„Die aktuellen tarifvertraglichen Ausbildungsvergütungen werden in der Regel im Rahmen der allgemeinen Tarifverhandlungen verhandelt“, sagt der Leiter des WSI-Tarifarchivs, Prof. Dr. Thorsten Schulten. „Damit hängen sie auch mit der Verhandlungsposition der jeweiligen Gewerkschaft zusammen, die von Branche zu Branche sehr unterschiedlich ist. Dementsprechend existieren bei der Höhe der Ausbildungsvergütungen erhebliche Unterschiede“, so Schulten. „In Branchen ohne Tarifverträge haben Auszubildende lediglich Anspruch auf die gesetzliche Mindestausbildungsvergütung von 585 Euro im ersten Ausbildungsjahr. Auch deshalb wäre es wichtig, die Tarifbindung allgemein zu stärken“
Die Unterschiede bei den tarifvertraglichen Ausbildungsvergütungen zeigen sich bereits im ersten Ausbildungsjahr: In sieben der 20 untersuchten Tarifbranchen liegen die Vergütungen oberhalb von 1.000 Euro pro Monat. Hierzu gehören:
– das Versicherungsgewerbe mit bundeseinheitlich 1.070 Euro,
– der Öffentliche Dienst mit einer monatlichen Ausbildungsvergütung von 1.068 Euro (Bund und Gemeinden) bzw. 1.037 Euro (Länder, ohne Hessen),
– die chemische Industrie mit 1.056 Euro im Bezirk Nordrhein und 1.046 Euro im Bezirk Ost,
– die Metall- und Elektroindustrie mit 1.037 Euro in Baden-Württemberg und 1.007 Euro in Sachsen,
– das Bankgewerbe mit bundeseinheitlich 1.036 Euro sowie
– die Deutsche Bahn AG mit bundeseinheitlich 1.020 Euro,
– die Druckindustrie mit bundeseinheitlich 1.008 Euro.
Die höchste Ausbildungsvergütung unter den hier untersuchten Tarifbranchen wird aktuell im ersten Ausbildungsjahr mit 1.191 Euro (Öffentlicher Dienst: Bund und Gemeinden) bzw. 1.161 Euro (Öffentlicher Dienst: Länder) für die Pflegeberufe gezahlt, die mittlerweile innerhalb der Tarifverträge des öffentlichen Dienstes über gesonderte Regelungen verfügen. Damit haben die Tarifvertragsparteien auf den akuten Fachkräftemangel in diesem Bereich reagiert. Allerdings gelten diese Ausbildungsvergütungen verbindlich nur für öffentliche Einrichtungen, die unter den Tarifvertrag für den Öffentlichen Dienst (TVöD) oder den Tarifvertrag der Länder (TV-L) fallen. In privaten Pflegeeinrichtungen ohne Tarifvertrag kann die Ausbildungsvergütung hingegen auch deutlich geringer ausfallen.
In der Mitte befinden sich neun der untersuchten 20 Tarifbranchen mit monatlichen Ausbildungsvergütungen zwischen 800 und 1.000 Euro im ersten Jahr. Hierzu gehören die Textilindustrie, das Kfz-Handwerk, der Einzelhandel, das Bauhauptgewerbe, die Holz und Kunststoff verarbeitende Industrie, das private Verkehrsgewerbe, die Süßwarenindustrie, das sächsische Hotel- und Gaststättengewerbe und das Gebäudereinigungshandwerk.
Die niedrigsten Ausbildungsvergütungen mit Beträgen von zum Teil deutlich unter 800 Euro im Monat finden sich in vier Tarifbranchen: der Landwirtschaft, dem Backhandwerk, der Floristik und dem Friseurhandwerk. Das Schlusslicht bildet mit 585 Euro die ostdeutsche Floristik, die sich damit auf dem Niveau der aktuell gültigen gesetzlichen Mindestausbildungsvergütung bewegt. Im Thüringer Friseurhandwerk, wo der Tarifvertrag über die Ausbildungsvergütung 2020 auslief, kommt seither ebenfalls die gesetzliche Mindestausbildungsvergütung zur Anwendung.
