Die falsche Mutter, Gefahr für Stella im Rosa Land und ein Prozess gegen Dürers Schüler – Fünf E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis

Er muss damals vor nunmehr fast 500 Jahren großes Aufsehen erregt haben, der Prozess gegen drei Schüler des berühmten Malers Albrecht Dürer. Und viel stand für beide Seiten auf dem Spiel, wie aus der Lektüre des vierten der insgesamt fünf aktuellen Angebote hervorgeht, die wie immer eine Woche lang zum Sonderpreis im E-Book-Shop https://edition-digital.de/Specials/Preisaktion/ (Freitag, 28.05. 21 – Freitag, 04.06. 21) zu haben sind. Von diesem Prozess und seinen Folgen erzählt Renate Krüger in „Nürnberger Tand. Historia eines Narren, eines Stummen und dreier gottloser Maler“. Es geht um klare Gedanken und Mut zur Entscheidung. Und um göttliche Gerechtigkeit auch für den gemeinen Mann.

Dem Thema Adoption, Wahrheit und Unwahrheit widmet sich Ingrid Möller in „Eine Mutter im Himmel und eine auf der Erde“.

Zu einer Reise in das Rosa Land laden Aljonna und Klaus Möckel in dem fünften Band ihrer Zauberland-Reihe „Die falsche Fee“ ein.

Mit einem schwierigen Kapitel Regionalgeschichte setzt sich Barbara Kühl in „SPURENSUCHE. Über das ehemalige Quarantäne- und Wohnlager Losten und den Friedhof „Moidentiner Wald“. Geschichte und Geschichten“ auseinander.

Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Wieder greifen wir mit diesem Beitrag ein historisches Thema auf, das aber zugleich sehr aktuelle Bezüge aufweist. Es geht um mörderische militärische Pläne und um den mutigen Widerstand dagegen. Und natürlich drängt sich in diesem Zusammenhang auch die Frage nach heutigen Rüstungsexporten in sogenannte Krisenregionen auf: Schmutziges, blutiges Geld?

Erstmals 1968 erschien im Deutschen Militärverlag Berlin der Roman „Geheimsache Norsk Hydro“ von Hasso Grabner: Im Süden Norwegens, in den Bergen versteckt, befindet sich das Ammoniakwerk Norsk Hydro. Bedeutend ist das schwere Wasser, das dort im Verborgenen produziert wird. Die deutschen Besatzer übernehmen das Werk und forcieren die Produktion von schwerem Wasser, das für die geplante Atombombe benötigt wird. Zwei Deutsche und die norwegische Widerstandsgruppe drosseln die Produktion, verunreinigen das Deuteriumoxid und versuchen mit allen Mitteln, die Produktion von schwerem Wasser zu sabotieren. Da das nicht ausreicht, werden von einem britischen Flugzeug Offiziere der Norwegischen Armee über den Bergen abgesetzt, die die Anlage sprengen. Ihr Sprengstoff reicht nicht für die vollständige Zerstörung, so dass die Anlage trotz aller mutwilligen Verzögerung wieder aufgebaut wird. Die Widerstandsgruppe sucht gemeinsam mit den in den Bergen versteckten norwegischen Soldaten nach einer radikalen Lösung. Hier der Beginn dieses spannenden Buches:

1

Der Leutnant Tor Nielsen hastete auf der von den Telegrafenmasten vorgeschriebenen Spur den Steilhang zum Werk hinab. Er hatte es eilig. Ganz Norwegen hatte es in diesen Tagen eilig. Die einen eilten, das Land mit grobem Fuß zu zertreten, die anderen, es zu schützen, einige, es zu verraten, viele, es zu verlassen. Alles geschah hektisch, wütend, verzweifelt und mit wilder Betriebsamkeit.

