Eine sehr merkwürdige Lebensgeschichte erzählt Gerhard Branstner in „Plebejade oder die wundersamen Verrichtungen eines Riesen. Eine kreuz und quer wahrhaftige und ungelogen sehr frei in der Art des Francois Rabelais verfasste Historie“.
Ebenfalls Gerhard Branstner ist der Verfasser von „Neulichkeiten. Geschichten mit und ohne Spaß“.
Und noch ein drittes Buch vom selben Autor. Diesmal geht es unter dem Titel „Kantine. Eine Disputation in fünf Paradoxa“ wieder einmal um das Theater.
Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. In letzter Zeit zeigen sich nicht nur, aber besonders in Europa sehr beunruhigende politische Entwicklungen. Vielerorts kommen rechte, teils sogar faschistische Politiker in die Öffentlichkeit und sogar an die Macht. Die Gefahr ist konkret, und es gilt dagegenzuhalten und sich zu wehren. Eine der wichtigsten Gegenstrategien ist es, diese rechten Tendenzen und Machtübernahmen nicht zu verharmlosen und zu zeigen, was Faschismus in all seiner Grausamkeit wirklich bedeutet. Einen solchen Beitrag leistet das heutige Buch über einen Menschen, der dem Nazi-Regime zum Opfer fiel – wegen einiger Witze:
Erstmals 2018 veröffentlichte Wolfgang Eckert im Vergangenheitsverlag Berlin „Heimat, deine Sterne. Leben und Sterben des Erich Knauf“: Erich Knauf war einer der schillernden Publizisten der 1920er und 1930er Jahre. Er arbeitete als Journalist, Autor, Lied- und Werbetexter, war eng befreundet mit Erich Kästner und dem Zeichner Erich Ohser (alias e.o.plauen). Knauf stieg 1928 zum literarischen Leiter der Büchergilde Gutenberg auf. Unter seinem Lektorat erschienen proletarische Romane. Er förderte den Schriftsteller B. Traven, sorgte für die Veröffentlichung der sozialkritischen Romane des US-Autors Upton Sinclairs und ließ verstärkt sowjetische Literatur übersetzen. Deutschlandweit bekannt wurde Knauf durch seine Liedtexte für den Schlagersänger Werner Bochmann. „Heimat, deine Sterne“ avancierte 1941 zum Front-Schlager. Im März 1944 wurde Knauf wegen defätistischer Äußerungen denunziert, zum Tode verurteilt und am 2. Mai 1944 hingerichtet.
Die Biografie von Knauf offenbart die Überlebensstrategien eines linken Publizisten in Zeiten des aufkommenden Nationalismus der 1930er Jahre. Wie radikalisiert und menschenfeindlich diese Welt wurde, zeigt auch der tragische Tod Knaufs. Am Ende bedeutete schon ein Witz das Todesurteil. Die Kosten für die Hinrichtung stellten die NS-Gerichte der Witwe in Rechnung. 585,74 Reichsmark sollte sie für die Ermordung ihres Mannes zahlen. Hier der Anfang dieses starken und berührenden Textes:
„Für Erna Knauf
In der Morgenkühle sang die Amsel …
In den Morgenstunden am 28. März 1944 halten nahe des Gebäudes Am Feldberg 3 in Berlin-Kaulsdorf zwei Personenautos. Heraus steigen einige Zivilisten und nähern sich schweigend dem gut gepflegten Einfamilienhaus. Es ist Dienstag. Also ein ganz gewöhnlicher Wochentag, obwohl in dieser immer zerbombter aussehenden Reichshauptstadt nichts mehr als gewöhnlich bezeichnet werden kann. Nur der Frühling kündigt sich ordnungsgemäß mit dem zaghaften Gesang einer Amsel in der Morgenkühle an. Aber dafür entwickeln die Männer vor der Haustür keinen Sinn. Ihre entschlossenen Gesichter verraten, dass sie schnell und möglichst reibungslos eine Arbeit zu verrichten haben.
So wollen wir es sehen, und es kann auch womöglich alles anders gewesen sein. Die Geschichte liegt über fünfzig Jahre zurück. Was von ihr übrig geblieben ist, sind Briefe, Akten, die Äußerungen von bestürzten Zeitgenossen, Trauer, Verzweiflung und Zorn. Die Amsel in der Morgenkühle haben nur wir gehört. Man möge uns verzeihen. Aber die Männer vor dem Haus waren bestimmt davon überzeugt, eine Arbeit zu verrichten. Dass es eine dreckige war, hat später erst die Zeitgeschichte richtiggestellt. Das Haus gehört dem Arzt Dr. Hans Daubenspeck, der im Moment nicht praktiziert, da er Soldat ist. Um Frau und Kind vor den zunehmenden Bombenangriffen zu schützen, hat er sie in Ahrenshoop untergebracht und die Zimmer vermietet an zwei ihm sympathisch gewordene Künstler.
Der eine verdient sich sein Geld als Pressezeichner und Karikaturist. Beliebt sind seine Serie „Vater und Sohn“ in der „Berliner Illustrierten“ und seine Karikaturen in der Wochenschrift „Das Reich“. Er heißt Erich Ohser. Unter seine Arbeiten setzt er das Pseudonym e.o.plauen. Der andere ist der Schriftsteller Erich Knauf, Autor mehrerer Bücher und jetzt in dieser unruhigen Zeit beruhigenderweise Leiter des Pressedienstes der Terra Filmkunst.