Mit 795 Euro liegt auch die Ausbildungsvergütung im Bayrischen Hotel- und Gaststättengewerbe nach wie vor knapp unterhalb der 800-Euro Marke. Allerdings wird die Ausbildungsvergütung nach dem aktuellen Tarifvertrag zum 1. August 2022 in einem Schritt auf 1.000 Euro angehoben, was einer Steigerung von 26 Prozent entspricht. Die deutliche Anhebung der Ausbildungsvergütungen im Gastgewerbe, die in ähnlicher Weise auch in anderen Tarifregionen beobachtet werden kann, ist in erster Linie eine Reaktion auf den akuten Fachkräftemangel in der Branche.
In lediglich sieben der vom WSI untersuchten Tarifbranchen existieren bundesweit einheitliche Ausbildungsvergütungen, darunter das Backhandwerk, das Bankgewerbe, die Druckindustrie, die Deutsche Bahn AG, das Gebäudereinigungshandwerk, der Öffentliche Dienst und das Versicherungsgewerbe.
In 13 Tarifbranchen bestehen hingegen nach wie vor Unterschiede im Niveau der Ausbildungsvergütungen zwischen den west- und den ostdeutschen Tarifgebieten. In der chemischen Industrie und der Metall- und Elektroindustrie liegen die ostdeutschen Ausbildungsvergütungen mit Beträgen von 10 bzw. 30 Euro pro Monat dabei nur relativ geringfügig unterhalb des hier berücksichtigten westdeutschen Tarifbezirks, wobei auch innerhalb Westdeutschlands regionale Unterschiede existieren. Die größten Ost-West-Unterschiede existieren mit 165 bzw. 169 Euro im Monat in der Textilindustrie und im Kfz-Handwerk. In den übrigen Branchen variieren die Unterscheide zumeist zwischen 50 und 100 Euro. In zwei Branchen (der Landwirtschaft und der Süßwarenindustrie) liegen mittlerweile die ostdeutschen Ausbildungsvergütungen sogar leicht oberhalb des Westniveaus.
Die erheblichen Unterschiede zwischen den Branchen setzen sich auch im zweiten und dritten Ausbildungsjahr fort (siehe Tabelle 1 in der pdf-Version). So variieren die Ausbildungsvergütungen im zweiten Ausbildungsjahr zwischen der gesetzlichen Mindestausbildungsvergütung von 690 Euro, die im Thüringer Friseurhandwerk gezahlt wird, und 1.252 Euro für die Auszubildenden in der Pflege bei Bund und Gemeinden.
Im dritten Ausbildungsjahr liegen die Unterschiede zwischen 620 Euro (Mindestausbildungsvergütung) und 1.495 Euro (westdeutsches Bauhauptgewerbe). In insgesamt 13 Tarifbranchen verdienen die Auszubildenden ab dem dritten Jahr zum Teil deutlich mehr als 1.000 Euro. In weiteren drei Branchen wird dann zumindest in den westdeutschen Tarifbezirken die 1.000-Euro-Marke überschritten. In elf der hier ausgewerteten Branchen existiert darüber hinaus auch noch ein viertes Ausbildungsjahr. Die höchste Ausbildungsvergütung wird dann mit 1.580 Euro im Monat im westdeutschen Bauhauptgewerbe gezahlt.
„In einigen Branchen ist das Niveau der Ausbildungsvergütung nach wie vor sehr niedrig“, erläutert Schulten. „Vor dem Hintergrund der hohen Preissteigerungsraten haben es derzeit viele Auszubildende besonders schwer, mit ihrem Einkommen über die Runden zu kommen, vor allem wenn sie aus einkommensschwachen Familien stammen. Deshalb müssen die Ausbildungsvergütungen gerade in den klassischen Niedriglohnbranchen weiter angehoben werden. Unterstützt werden könnte eine solche Aufwertung durch den zunehmenden Fachkräftemangel, dem ohne eine deutliche Verbesserung der Ausbildungssituation nicht beizukommen sein wird.“
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