Von der Seilbahnstation aus stürzte der Berg gefährlich steil hinab, aber der Leutnant war jung und berggewohnt, mit starken und flinken Beinen ausgestattet, wenn auch das Herz sie noch schneller gewünscht hätte, so schnell wie seinen Willen, der wie auf mächtigen Schwingen dahinbrauste. Noch sah der junge Mann nichts von dem großen Werk dort unten im Tal. Der siebenstöckige Fabrikklotz schmiegte sich dicht an die Steilwand, eine Ritterburg der neuen Zeit, unnahbar wie seine Herren Besitzer, schwer erkennbar wie die geheimen Ströme von Geld, die in ihre Tresore flossen, unangreifbar wie die verhüllte Macht, die sie im Lande ausübten. In dieser Stunde aber waren Unnahbarkeit, Tarnung und Sicherheit des Werkes Norsk Hydro aufgehoben. Vor seinen Toren standen Fremde. Sie führten den Adler auf ihren Fahnen, waren aber selbst wie Heuschrecken, ekelhaft und unaufhaltsam zugleich. Zwischen ihrem summenden Schwarm und dem großen Werk stand eine dünne Kette norwegischer Soldaten, mit dem Eid an den König gebunden, keinen Fußbreit des Landes den Heuschrecken zu überlassen, und mit dem heißen Willen, zu handeln, wie das eigene und das allgemeine Gesetz es befahl, aber ohne mehr als drei Dutzend Patronen in der Tasche und mit leeren Maschinengewehrgurten. Es mochte noch hingehen, ein Mann gegen zehn, aber zwei Fäuste waren gegen zehn Karabiner zu schwach. So würden die Deutschen das Werk spätestens morgen früh besetzen, wenn nicht ein Wunder geschah.

Ein Wunder! In hohem Bogen spie Nielsen verächtlich aus, eine ganze Serie von Wundern müsste geschehen, um die Hitlerleute zu hindern, am vierten Mai dieses verfluchten Jahres eintausendneunhundertundvierzig in Vemork einzuziehen. Vor zwei, drei Tagen hatten Briten und Franzosen ihre kurze Gastrolle in Norwegen durch eine wenig ehrenvolle Flucht in Andalsnes und Namsos beendet. Sie saßen jetzt wohl schon bei Steak und Whisky in Old England. Ein Wunder, wenn sie über Nacht zurückkämen. Irgendwo im Norden verbrachten König Haakon VII. und die Regierung Nygaardsvold ihre gewiss nicht sorgenfreien Tage. Ihre auf alles andere als auf einen Krieg vorbereitete Armee war zerschlagen, versprengt, gefangen genommen, war auf schwedisches Gebiet übergetreten oder hatte kapituliert. Ein Wunder, wenn sie über Nacht wieder auferstünde und die Truppen des Herrn von Falkenhorst aus dem Lande jagen könnte.

Wunder von solchen Größenordnungen geschehen nicht, morgen würden die Deutschen in Vemork sein, die zwölftausend Schuss Munition, über die seine Verteidiger noch verfügten, würden sie daran nicht hindern können.

Vemork, kleines Nest am schäumenden Maanfluss, morgen wird deine riesige Ammoniakelektrolyse für die neuen Herren arbeiten. Ammoniak, wer weiß, wie die deutschen Heuschrecken damit ihren Krieg füttern werden.

Nielsen war ein gutes Stück den Felsabhang hinuntergestiegen. Der imposante Betonklotz der Norsk Hydro lag jetzt vor seinen Augen. Den Kasten in die Luft zu jagen würde ein schweres Stück Arbeit bedeuten, wenn daran überhaupt gedacht werden durfte. Im Stab der 3. Division, der die Kompanie des Leutnants Nielsen angehörte, hatte man bis gestern nicht davon gesprochen. Heute bestand die Division wohl schon gar nicht mehr. Wer sich heute mit dem Gedanken trug, die Industrieanlage zu sprengen, musste sich seiner ausschließlichen Verantwortung dafür bewusst sein. Das war mehr, als ein kleiner Leutnant tragen konnte. Aus diesem Grunde befand sich auch Tor Nielsen auf dem beschwerlichen Weg hinab ins Werk. Er wollte mit den leitenden Herren sprechen, um wenigstens den Gedanken zur Debatte gestellt zu haben. Die Ingenieure würden von allein nicht daraufkommen; Ingenieure glauben noch eher an Wunder als Soldaten, so paradox das auch klingen mag. Übrigens hatten die Männer, die dort unten arbeiteten, ein Recht zu wissen, dass nun auch die norwegische Südfront aufgehört hatte zu bestehen und sie spätestens morgen das unsagbar blöde „Heil Hitler“ im Original zu hören Gelegenheit haben würden.