Beide kennen sich schon aus ihrer Plauener Zeit und gelten als unzertrennliche Freunde. Und beide haben ihre Frauen, wie Dr. Daubenspeck seine Frau, in Sicherheit gebracht. Knaufs Frau Erna wohnt bei Familienangehörigen in Thüringen. Seine Wohnung in der Charlottenburger Straße 56 gibt es seit dem 22. November 1943 nicht mehr. In einem Brief an die Schwester Grete schreibt Knauf: „Am 22. kurz nach dem Alarm war ich obdachlos. Es ist alles verbrannt, was noch in der Wohnung war. Und das war leider nicht wenig. Wäscheschrank, Toilettentisch, Esszimmer, Bücherzimmer mit neun Zehnteln der Bibliothek. Und die Küche mit all dem, was im Keller war. Ich habe dann jede Nacht eine andere Bleibe gehabt, in Wannsee bei Bochmann, in Schlachtensee bei einem Kollegen, dann war ich bei Erna und holte mir Wäsche, und jetzt wohne ich in Berlin-Kaulsdorf Am Feldberg 3 bei Dr. Daubenspeck, Telefon 509050. Ich habe ein kleines, aber warmes Zimmer, alles ist sehr sauber, man kocht mir Essen – und überhaupt, ich habe das große Los gezogen.
Da ich hier auch eine Schreibmaschine habe, fehlt mir zu meinem Glück nur Erna. Ich habe sogar seither ein neues Lied gemacht, eine große Arbeit für Rogo beendet, und ich denke, hier noch manches zu schreiben. Es ist gut, dass Ihr nicht in Berlin seid. Wir werden hier noch viel Schlimmes erleben … “
Ebenfalls im Haus Am Feldberg 3 wohnt ein ausgebombter Hauptmann der Reserve im Oberkommando der Wehrmacht und Herausgeber der Zeitschrift „Das Neue Deutsche Lichtbild“ namens Bruno Schultz mit seiner Frau. Gestern Abend hat er der Hausangestellten der Daubenspecks, Fräulein Friedel, gesagt, sie brauche morgen nicht den Wecker zu stellen. Sie wollte zu Frau Daubenspeck nach Ahrenshoop fahren. Er, Schultz, wäre morgen auch früh auf und könne sie dann wecken. Nachdem sie das Haus verlassen hatte, ist er es nun, der auf das Klingeln hin öffnet und die Frage, ob hier der Schriftsteller Erich Knauf und der Karikaturist Erich Ohser wohnen, zu so früher Morgenstunde, wie es scheint, etwas verwundert bejaht.
Hinter ihm stehen nun die beiden Freunde, Knauf gut ausgeschlafen, schon gewaschen und rasiert, Ohser aussehend wie nach einer schlecht verbrachten Nacht, sehr blass, in den Augen etwas Abschließendes, die Bestätigung einer Ahnung. Die Zivilisten benötigen es nicht, sich schriftlich auszuweisen. „Geheime Staatspolizei. Kommen Sie mit, Sie sind verhaftet.“ Ohser nickt, mehr zu sich selber. Knauf ist um eine ruhige Haltung bemüht. Er blickt sogar etwas ungläubig. Zu fragen, weshalb diese Verhaftung, das unterlässt er. Er hat bereits Erfahrung in solchen Dingen.
Hauptmann Schultz und dessen Frau, die nun ebenfalls dasteht, versichern, den Frauen der Verhafteten Auskunft zu geben, sollten diese anrufen. Aber die beiden Männer reagieren nicht mehr darauf. Dann werden sie schnell zu den Autos gebracht. Die Türen klappen. Das scharfe Geräusch der losdrehenden Reifen. Stille. In der Morgenkühle singt nur noch zaghaft die Amsel.
Im ersten Auto wird kein Wort gesprochen. Das dürfte in dem dahinter fahrenden mit Ohser nicht anders sein. In dem ersten sorgt sich Knauf zunächst um den Freund, dessen Zustand in den letzten Tagen schlimm war und der nach jener Warnung sogar geäußert hatte, Schluss zu machen, nach jener Warnung, die jetzt ihre Berechtigung hat.“ Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters:
Erstmals 1993 veröffentlichte Wolfgang Eckert im Tomus-Verlag München „DADRIEBER LACHN MIR SAGGSN. Ein humorvolles „Widse“-Alphabet für alle, die eine Weltsprache nicht erlernen, sondern erlachen wollen“: Leipzig heißt in der sächsischen Weltsprache Leibzsch. Sprechen Sie es bitte langsam und laut nach: „LEIBZSCH“. Wiederholen Sie es unentwegt. Genieren Sie sich nicht, es in der U-Bahn, im Wartezimmer des Zahnarztes, mit oder ohne Zahnprothese oder während einer atemlosen Stille im Theater auszusprechen. Wenn es Ihnen endlich vollendet gelungen ist, dann können Sie ohne Gefahr in diesem Büchlein zu lesen beginnen.
Von A (Ausgleichende Gerechtigkeit) bis Z (ZOO) sind lustige Episoden aneinandergereiht, die nur in Sachsen und mit dem sächsischen Humor ein Hochgenuss sind. Und hier ein paar ausgewählte Übungsstücke:
Aussprache
Um zu Beginn noch ein Beispiel sächsischer Sprachfeinheiten zu geben, sei gesagt, ein „E“ wird niemals so profan ausgesprochen, sondern melodisch wie ein „Ä“. Ruft der wenig Sprachgebildete bei einer Sache, die er bezweifelt „Nicht möglich“, so ruft der Sachse „Äscha!“. Aber die Nuancen in seiner Ausdrucksfähigkeit sind derart getönt, dass sogar Sachsen untereinander manchmal in Schwierigkeiten geraten.
Ein Mütterchen fragt in einer Leipziger Straßenbahn den Fahrer: „Wie weid issesn noch bis zun Obernblads?“
Es ist noch weit. Nach einiger Zeit fragt sie erneut, allmählich unruhig. Es ist immer noch weit. Der Fahrer verspricht ihr rechtzeitig Bescheid zu geben. Endlich! Der Opernplatz.
„Hier ist der Opernplatz!“, ruft der Fahrer.
