Was bedeutet es, sich die späten Stücke des großen Komponisten heute mit allen Sinnen anzueignen? Wie haben sich diese Empfindungen im Hier und Jetzt verändert? Wie verhalten sie sich zu unseren aktuellen Erfahrungen? Mit Opus 59, Nr. 3, dem Heiligen Dankgesang, dem Streichquartett Opus 135, der Großen Fuge sowie drei Adaptionen von Beethoven-Liedern haben sich Nico and the Navigators gemeinsam mit dem Kuss Quartett auf eine szenische und filmische Spurensuche begeben – von den historischen Quellen bis zur eigenen Gegenwart im Pandemiejahr 2020.
Die Arbeit, deren Titel „Force & Freedom“ das aus der Fuge entlehnte Motto „tantôt libre, tantôt recherchée“ („teils frei, teils streng“) variiert, wurde bereits kurz nach Beginn der Proben im Frühjahr vergangenen Jahres von einer radikalen Veränderung der Wirklichkeit überschattet: Durch die Corona-Pandemie musste nicht nur die Uraufführung bei den Schwetzinger SWR Festspielen für 2020 abgesagt werden, auch die gemeinsame Arbeit der Ensembles war auf absehbare Zeit nicht mehr möglich. Plötzlich wurden die Worte Zwang und Freiheit, die ursprünglich vor allem Koordinaten im Leben Beethovens umreißen sollten, zur unmittelbaren Erfahrung für alle Beteiligten. Wie sollten sich Tänzer*innen, Sänger*innen, Musiker*innen und Performer*innen künftig auf engem Raum begegnen? Wie würde sich das Publikum in eine solche Situation einfügen?
Dass sich für fast alle freien Künstler*innen im Laufe der Krise zudem jene wirtschaftlichen Zwänge verschärfen würden, unter denen einst auch Ludwig van Beethoven zu leiden hatte, war zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht absehbar. Zunächst und vor allem ging es um den kaum erträglichen Abstand, um die Isolation und Verhinderung einer auf Austausch angewiesenen Arbeit.
Der damals drohenden Resignation begegneten Nico and the Navigators zusammen mit dem Kuss Quartett bereits im vergangenen Frühjahr mit kleinen Nachrichten aus der gemeinsamen Gegenwart in der Vereinzelung. So entstand im digitalen Raum ein Krisen-Tagebuch (https://tagebuch.navigators.de). Dass diese virtuellen Begegnungen keinen vollwertigen Ersatz für den direkten künstlerischen Austausch bieten konnten, war allen Beteiligten natürlich schmerzlich bewusst. Umso erfreulicher ist es, dass an Stelle der im zweiten Lockdown ebenfalls abgesagten Berliner Premiere im radialsystem ein Film entstehen konnte. Beethovens Streichquartett Opus 135 liefert dabei ein Vorbild für Einsicht in die Notwendigkeit:
Im vierten Satz finden sich dort unter dem Titel „Der schwer gefasste Entschluss“ zwei Motti, die das Werk zwischen Auflehnung und Ergebung verorten: „Muss es sein? Es muss sein!“
Mit dem Erscheinen der finalen TV-Fassung von „Force & Freedom“ blicken Nico and the Navigators und das Kuss Quartett nun zurück auf eine emotionale, von Euphorie und Enttäuschung ebenso wie von kreativer Neubelebung durchdrungene Entstehungsgeschichte dieses langwierigen Projekts. Mit Unterbrechungen und in Abständen hat das Team fast drei Jahre lang immer wieder zusammengearbeitet. Diese Zeit war für alle Beteiligten massiv von den Auswirkungen der Pandemie geprägt – und sie ist noch immer nicht abgeschlossen: Die geplante Vorstellung bei den diesjährigen Schwetzinger SWR Festspielen im Mai musste erneut abgesagt werden. Ob das Projekt im November am Konzerthaus Dortmund endlich auf der Bühne zu erleben sein wird, bleibt abzuwarten.
„Auch in dieser Spätphase geht es noch um diese klassizistischen Gegensätze, die Beethoven sehr fein und unendlich ausdifferenziert hat. Und das nutzt jetzt dieses Theaterkollektiv, um das Hören mit szenischen Mitteln sichtbar zu machen … ein ganz vielschichtiges und vielseitig zu deutendes Bild, aber immer auf Beethoven bezogen und das ist schon stark!“ Deutschlandfunk Musikjournal, Matthias Nöther, 21.12.2020 „… eine filmisch-szenische Spurensuche, die in der Poesie minimalistischer Abstrahierung und Andeutung immer
wieder auch Zeichen pandemischer Gegenwart einbaut … ein allemal eloquenter Zugriff auf eine Musik, die von geradezu „heiligem“ Ernst überschattet ist, ohne ihr Gewalt anzutun … So intensiv hat man Beethovens späte Quartette jedenfalls lang nicht mehr gehört …“ nmz, Dirk Wieschollek, 24.12.2020
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