Leutnant Tor Nielsen atmete tief auf. Er war am Ziel, vor ihm lag der Eingang der Ammoniakelektrolyse Norsk Hydro.“ Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters:

Als Eigenproduktion von EDITION digital veröffentlichte Ingrid Möller erstmals 2015 das E-Book „Eine Mutter im Himmel und eine auf der Erde“: Gar nicht so selten kommt es vor, dass ein Kind plötzlich erfährt, dass seine vermeintlichen Eltern nicht die wirklichen Eltern sind, sondern dass das Kind adoptiert wurde. Erwachsene mögen glauben, es sei nicht so wichtig, es rechtzeitig zu sagen, für das Kind aber kann diese Nachricht zu einem ernsten Problem werden. Nichts scheint mehr zu stimmen. Wahrheit und Unwahrheit sind in Frage gestellt. Wenn zu den inneren Kämpfen dann auch noch widrige äußere Umstände kommen – wie in Kriegs- und Nachkriegszeiten – fühlt sich ein Kind doppelt allein gelassen. Eine solche Situation schildert dieses Buch für Kinder ab 12 Jahre und für Erwachse. Und gleich zu Beginn kommt ein schwerer Verdacht auf:

I. Das Spiel

Endlich ist Frühling, richtiger Frühling. Nicht dieses graue nieselige Schmuddelwetter. Wenn doch erst die Schule vorbei wäre! Doris – Bankreihe eins links vorn – schickt einen Zettel zu Ruth – mittlere Bankreihe hinten. Die Beförderung klappt. Wie immer. Doch unterwegs schulen neugierige Blicke unter die Knickstelle. Und so kommt es, dass nachmittags außer Doris und Ruth auch noch Beate und Irene zum Ballspielen an der verabredeten Stelle sind. In der kleinen Seitenstraße an dem einzigen Haus, das nach dieser Seite keine Fenster hat.

Gegen Beate ist nichts einzuwenden, aber gegen Irene eigentlich schon. Sie sucht oft Streit.

Sie fangen an mit Zweiball. Alle zählen mit. Doris ist dran. „Dreiundvierzig, vierundvierzig – Mist!“

Nur die blöde Taube ist schuld. Warum musste sie auch so plötzlich vom Dach fliegen und sie ablenken! Dabei hatte Doris es gerade heute Irene zeigen wollen. Bis hundert wollte sie kommen. Neulich war sie schon dicht dran. Ärgerlich wirft sie auch den zweiten Ball auf das harte Basaltpflaster.

Ruth hebt die Bälle auf. Das Spiel beginnt von Neuem. Auch sie kommt nur bis dreißig. Nun Beate. Sie patzt schon bei dreiundzwanzig. Sie hat keine Übung. Nun Irene. Wie gespreizt sie sich hinstellt! Als sei ihr der Sieg sicher. Eine Katze läuft auf sie zu, springt nach den Bällen. Bautz. Das zählt nicht. Noch einmal von vorn. Doris wünscht, sie möge ihre Vierundvierzig nicht überbieten. Es wird brenzlich: „zweiundvierzig, dreiundvierzig – aus!“ Knapp darunter ist auch verloren.

Irene kann ihre Wut kaum verbergen. Sie greift ihren größeren bunten Springeball und wirft ihn an der Hauswand hoch. „Mal sehn, wessen Ball am höchsten kommt!“ Sie wirft über das Ziel hinaus.

Der Ball trudelt an der Dachschräge herunter, springt über die Dachrinne herab.