Das Mütterchen nimmt sein Gebiss aus dem Mund und setzt sich darauf. Keine Unruhe mehr.
„Na, was ist denn, Oma, hier ist der Opernplatz!“, ruft der Fahrer erneut. „Warum setzen Sie sich denn auf Ihr Gebiss?“
„Mei Sohn hadd mir gesaachd, am Obernblads sedzde dich off de Zähne un fährsd weider bis Gohlis.“
B
Beredsamkeit
Ob sächsische Frauen durch die Bank allesamt redlich sind, ist zu bezweifeln. Beredsam aber ist jede. Wer solch eine in Fahrt geratene Sächsin unterbricht, riskiert genau soviel wie ein Streckenwärter, der einen vollbeladenen Güterzug mit bloßen Händen aufhalten will.
August Krause hat seine Frau aus dem Auto verloren. Nach einhundert Kilometern Autobahnfahrt stoppt ihn eine durch Sprechfunk von dem Vorfall informierte Polizeistreife.
„Haben Sie denn nicht bemerkt, dass Ihre Frau aus dem Auto gefallen ist?“, fragt der Wachtmeister.
„Nu glar!“
„Und woran haben Sie das bemerkt?“
„Swar bledslich so schdille.“
„Ja, aber warum sind Sie dann weitergefahren?“
„Nähmses mir nich iebel, Härr Wachdmeesder, ich wollde die Ruhe wenischsdens ma e gleenes bissl genießn.“
Betulichkeit
Direkt auf eine Sache zugehen, das ist nicht die Art der Sachsen. Fragt ein Sachse einen Passanten nach der Uhrzeit und der antwortet kurz und bündig: „Fünf nach Vier“, argwöhnt der Sachse: „Der kann mich wohl ni leidn?“
Ein Autofahrer hält und spricht einen Fußgänger an. „Entschuldigen Sie bitte, wie komme ich denn zur Zwickauer Straße?“
„Nu, wo kommse denn ieberhaubd her?“, fragt der Angesprochene freundlich.
„Aus Köln.“
„Ach was! Gibds da nochn Dom, un was machdn dr Millowidsch? Na brima! Also meiner Vermudung nach häddnse an der Schosseh nach links abbiechn missn. Da wärnse nich erscht in die Schdad gekomm. Hamse aber nich. Sähnse! So sinnse durchs Dunnel durch, un das war dr Fähler! So sinnse hier in die Schdad gekomm.“
„Und wie gelange ich denn nun in die Zwickauer Straße?“
„Gar nich. Denn hier gibds gar keene. Hald! So wardnse doch. Hald! – Komisch sinn die Rheinländer. Lassn een nich mal richdsch ausredn. Mir häddns schon noch zesamm rausgekrichd.“
C
Courage
Courage ist ein alteingesessenes Privileg sächsischer Frauen. Ihre Männer reden nur, sie aber handeln. Trotzdem handeln auch sächsische Männer. Aber so, wie ihre Frauen geredet haben.
Ein Sachse sitzt in der Kneipe, nimmt einen tiefen Schluck Bier und verkündet allen laut: „Endlich had mei Weib vor mir gegnied!“
„Ach was!“, ruft der Stammtisch. „Un was hadse gesachd?“
„Sofort kimmsde jedse unner däm Sofa raus, sonsd knallds!“
Erstmals 1978 veröffentlichte Gerhard Branstner im Buchverlag Der Morgen Berlin „Plebejade oder die wundersamen Verrichtungen eines Riesen. Eine kreuz und quer wahrhaftige und ungelogen sehr frei in der Art des Francois Rabelais verfasste Historie“. Hier der Beginn des Anfangs dieser Riesengeschichte:
„Kindheit
- Kapitel
Worin ein Riese geboren und der Verfasser der Historie aus dem Fenster geworfen wird
„Und wenn es kein Junge wird“, rief König Prolius aus, „hau ich das ganze Königreich in Klump!“ Und er hieb mit der flachen Hand auf den Tisch, dass die Klöße an die Decke, das Geschirr aber auf die Dielen und ich selbst aus dem Fenster flog.
Dem Himmel sei Dank landete ich auf einem Holunderstrauch, der mich, arg zerschunden zwar, aber ansonsten ohne ernstliche Verletzungen, zu Boden fallen ließ. Ich rappelte mich schnell auf, heißt es doch: Wer niederfällt und liegenbleibt, auf dem man schnell die Füß’ abreibt. Also stand ich geschwind wieder auf, hob meine Faust drohend gegen das Fenster, welches mir so weitherzig die Passage gewährt hatte, und stelle mich jetzt dem geneigten Leser vor.
König Prolius, dessen Hofstaat ich angehöre, heißt mich Gänsekiel und stellte mich vor kurzem an, das Leben des so sehnlichst erwarteten Sohnes von seiner Geburt bis zu meinem Tode als getreuer Chronist aufzuschreiben. Bis zu meinem Tode, sage ich, denn da meine Herrschaften dem Geschlechte der Riesen angehören, steht außer Zweifel, dass mich der Gegenstand meiner Feder überleben wird. Aber noch ist nicht entschieden, ob die Königin Wabbeleia einen Sohn zur Welt bringen wird. Allerdings hat der König Prolius alles nur riesenmögliche getan, dass es ein Junge wird. Alle auffindbaren Weisen hat er an seinem Hofe versammelt und sie das Geschlecht des erwarteten Kindes vorhersagen lassen. Leider konnten diese Leute sich trotz langen und gebührlichen Nachdenkens nicht einigen und sagten zur Hälfte einen Sohn, zur anderen Hälfte aber keinen Sohn voraus. Darüber geriet der König in großen Zorn und jagte die Neinsager unter den Weissagern davon. Dadurch haben sich die Aussichten auf einen Sohn erheblich gebessert.
