Demenz: Angehörige benötigen ebenso Beratung wie Betroffene selbst

Ursprünglich zum Schutz der Menschen gedacht, entpuppen sich die Pandemie-bedingten Kontaktbeschränkungen und Isolationsmaßnahmen zunehmend als Quelle neuer Schwierigkeiten. „Jede Altersgruppe ist gesondert zu betrachten“, sagt die Ergotherapeutin Barbara Heise, DVE (Deutscher Verband Ergotherapie e.V.) Viele Senioren waren isoliert. In der Folge konnten sich beispielsweise kognitive Defizite unbemerkt entwickeln. Stellen Angehörige solche Anzeichen, die auf Demenz hinweisen können fest, ist Handeln sinnvoll. Maßgebliche Voraussetzung, um solch heikle Gespräche erfolgreich zu führen: Einen geeigneten Zeitpunkt finden, wenn der oder die Betroffene bereit ist und offen dafür, Hilfe zu akzeptieren.

Bewegung und der Austausch mit anderen: diese Aspekte sind gerade für ältere Menschen wichtig, um dem geistigen Abbau entgegenzuwirken. Doch eine solche Lebensweise haben Kontakt- und Ausgangssperren verhindert. „Aufeinander achten“, sagt die Ergotherapeutin Barbara Heise „ist jetzt angesagt“. Sie hat dabei alle im Blick, wünscht sich aber, dass auf die Älteren besonders genau geschaut wird, denn das Fachgebiet der Ergotherapeutin ist das Arbeiten mit Menschen mit Demenz und deren kognitiven Defiziten. Sie weiß durch Feedbacks von Angehörigen, in welch positive Bahnen sich das Leben von und mit Demenzerkrankten lenken lässt, wenn die Betroffenen selbst oder deren Umfeld bereits bei den ersten Anzeichen professionelle Hilfe, etwa von Ergotherapeuten, in Anspruch nehmen.

Demenz realisieren und handeln

„Ältere Menschen realisieren durchaus, wenn ihre geistigen Fähigkeiten nachlassen“, bestätigt die Ergotherapeutin Barbara Heise, was sich erahnen lässt. Eigene Gedanken oder die von Angehörigen wie: ‚lieber nicht wissen wollen, was da noch auf einen zukommt‘ oder ‚erst mal hinnehmen, andere sind auch vergesslich‘ sind menschlich. Besser ist jedoch, sich schnellstmöglich um professionelle Hilfe zu kümmern. Was viele nicht wissen: Ärzt:innen können ab dem Zeitpunkt der Diagnose ‚Demenz‘ direkt Ergotherapie zur besseren Alltagsbewältigung verordnen und somit den Grundstein für ein längeres Autonom-bleiben von Menschen mit Demenz und mehr Freiheit für deren Angehörige legen. „Schon die Anfänge entgehen dem achtsamen Beobachter nicht“, bittet die Ergotherapeutin Angehörige um ihre Mitarbeit. Ebenso wie die Betroffenen selbst. Nehmen sie die beginnenden Veränderungen an sich selbst wahr, kann es zu Depressionen oder anderen, sogar zu Kurzschlusshandlungen kommen. Die Ergotherapeutin empfiehlt, den Arzt oder die Ärztin zu konsultieren, denn sowohl auf den Verlauf von Depression als auch von Demenz ist durch eine entsprechende Intervention ein positiver Einfluss möglich.

Angehörige können Kooperationsbereitschaft bei Demenzerkrankten herbeiführen

Nicht jeder Betroffene kann oder will sich mit der Realität auseinandersetzen. Denjenigen aus dem Umfeld stellt sich daher oft die Frage: wie kann ich Eltern oder den beziehungsweise die Ehepartner:in zum Arztbesuch bewegen? „Einen geeigneten Zeitpunkt wählen“, verrät Heise. Dabei erachtet sie als wichtig, weder bestimmend, noch bevormundend zu sein und vor allem: das Thema dann – behutsam versteht sich – anzusprechen, wenn das Problem gerade für beide offensichtlich ist, möglicherweise Eltern oder Partner:in sogar selbst die eigene Vergesslichkeit feststellen. Idealerweise sollte der oder die Betroffene in dem Moment offen sein, unbedingt dem Gespräch folgen können und sich nicht überfordert fühlen. Diese Vorgehensweise ist typisch für Ergotherapeut:innen und geht mit den Grundsätzen des Konzeptes einher, mit dem Barbara Heise bevorzugt arbeitet: HoDT, Handlungsorientierte Diagnostik und Therapie. Dieses Konzept bietet konkrete Behandlungsansätze, um die Kompetenz und Handlungsfähigkeit in den Bereichen, die demjenigen mit Demenz etwas bedeuten, beizubehalten oder wieder herbeizuführen. HoDT orientiert sich in besonders zielführender Weise an den Wünschen und dem Können der Patient:innen und schafft eine gemeinsame Handlungs- und Kommunikationsebene für alle: Betroffene, Angehörige und Ergotherapeut:in.

