„Diese Bilder bleiben im Kopf“

Sie haben nicht ahnen können, mit welcher Wucht die Wassermassen durch das enge Tal schießen würden, wie sie eine breite Schneise der Verwüstung hinterlassen würden. Nur eine Viertelstunde vorher hatte ein befreundetes Ehepaar noch angeboten, sie mitzunehmen – ins Haus oben auf dem Berg. „Nein, nicht nötig, wir kennen das doch, wir legen einen Sandsack vor die Tür“, so die Einschätzung des Ehepaares, das schon das ein oder andere Hochwasser an der Ahr erlebt hatte. Eine fatale Entscheidung. 15 Minuten später ist von ihrem Haus nichts mehr übrig, zu sehen ist nur noch die Bodenplatte.

Es sind Schilderungen wie diese, die die beiden Notfallseelsorger Sven Kießling und Hasso Hofmann von ihrem Einsatz im Überschwemmungsgebiet mitbringen und die sie im Gespräch mit Erstem Kreisbeigeordnetem Dr. Jens Mischak und dem Leiter des Amtes für Gefahrenabwehr, Dr. Sven Holland, wiedergeben. Schilderungen, die betroffen machen – auch mit dem Abstand von ein paar Tagen „habe ich ständig die Bilder im Kopf“, sagt Hasso Hofmann. Selbst der Geruch wirkt noch nach, dieses Gemisch aus getrocknetem Schlamm, aus Müll, aus Berzin, aus Heizöl.

Es ist Dienstag letzter Woche. Am Nachmittag kommt der Einsatzbefehl: Aus dem Vogelsbergkreis werden ein Betreuungszug des DRK und zwei Notfallseelsorger angefordert. Ihr Ziel ist das Ahrtal in Rheinland-Pfalz. Noch nicht einmal drei Stunden bleiben den Freiwilligen, um den Arbeitsplatz zu verlassen und zu packen. Nicht nur die persönlichen Dinge, die Ausrüstung, das DRK aus Atzenhain hat Lebensmittel für den Notfall eingelagert, verfügt auch über einen großen Brotbackautomaten. Alles muss mit ins Krisengebiet, beschreibt DRK-Mann Frank Schäffer den Aufbruch in Mücke. Zunächst treffen sich die rund 30 Einsatzkräfte an der Hessenhalle in Alsfeld, von dort geht es im Konvoi Richtung Nürburgring. „Wir sind im Dunklen angekommen und mussten erst einmal unsere Zelte aufbauen. An dem ersten Abend mussten wir uns außerdem um das Abendessen für die hessischen Einsatzkräfte kümmern“, erzählt Schäffer. Nachts um 2 Uhr ist der Einsatz beendet. Morgens um 4 Uhr ist die kurze Nachtruhe schon wieder vorbei. Frühstück machen für mehr als 200 Einsatzkräfte. Der Tag soll wieder lang werden: Am Nachmittag werden die Vogelsberger auf ein anderes Gelände verlegt. Am alten Standort müssen die Zelte ab-, am neuen wieder aufgebaut werden. Bis zum Samstag bleiben die DRK-Mitglieder im Einsatz. Nicht alles läuft glatt in diesen Tagen, manchmal müssen sie stundenlang warten, ehe es weitergeht. Frank Schäffer war schon öfter in solchen Einsätzen und kennt das nur zu gut. Es ist eben eine Ausnahmesituation.

Eine Ausnahmesituation erwartet auch die beiden Notfallseelsorger Sven Kießling und Hasso Hofmann, die die Menschen in einem Dorf, das besonders schlimm verwüstet wurde, betreuen. „Bis zu zehn Meter hoch war die Flutwelle, die durch das Tal ging“, sagt Hasso Hofmann. „150 Meter entlang der Ahr ist alles weg.“ Selbst in den fünften und sechsten Querstraßen am Hang stand das Wasser noch drei Meter hoch. Unten im Tal stehen keine Häuser mehr, manchmal ist das Fundament noch zu sehen, manchmal ist selbst das mitgerissen worden. „Vor Ort die Menschen haben uns gebraucht“, resümieren Hofmann und Kießling. Mal war es ein kurzes Gespräch, das half, mal ein sehr intensives. Man muss es sich vorstellen: „Die Menschen haben ihr gesamtes Hab und Gut verloren.“ Existenzen sind zerstört, sogar ein Prädikatsweingut „ist komplett weg“. Hinzu kommt, dass die gesamte Infrastruktur zerstört ist, kein Wasser, kein Strom, Straßen sind unpassierbar. „Und trotzdem strahlen die Menschen Mut und Zuversicht aus: Wir machen weiter“, bringen die beiden Notfallseelsorger als Botschaft mit in den Vogelsberg. Und sie berichten von der unglaublichen Welle der Hilfsbereitschaft. Helfer, die zwölf Stunden am Stück schippen und aufräumen – darunter sehr viele Jugendliche.

Schweres Gerät ist im Einsatz, Schutt wird zur Seite geschoben, Häuser werden ausgeräumt. Hasso Hofmann beobachtet eine alte Dame, die ungläubig vom Fenster im ersten Stock mitansehen muss, wie ihre Möbel nach draußen gebracht werden – an ihnen hängen Erinnerungen. Es ist die Truhe, die ihr einst die Tante vererbt hatte, die nun auf dem Sperrmüll landet. Es sind die Fotoalben, die durchnässt sind, es sind all die liebgewonnenen Erinnerungen an das Leben vorher, die zerstört sind. „Die gesamte Familiengeschichte ist weggeschwommen“, sagt Hasso Hofmann. Er nimmt sich der älteren Dame an, sucht das Gespräch mit ihr, nimmt sie mit in einen anderen Teil der Wohnung, einfach erst einmal weg vom Fenster.

Sven Kießling ist bei dem Ehepaar, das die Freunde noch gewarnt hatten – vergeblich. Als das Wasser stieg, hatten sie sogar noch einmal angerufen und eindringlich gebeten, zu ihnen hoch zu kommen. Der nächste Anruf lief bereits ins Leere. Der Mann konnte aus den Fluten gerettet werden, elf Stunden hatte er sich an einer Wurzel festgehalten. Seine Frau ist vermisst. Allein 17 Tote hat es in dem Ort gegeben, in dem die beiden Notfallseelsorger unterwegs sind. Dazu mehr als 20 Vermisste. Man geht davon aus, dass sie alle nicht mehr am Leben sind.

Viel zu tun also für die Notfallseelsorge, die sich auch am nächsten Morgen wieder auf den Weg zu dem Dorf macht. Beide haben das Ortsschild schon im Blick, da werden sie zurückbeordert. Der Auftrag hat sich geändert. Kießling und Hofmann sollen sich fortan um die Rettungskräfte kümmern, die aus dem Einsatz kommen. Dabei hätten die Leute im Dorf sie so sehr gebraucht…

Spenden

Zahlreiche Spendeninitiativen wurden nach der Flutkatastrophe gestartet, Lastwagen voller Sachspenden ins Katastrophengebiet gebracht. Die Folge: Die Lager auf dem Gelände des Nürburgringes sind voll, teilweise mussten Spender sogar abgewiesen werden. Wer die Menschen, die ihr gesamtes Hab und Gut verloren haben, unterstützen will, sollte daher Geld spenden, sagen die beiden Notfallseelsorger Sven Kießling und Hasso Hofmann. 

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