Jedoch will ich den Leser nicht unvorsichtigerweise auf diesen Fall festlegen. Es kann durchaus geschehen, dass er nicht viel mehr als die ihm bis jetzt vor Augen gekommenen Zeilen in die Hand erhält, für den Fall nämlich, dass es eine Tochter wird, für deren Lebensweg ich keinen Auftrag habe. Und ohne Auftrag bin ich nicht geneigt, ein Lebenswerk zu schreiben. Wollen also auch wir mit dem König Prolius auf einen Jungen hoffen, denn es würde mir wirklich sauer ankommen, am Ende dieses Kapitels sagen zu müssen: Es tut mir leid, lieber Leser, das Buch kann nicht geschrieben werden, es ist ein Mädchen geworden, leb wohl!
Doch wollen wir vorderhand alle Befürchtungen beiseite stellen und den Gang der Dinge weiter verfolgen. Ich war am Holunderbusch stehengeblieben und schaute zu dem Fenster empor, das den Rahmen bildete, aus dem ich so unsanft gefallen war. Um mich so schnell wie möglich wieder vor die Augen des Königs zu bringen, der in seiner Aufregung meinen Weggang sicherlich weder bemerkt haben noch gar seinen Handstreich als die Ursache desselben ahnen mochte und sich deshalb wohl über eine längere Abwesenheit meiner Person verwundern könnte. Auch wollte ich die Geburt meines Schützlings nicht verfehlen, denn Wabbeleia lag bereits in den Wehen, und der Weg in den Thronsaal, den ich eben verlassen hatte, benötigte bei den riesenhaften Ausmaßen des königlichen Schlosses wohl gegen drei Tage, auch wenn ich mich beeilte. Und eben war wieder das Wehgeschrei der Wabbeleia zu hören, das mir wie ein zur Eile mahnendes Trompetensignal in die Ohren schallte.
Ich war noch keine Stunde unterwegs, als ich auf einen Trupp Männer und Weiber stieß. Den guten Leuten war das über zehn Meilen hin hörbare Wehgeschrei der Wabbeleia zu Ohren gekommen, und sie strömten zum Schloss, um der Geburt des Königssohnes beizuwohnen. Die große Anteilnahme des einfachen Volkes an diesem Ereignis wird verständlich, wenn ich meinem Bericht darüber, dass der König um alles in der Welt einen Sohn haben will, hinzufüge, weshalb um alles in der Welt er einen Sohn haben will. Doch schrie die Wabbeleia eben jetzt wieder so fürchterlich, dass ich mitsamt dem erschrockenen Volke niedergeworfen wurde und mich erst wieder erheben muss, um erklären zu können, weshalb Prolius sich einen Sohn in den Kopf gesetzt hat. Das Geschlecht der Riesen war in diesem Reiche nämlich ganz im Aussterben begriffen. Außer dem König, seiner Frau Wabbeleia und dem auf dem Altenteil sitzenden Augulus, weshalb er sehr tückisch war, gab es weit und breit keine Riesen mehr. Alle übrigen Bewohner des Landes waren von gewöhnlicher Größe, wenn nicht sogar, wie es das Schicksal mir zugedacht hatte, noch kleiner. Womit ich bei unauffälliger, weil passender Gelegenheit endlich verraten habe, dass meine Wenigkeit von zwergenhaftem Wuchs ist. Wes Geistes Kind ich bin, steht auf einem anderen Blatte, nämlich auf dem, das der Leser vor sich hat, gleichgültig, welche Seite dieses Buches er aufschlägt.
Weil also das Riesengeschlecht am Ende war, musste sich das neugeborene Kind, wollte es zu seiner Zeit in die Ehe treten, notwendig außer Landes umsehen. Solches Unternehmen aber mit all seinen möglichen und unmöglichen Zufällen schickt sich nicht für ein weibliches Wesen, was erklärt, weshalb unser König auf ein männliches Kind hofft.“
Erstmals 1964 erschien im Eulenspiegel Verlag Berlin „Neulichkeiten. Geschichten mit und ohne Spaß“ von Gerhard Branstner: 40 Kurzgeschichten sollen Ursache für Spaß und Vergnügen sein. So erzählt der Autor beispielsweise vom frohen Umgang mit dem Tod, von Eulenspiegeleien, vom Konkurrenzkampf zweier Schneider, der das Dorf spaltet, von versuchter Auflehnung gegen LPG und Sozialismus und vielem anderen. Hier eine kleine Auswahl dieser Neulichkeiten:
„Humor hat,
wer gleich lacht
Von zwei Schneidermeistern, die wie Hund und Katze umeinander herumgingen, und wie sie sich vertragen lernten
In einem kleinen Ort in Thüringen lebten zwei Schneider. Sie waren die einzigen ihrer Zunft in dem kleinen Städtchen und gingen wie Hund und Katze umeinander herum, denn der eine konnte nicht anders als auf Kosten des anderen leben und umgekehrt. Jeder Kunde, der zum anderen ging, jeder Anzug, der am Fenster des einen vorbeigetragen und nicht von ihm geschneidert worden, vertiefte ihre Feindschaft, die sich endlich auch auf die Kunden selber übertrug. Noch auf dem Fußballplatz wurde die Feindschaft ausgetragen, denn die Spieler der Mannschaft des kleinen Städtchens waren untereinander in zwei Lager gespalten; ja, es galt als ausgemacht, dass während des Spiels der Ball nur in den Reihen des eigenen Lagers gespielt werden durfte. Gelang es trotz dieser Spielweise einmal, den Ball im Gehäuse des Gegners unterzubringen, so achteten die Zuschauer in ihrem Beifall streng darauf, aus welchem Lager der glückliche Schütze stammte. Und wehe dem, der in der Begeisterung die Hände für einen Spieler gerührt hatte, der zum anderen Schneider ging.