„Das war ja wohl nichts.“

Doris wirft ihren handlichen grauen Ball. Er landet einen halben Meter unter der Dachrinne. Auch das haute nicht hin. Der Wettbewerb geht weiter. Das ausgemachte Ziel ist schwer zu erreichen. Immer hitziger wird das Spiel. Immer öfter trudelt ein Ball vom Dach herab. Doch auf einmal kommt ein Ball nicht zurück. Der graue von Doris.

Gespannt warten die Mädchen. Nichts rührt sich. Er muss in der Dachrinne liegen. So ein Pech aber auch! Gerade auf diesen Ball kann sie am wenigsten verzichten. Keiner springt so hoch wie er. Die Aufregung steigt.

„Spielt weiter! Ich komm gleich wieder.“ Doris rennt nach Haus. Ohne Umweg die Ladenstufen hoch. Die Mutter bedient eine Kundin. Die Kundin kann sich schwer entscheiden, welches Parfüm sie möchte. Doris kennt das. Sie beißt sich auf die Lippe, zu gern würde sie dazwischenreden, aber das darf sie ja nicht. Warten also. Bis die Kundin aus der Tür ist.

Dann sieht die Mutter gleich, dass was nicht stimmt. „Nanu Kind, was ist denn los?“

Doris beichtet ihr Missgeschick. Eine Träne rinnt. Sie beteuert, dass sie nie und nimmer auf diesen Ball verzichten kann und sieht die Mutter mit bettelnder Leidensmiene an.

„Na, so schön war der Ball doch gar nicht!“

Doris lässt sich nicht beruhigen. „Keiner springt so gut. Er würde mir ganz schrecklich fehlen.“ Zur Bekräftigung wieder eine Träne. „Na gut“, sagt die Mutter, „geh erst mal weiter spielen. Papa kann ich jetzt nicht stören, da sind zwei Buchprüfer vom Finanzamt, aber dann wird er schon Rat wissen. Ich schick ihn hin, wenn die Herren weg sind.“

Doris läuft zurück. Tränenlos jetzt. „Es kommt in Ordnung“, sagt sie kurz, „ihr werdet schon sehen.“

„Wie denn?“, fragt Irene. „Hast du vielleicht einen Riesen an der Hand, der eben mal in die Dachrinne reinlangt und den Ball wieder rausholt? – Da bin ich aber mächtig gespannt.“

Auch Ruth und Beate sehen sie ungläubig an. Doris tut geheimnisvoll. Eigentlich weiß sie ja selbst nicht, wie das klappen soll. Doch auf ihre Mutter ist Verlass. Was die verspricht, darauf kann man Gift nehmen. Hundertprozentig.

Sie spielen weiter. Wer gewinnt, ist eigentlich gar nicht mehr so wichtig. Heimlich warten sie alle auf das Wunder, das da geschehen soll. Und dann – etwa eine halbe Stunde später – kommt das Wunder in Form eines Feuerwehrautos. Doris atmet auf. Ja natürlich, daran hatte ihre Mutter gedacht. "Papa!", ruft sie begeistert. Der aber hat schon die Feuerwehrleiter ausgezogen und klettert hinauf.

Leute bleiben stehen. Was ist denn hier los? Man sieht doch nirgends Rauch. Auch keine Flammen. Sie wundern sich, verfolgen das Schauspiel.

Jetzt ist der Feuerwehrmann ganz oben, greift in die Dachrinne und – die Spannung steigt – er wirft einen Ball herunter. Einen Ball? Einen ganz gewöhnlichen Ball?

Enttäuschtes bis empörtes Murmeln geht durch die Reihen der Gaffer. „So’n Theater um einen lächerlichen Ball! Zzzt, dass ich nicht lache!“ Die Leute gehen ihrer Wege, verärgert, dass sie sich aufhalten ließen und dass überhaupt nichts los war, über das sich zu reden lohnt. Wie kann man ein Göhr nur so verwöhnen. Un-er-hört! