhin die Zinsen, allerdings in geringerem Tempo. „Es ist unvorstellbar, dass die Inflation nur in der Eurozone hoch bleibt, im Rest der Welt aber dauerhaft unter 2 Prozent fällt. Noch weniger vorstellbar ist es, dass die Inflation in der Eurozone dauerhaft sinkt, in den anderen großen Volkswirtschaften aber hoch bleibt. Entweder haben die Zentralbanken alle Erfolg oder eben nicht“, sagt Schmidt. Gelinge kein schneller Erfolg, könnten noch weit höhere Zinssätze folgen, sowohl in der Eurozone als auch global.
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