Nun geschah es aber eines Tages, dass das Städtchen aufwachte und sehen musste, dass die beiden Schneider nicht mehr Konkurrent und Feind, sondern ihre Werkstatt in Eintracht zusammengelegt und Mitglieder einer und derselben Produktionsgenossenschaft geworden waren. Von Natur aus witzig, waren sie der Feindschaft überdrüssig geworden und hatten nur auf eine gute Gelegenheit gewartet, sie endlich beizulegen. Nun hatten sie ihren Spaß daran, wie sich ihre dermals in zwei Lager getrennten Kunden wieder vertragen lernten, weil sie doch keinen Grund mehr für einen Hader hatten. Und auch die Fußballmannschaft spielte endlich besser und schaffte den Aufstieg in die nächsthöhere Spielklasse, so dass die Zuschauer in geeinter Begeisterung ihren Beifall zollen konnten. Was uns aber vor allem an der Geschichte zu denken geben sollte, ist, dass die beiden Schneider nach ihrem Eintritt in die Genossenschaft ein besseres Verhalten zueinander zeigten, ohne deshalb sogleich ihren Charakter geändert zu haben. Also müssen die Verhältnisse geändert werden, wenn uns das Verhalten der Menschen nicht gefällt.
Von einem Manne, der nicht vom Frühstückstisch aufstand, ohne seine Kaffeetasse zu zerschmettern
Da las einer eines Tages (es war einer von denen, die es auch heute noch geben soll, und es war ein Tag wie jeder andere), da las dieser Mann eines Tages beim Frühstück in der Zeitung, dass vor einigen hundert und zweiundvierzig Jahren ein Despot des alten Orients nicht öfter denn einmal mit einer Frau geschlafen habe, da er es verschmähte, so hieß es weiter in dem Blatte, ein zweites Mal aus demselben Gefäß zu trinken. Der Mann warf über den Rand der Zeitung einen Blick auf seine Frau, die am Herd stand und dem Baby einen süßen Brei kochte. Bittere Verachtung in der Brust, schmetterte er das Blatt auf den Tisch und sprang auf. Der Küchenstuhl fiel um. Die Frau blickte über die Schulter, wandte sich aber schnell dem Herd wieder zu, da der Brei überzukochen drohte. Sie rührte heftig. Den letzten Rest seiner Verachtung zusammenfassend, griff der Mann die Kaffeetasse beim Henkel und zerschmetterte sie auf dem Boden. Die Frau fuhr herum. Im gleichen Augenblick kochte der Brei über, die Frau sprang zum Herd, und der Mann sammelte die Scherben auf. Aber ein Gedanke hatte sich in seinem Gehirn festgehakt, eine Idee seines Aufbegehrens war geblieben, und seitdem feuerte er stets, nachdem er sorgsam den letzten Schluck ihres Inhalts ausgetrunken hatte, die Kaffeetasse mit großer Geste auf den Boden, wo sie in tausend Scherben zersprang (wenn schon nicht die Frau, so war es doch wenigstens die Tasse, die er nicht zweimal gebrauchen wollte). Stets auch räusperte er sich danach ein wenig verlegen, griff nach seiner Aktenmappe und schritt aus dem Haus. Die Tassen sparte er sich von seinem Taschengeld ab, und sie waren von der billigsten Sorte.
Die Frau gewöhnte sich an das sonderbare Verhalten ihres Gatten, ja es schien ihr bald die beste Eigenschaft an ihm zu sein, ahnte sie doch, dass es aufs innigste mit seiner ehelichen Treue verknüpft war.
Wie Onkel Fritz den Teufel in der Flasche erschlug, und wie es dazu kam
Als Onkel Fritz noch ein junger Bursche und voller Tatenlust war (heute hat er einen Bauch und trägt eine Nickelbrille), hatte er sich sein Bett auf dem Dachboden aufgestellt und schlief nicht anders als mit einer selbstgefertigten Holzkeule unter der Bettstatt. Es hätte doch leicht sein können, dass ein nächtlicher Besuch kam und ihm nach dem Leben trachtete. Man schläft ja schließlich nicht für nichts und wieder nichts auf dem Dachboden. Auf diese Weise hatte der Jüngling schon manche Nacht mutig hinter sich gebracht; und es ist verständlich, dass ihm diese Art zu schlafen jeden Morgen mit einem Gefühl der Kühnheit die Treppe nach unten steigen ließ, womit der Tag für ihn stets einen guten Anfang hatte.
Eines Nachts jedoch schien sich außerhalb seiner Fantasie etwas abzuspielen. Er wurde durch ein seltsames Geräusch geweckt, ein Poltern und Rollen, als wenn sieben Teufel ihr Unwesen trieben. Onkel Fritz (der ja damals noch nicht Onkel war) sprang aus dem Bett, griff nach der Keule und starrte in die Finsternis. Ein Wesen, das dieses sonderbare Geräusch vollbrachte, war jedoch nicht zu sehen. Da kam das Poltern direkt auf ihn zu. Onkel Fritz strengte seine Augen an, konnte jedoch auch jetzt nichts ausmachen. Ihm wurde unheimlich zumute. Jetzt war das Rollen unmittelbar vor ihm. Er sprang mit einem Satz ins Bett und riss die Decke über den Kopf. Da knallte es auch schon an seinen Bettpfosten. Onkel Fritz hielt unter der Decke die Keule parat. Dann warf er mit einem Ruck die Decke ab und hieb neben dem Bettpfosten auf den Boden, gewärtig, den Teufel oder wen auch auf den Fuß zu treffen. Statt dessen hörte er ein Splittern, und ein heller Pfiff drang ihm durch Mark und Bein. Dann war völlige Stille. Nachdem eine geraume Zeit verstrichen war, wagte sich Onkel Fritz aus dem Bett. Beim ersten Tritt auf den Boden spürte er einen fürchterlichen Stich in den Fuß. Er sprang verzweifelt nach der Treppe. Beim dritten oder vierten Schritt durchfuhr ihn wieder der peinigende Schmerz. Endlich hatte er die Treppe erreicht und stürzte hinab. Nach einer ganzen Weile kam er mit verbundenen Füßen wieder nach oben, eine Kerze in der linken, die Keule in der rechten Hand. Auf der Treppe fand er Blutspuren, die seine verletzten Füße hinterlassen hatten. Er stieg vorsichtig über umherliegende Glassplitter. Hatte er den Teufel in der Flasche erwischt? Doch da lag bloß eine Maus, allerdings tödlich getroffen. Nur ihr linkes Hinterbeinchen zuckte noch.