Ergotherapeuten entlasten Energiehaushalt der an Demenz Erkrankten

„Es ist zeitgemäß, den Menschen in all seinen Facetten und Besonderheiten in den Mittelpunkt der Betrachtungen zu stellen und immer mehr Disziplinen werden mittlerweile hierfür aus- oder fortgebildet“, sagt Heise. Allerdings schafft das kaum eine Berufsgruppe so konsequent und bis in jedes Detail des Alltags heruntergebrochen wie Ergotherapeut:innen. Sie nennen es klientenzentriertes Arbeiten. Warum spielt das bei Menschen mit Demenz eine so große Rolle? Die erste, große Aufgabe bei der Arbeit mit Menschen mit Demenz ist, möglichst viel Energie für die Bewältigung des Alltags freizuschaufeln. Dazu überprüfen Ergotherapeut:innen zunächst: Wohin fließt die Energie? Wie oder wo belasten die Betroffenen ihren Energiehaushalt unnötig? Tragen sie ihre Brille und hat diese noch die richtige Stärke für die Nähe und/ oder die Ferne? Oder muss sich die Person Mühe geben, um richtig zu sehen? Beansprucht sie bereits hierfür ihre ganze Konzentration und Aufmerksamkeit, reduziert sich die verbleibende Energie. Es wird anstrengend, dem weiteren Geschehen im Außen zu folgen oder Dinge und andere Personen einfach zu erkennen. Ein anderes Beispiel ist schlechtes Hören. Auch dies verhindert, dass Ältere Gesagtes inhaltlich erfassen und mit Gesprächen Schritt halten können. Ähnlich verhält es sich mit der Einrichtung, Küche und Kleiderschrank. Ein Zuviel an Dingen und ständiges Suchen-müssen zieht unnötig Energie, die an anderer Stelle erforderlich ist, um den Alltag zu bewältigen, Aufgaben zu haben und sich gebraucht zu fühlen. Gemeinsam mit ihren Patient:innen und – leben sie mit weiteren Personen in einem Haushalt – deren Partner:in oder Angehörigen reduzieren Ergotherapeut:innen das Vorhandene auf das tatsächlich Benötigte. Das Verschlanken des Alltags bewirkt weitere Erleichterungen und einen besseren ‚Durchblick‘ für Menschen mit Demenz.

Ergotherapeuten finden gemeinsamen Nenner für Angehörige und von Demenz Betroffene

Um das übergeordnete Ziel, die Autonomie des Menschen mit Demenz bei möglichst vielen Alltagshandlungen zu erhalten, sind Routinen, Abläufe wichtig. Die Kunst ist auch hier, bei den Betroffenen den richtigen Zeitpunkt zum Üben abzupassen. Die Ergotherapeutin Heise veranschaulicht dieses am Beispiel des Toilettengangs – einer ständig wiederkehrenden Alltagshandlung, die jedoch für alle Beteiligten sehr belastend werden kann, wenn sie nicht mehr klappt. „Angehörige versuchen gerne, den Toilettengang dann mit Mama, Papa, Partner:in zu üben, wenn die tatsächlich ‚müssen‘. Die älteren Menschen haben dann jedoch ausschließlich Energie das zu tun, was der Körper gerade verlangt und können sich dabei nicht dem Üben widmen“, erklärt die Ergotherapeutin, wie es zu sich wiederholenden Konflikten kommt. Jeder sei in seinem eigenen Film unterwegs, meint sie und dass es gelte, jede(n) da abzuholen, wo er oder sie sich gerade befinde und zwar auf Augenhöhe. Sie hat Verständnis für Angehörige und Partner:innen, die oft in Zeitnot handeln oder anders strukturiert sind, nach einer Logik handeln, die von der des von Demenz Betroffenen abweicht. Nach dem Prinzip des HoDT orientieren Ergotherapeut:innen daher ihr Vorgehen daran, nach welcher persönlichen Logik und Strategie ein Mensch, insbesondere der mit einer Demenz, handelt. Ist dieses Muster entschlüsselt und das Verhalten des oder der Patient:in verstanden, ist die Grundlage geschaffen, um gemeinsam an Defiziten zu arbeiten beziehungsweise Kompensationsstrategien für mangelnde Fähigkeiten zu entwickeln. Oder Handlungen so zu vereinfachen, dass sie für den Menschen mit Demenz ohne Hilfe von anderen machbar sind.

Angehörige einbeziehen und unterstützen

Das A und O für das Gelingen der ergotherapeutischen Intervention bei Menschen mit Demenz ist neben der eigentlichen Arbeit mit den Betroffenen die Zusammenarbeit mit den Angehörigen. Um bei ihnen ein besseres Verstehen und Verständnis herbeizuführen, sieht das ergotherapeutische HoDT-Konzept Erklärungsmodelle wie zum Beispiel die sogenannten Rehafelder vor, mit deren Hilfe sich vieles erklären und sogar Konflikte lösen lassen. „Angehörigen oder Partner:innen gebührt der größte Respekt“, findet die Ergotherapeutin und wünscht sich, dass Angehörige über die bereits bestehenden Möglichkeiten hinaus ebenfalls mehr Hilfe erhalten. Dies ließe sich durch auf deren spezielle Bedürfnisse zugeschnittene Verordnungen für Ergotherapie oder gegebenenfalls andere Therapieformen ermöglichen. Mehr Unterstützung für diese Helfer ist wichtig, denn Angehörige sind nicht in der Pflege oder Betreuung von Menschen mit Demenz ausgebildet. Sie überfordern sich oftmals – aus Liebe, dem Anspruch, den Eltern oder anderen betroffenen Angehörigen etwas zurückgeben zu wollen und einer gewissen Verpflichtung. Ein Denkanspruch, der nur dann zum Erfolg führen kann, wenn die Angehörigen genügend Ausgleich haben oder bei Ergotherapeut:innen Kompensationsmöglichkeiten für eine bessere Balance erlernen.

Informationsmaterial zu den vielfältigen Themen der Ergotherapie gibt es bei den Ergotherapeut:innen vor Ort; Ergotherapeut:innen in Wohnortnähe auf der Homepage des Verbandes unter https://dve.info/service/therapeutensuche

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