Sie war in die Flasche geraten und hatte bei den Versuchen, wieder herauszukommen, die Flasche über den Boden gerollt. Onkel Fritz, der damals ja noch nicht Onkel war (heute trägt er einen Bauch und hat eine Brille auf der Nase), Onkel Fritz fühlte sich erst jetzt wirklich verletzt. Er seufzte tief und legte sich für den Rest der Nacht ins Bett.
An dieser Geschichte sieht man, wie einer auch in unseren Breitengraden abenteuerliche Gefahren bestehen kann, wenn er nur auf dem Dachboden schläft und eine Keule unters Bett legt.
Ein Traum ohne Ende, und weshalb es fehlte
Während einer kleinen Gesellschaft, die sich trotz der Benutzung von Alkohol nicht zu unterhalten wusste, kam einer auf die Idee, jeder solle seinen schönsten Traum erzählen. Da keiner die Verlegenheit eingestehen wollte, in die er durch diese Aufforderung, wollte er ihr nachkommen, gestürzt wurde, erklärten sich alle bereit. Jedoch schien es, dass die Leute heutzutage nichts Interessantes mehr träumen. Bald fingen die ersten an, die Hand vor den Mund zu halten, wobei sie die Augen krampfhaft aufrissen und die Nasenflügel zusammenzogen. In diesem Augenblick, keiner hatte noch daran geglaubt, begann einer – es war der Schüchternste unter ihnen – einen aufregenden Traum zu erzählen. Er hatte geträumt, er sei des Nachts in ein Juweliergeschäft eingebrochen, um wertvolle Diamanten zu stehlen. Nachdem er sich an die Finsternis gewöhnt hatte, tastete er sich um den Ladentisch herum, um in den hinteren Raum zu gelangen, wo die wertvollen Stücke verschlossen ruhten. Er hatte jedoch kaum die schmale Tür geöffnet, als er im Scheine des Mondes, der einen breiten Strahl in das Zimmer warf, eine bleiche Frau stehen sah. Er war wie erstarrt und vermochte nicht, sich von der Stelle zu rühren. Die Frau hatte ihre großen Augen auf ihn gerichtet, Augen, die wie die Diamanten strahlten, die er hatte stehlen wollen. Daran erkannte er, dass es die Frau des Juweliers war, und statt der Diamanten führte er sie davon. Kaum war er jedoch aus dem Haus, als er unheimliche Schritte hinter sich hörte. Er fasste die Frau an der Hand und begann zu laufen. Die Schritte kamen jedoch immer näher. Und da spürte er auch schon einen furchtbaren Griff im Nacken. Bei diesen Worten ließ sich der Erzähler in den Stuhl zurückfallen, während seine Zuhörer in ihrer gespannten Haltung verharrten.
„Und weiter?“, drängte einer ungeduldig.
„Da träumte mir plötzlich, ich müsse ein Pfund Salz essen, und davon wurde ich wach. Ich mag Salz nicht“, entschuldigte sich der Erzähler, „in solchen Mengen.“
Der ungezogene Dichter – und wie er artig wurde
Ein Dichter, ich weiß nicht, ob er jung oder alt, ein unbekannter oder bekannter, ein guter oder ein schlechter war, dieser Dichter hatte die Angewohnheit, jede Kritik an seinen Gedichten mit einem Temperamentsausbruch zu beantworten und bei dieser Gelegenheit seine völlige Unabhängigkeit von allem und jedem zu behaupten. Der Redakteur der Zeitschrift, in welcher der Dichter seine Strophen drucken ließ, bevor er sie gesammelt ein zweites Mal verkaufte, hatte sich auf die Eigenart dieses Mannes eingestellt, so dass sich nach der Vorlage jedes Gedichts stets das Folgende abspielte: Der Dichter kam wie von ungefähr in die Redaktionsstube und fragte, ob sein nun doch schon vor einiger Zeit eingesandtes Gedicht nicht bald veröffentlicht werde. Der Redakteur versicherte dies mit Eifer, bat jedoch, zuvor noch diese und jene Änderung anzubringen. Daraufhin schrie der Dichter wie ein getroffenes Wild auf. Das sei ganz unmöglich. Diese Änderung würde alles verderben. Auch nur die geringste, und sei es auch die allergeringste Abweichung von dem Text, der ja der unmittelbare Abglanz der originalen Eingebung sei, würde gerade das zerstören, was man als die Seele des Gedichts bezeichnen könne. Der Redakteur öffnete den Mund, um seinen Einwand zu begründen. Bevor er dazu kam, sprang der Dichter auf und lief aus dem Zimmer, nicht ohne noch zu bemerken, dass er wohl darauf verzichten könne, sein Gedicht in dieser Zeitschrift gedruckt zu sehen. Am Ende des langen Korridors verhielt der Dichter seinen stampfenden Schritt und erwartete den nacheilenden Redakteur. Dieser, die Spielregel einhaltend, hatte ihn auch tatsächlich bald eingeholt und unter ehrfurchtsvollem Warten gebeten, doch Platz zu behalten. Worauf der Dichter sich schließlich mit den Änderungen einverstanden erklärte, nicht ohne zu bemerken, dass er nur in Anbetracht des ohne das Gedicht aufgeschmissenen Redakteurs in die Redaktionsstube sich hätte zurückbitten lassen. Danach schüttelten sich die beiden die Hände, und der Dichter verließ selbstbewusst den Ort seiner Niederlage. Der Redakteur lächelte weise und gab das nach seinen Vorstellungen geänderte Gedicht zum Druck.
Nun wurde unser Redakteur jedoch einmal von einem in diesen Dingen weniger erfahrenen Mann vertreten, der, als der Dichter ob der Änderungswünsche aufschreiend aus dem Zimmer lief, erschrocken aufschaute und in Unkenntnis des Spiels nicht daran dachte, dem anderen nachzulaufen. Als er aber gegen Abend die Redaktionsstube verließ, um nach Hause zu gehen, stieß er auf unseren Dichter, der am Ende des langen Korridors noch immer auf den nacheilenden Redakteur wartete.
Es heißt, dass seitdem die Verständigung ohne Zuhilfenahme des Korridors vor sich gegangen sein soll.“
Erstmals 1977 veröffentlichte Gerhard Branstner im damaligen VEB Hinstorff Verlag Rostock „Kantine. Eine Disputation in fünf Paradoxa“: Ein Stück mit fünf Personen und einer großen Frage. Und so geht das Schauspiel los:
„KANTINE
Eine Disputation in fünf Paradoxa
Ein optimistischer Gast namens Toredid, ein skeptischer Theaterkritiker namens Pirol, der gutgläubige Schauspieler Hermann, der Gelegenheitsklavierspieler Alfons und die Kantinenkellnerin Liesbeth disputieren die Frage, ob große Kunst in unserer Zeit möglich ist, und überprüfen dabei auch vergangene und künftige Zeiten.
Alfons spielt eine Fantasiemischung auf dem Klavier. Sobald der Vorhang sich gänzlich geöffnet hat, wendet Alfons sich um, bohrt sich in den Zähnen und blickt auf Pirol. Der sitzt allein an seinem Tisch und starrt in den vor ihm stehenden Kaffee. Liesbeth lehnt gähnend an der Theke und hascht ohne Ehrgeiz nach einer vor ihrer Nase umherschwirrenden Fliege. Gedämpfte Musik klingt auf.
Liesbeth: Die Vorstellung beginnt.
Pirol: Ich kann es nicht verhindern.
Liesbeth stellt den Bühnenlautsprecher ein. Musik schwillt an, und Beifall klingt auf. Liesbeth will etwas sagen, gibt es aber mit Blick auf Pirol auf, stellt den Lautsprecher ab. Alfons spielt wieder Klavier. Toredid tritt ein, sieht sich um, woran man erkennt, dass er ortsfremd ist. Liesbeth geniert sich wegen ihrer legeren Haltung und stellt sich adrett hin; man sieht ihr an, dass der Gast sie irritiert. Alfons spielt noch ein paar Takte, hört wie hypnotisiert auf und wendet sich langsam um. Allein Pirol achtet nicht auf den Fremden, stiert weiter in seinen Kaffee. Toredid hat etwas Anonymes, Zeitloses an sich: der altmodische Hut, Anzug und Stockschirm kontrastieren auf seltsame Art mit seinem jugendlichen Aussehen und seinem freien Benehmen. Er tritt an Pirols Tisch.
Toredid: Bitte, ist dieser Stuhl frei?
Pirol: blickt erstaunt auf. Nicht nur dieser. Weist auf die übrigen Tische, die alle unbesetzt sind.
Toredid blickt zu Liesbeth. Sie kommt sogleich heran. Toredid reicht ihr Hut und Schirm. Sie hatte eine Bestellung erwartet, nimmt in ihrer Verblüffung jedoch Hut und Schirm und bringt beides zum Kleiderständer.
Toredid verneigt sich leicht gegen Pirol. Toredid.
Pirol: Pirol.
Toredid: Ich weiß. Setzt sich.
Pirol: Sie kennen mich?
Alfons: der bereits einiges getrunken hat Wer kennt Pirol nicht? Den unfehlbaren Theaterkritiker! Und weshalb ist er unfehlbar? Weil er seine Kritik immer erst nach der fünfzigsten Vorstellung eines Stückes schreibt.
Toredid: zu Liesbeth Einen Kaffee bitte.
Pirol: Ein Stück, das fünfzig Vorstellungen erreicht, muss entweder sehr gut oder sehr schlecht sein. Und da es gute Stücke nicht gibt, weiß ich bei einem, das die fünfzigste Vorstellung erlebt, genau, woran ich mit ihm bin.
Toredid: Heute wird ein Stück das fünfzigste Mal gegeben. Beifall ist zu hören. Die Vorstellung hat bereits begonnen.
Pirol: Sie möchten wissen, weshalb ich in der Kantine sitze statt im Parkett?
Toredid: Ich nehme an, Sie sind sich diesmal doch nicht ganz sicher, ob es ein schlechtes Stück ist, das die fünfzigste Vorstellung erreicht hat. Und um einem Fehlurteil zu entgehen, sehen Sie es sich gar nicht erst an.
Alfons: Das hat gesessen. Lacht schadenfroh
Pirol: steht drohend auf Wie war Ihr Name?
Toredid: ungerührt freundlich Toredid.
Pirol: Nie gehört. Setzt sich wieder. Einen seltenen Namen soll man nicht ausrotten.
Toredid: Das ist weltmännisch gedacht.
Hermann kommt in voller Maske herein.
Hermann: in fröhlicher Wut Ein Miststück ist das! Ein Scheißstück! Ahmd, Liesbeth!
Liesbeth: Ahmd, Hermann!
Hermann setzt sich ohne Umstände zu Pirol und Toredid an den Tisch.
Hermann: zu Liesbeth Kurz und klar!
Liesbeth bringt einen Klaren.
Hermann: Ich möchte bloß wissen, was so ein Autor sich dabei denkt! Zwei Sätze am Anfang und zwei Sätze am Schluss, und die zwei Stunden dazwischen kann ich in der Kantine hocken; das soll nun eine Rolle sein! Zwei Stunden Kantine, und das fünfzigmal. Macht genau hundert Stunden. Pro Stunde zwei Klare, macht zweihundert Klare. Trinkt das Glas aus, stülpt es auf den Zeigefinger und reckt ihn hoch. Das geht ins Geld. Liesbeth bringt ein gefülltes Glas, nimmt das geleerte vom Finger, Hermann schleckt ihn ab. Aber daran denkt so ein Autor nicht. Und das Publikum, das denkt auch nicht an so was. Sitzt da unten und lacht blöd. Zu Pirol. Was sagst du denn dazu, du bist doch Kritiker?
Pirol: Was soll ich dazu sagen?
Hermann: Dass ich recht habe, sollst du sagen! Ums Maul sollst du mir gehen, wozu bist du Kritiker! Also, was sagst du?!
Pirol: Nichts.
Hermann: zu Toredid Da haben Sie’s! Entweder gehen sie einem ums Maul, oder sie halten, wenn sie nicht wissen, ob’s das richtige Maul ist, die Klappe. Das sind mir Kritiker! Wer sind Sie denn überhaupt?
Toredid: Toredid.
Hermann: Nie gehört. Erhebt sich wie vordem Pirol. Nichts für ungut, muss mal telefonieren. Ab. Kunstpause. Alfons wendet sich zum Klavier und spielt ein paar rauschende Takte, hört abrupt wieder auf. Kunstpause.
Pirol: Es kann kein gutes Stück sein.
Toredid: Aber sicher sind Sie sich nicht.
Pirol: Wir leben in einer Zeit, in der nur schlechte Stücke geschrieben werden können. Nicht, dass unsere Zeit an sich schlecht wäre. Wer wollte das behaupten? Aber es ist eine schlechte Zeit für gute Stücke.
Toredid: Ein interessanter Gedanke.
Pirol: Sie teilen meine Meinung nicht?
Toredid: Ich bin genau der entgegengesetzten. Keine Zeit war so gut für gute Theaterstücke wie unsere.
Pirol: Eine kühne Behauptung.
Toredid: Eine andere aufzustellen würde sich nicht lohnen.
Pirol: Und der Beweis?
Toredid: Er wird nicht kurz sein, aber heiter.
Pirol: Da lache ich schon jetzt.
Toredid: Tun Sie es, solange Ihnen noch danach zumute ist.
Pirol: Gehn wir in den Ring. Sie für die Behauptung, dass heutzutage große Kunst möglich ist, und ich für die gegenteilige.
Toredid: Und in welcher Runde wünschen Sie, k. o. zu
Pirol: Wer gewonnen hat, entscheiden nicht Sie.
Alfons: Wir brauchen einen Schiedsrichter.
Toredid: Das Publikum soll Richter sein.
Pirol: Einverstanden.
Alfons: deutet auf dem Klavier einen Tusch an Das Spiel kann beginnen.
Pirol: Was ist das Charakteristikum unserer Zeit? Die Diskussion. Es wird viel diskutiert, aber wenig gestritten. Wir haben zu wenig strittige Punkte und zu viel unstrittige. Die Kunst, jedenfalls die dramatische, lebt aber vom Streit.
Toredid: Das ist richtig. Und das Gegenteil ist auch richtig-
Pirol: Auch? Hätte sich beinahe am „auch“ verschluckt
Toredid: amüsiert Auch.
Pirol: Das ist ein Paradoxon.
Toredid: Ganz recht.
Toredid steht auf, nimmt den Schirmstock, spickt ihn nahe der Rampe in den Boden, zieht den Stiel wie ein Mikrofonstativ hoch, klappt den Griff wie ein Notenpult auseinander und legt ein Manuskript auf das so entstandene Katheder. Zieht das Lesezeichen, ein Kinnbärtchen, aus dem Manuskript, klebt es sich an und setzt einen Kneifer auf. Jetzt nimmt er in professoraler Pose das Publikum zum Auditorium. Alfons spielt einen Tusch. Toredid hält eine Kurzvorlesung. Toredid in der Mimik, Gestik und Sprechweise des akademisch ernsten, etwas komischen, liebenswerten, manchmal in Verzückung geratenden und das Auditorium vergessenden Professors.“
Fragt man sich am Ende des kompletten Stücks, ob man das auch wirklich (schau)spielen kann. Die Kritiker, die Ende der 1970er Jahre die Premiere im Deutschen Theater gesehen hatten, waren da recht skeptisch. Aber machen Sie sich doch einfach selbst ein Bild und lassen Sie die „Kantine“ und deren Darsteller in Ihrem Kopf agieren – Kopfkino gewissermaßen oder besser gesagt: Kopftheater …
Viel Vergnügen beim Spielen und Lesen, weiter einen schönen Herbst und bleiben auch Sie weiter vor allem schön gesund und munter (und heiter) und bis demnächst.
Ach, und haben Sie schon ein bisschen Sächsisch geübt? Wie heißt es doch gleich? LEIBZSCH natürlich …
Und hier noch ein kleiner Aussprache-Tipp vom Mitteldeutschen Rundfunk (MDR), der auch die sächsischen Gefilde bestrahlt: Viele Sachsen sind „Gonsonandenschinder“. Die wohl wichtigste Ausspracheregel lautet: „De Weeschn besieschn de Hardn.“ Heißt: Die weichen Konsonanten besiegen die harten. Aus K wird G, aus P wird B und aus T wird ein weiches D. Und: Vom Sachsen ist selten ein „ch“ zu hören. Er sagt meistens „sch“. „De Weeschn besieschn de Hardn.“ Gabiert?
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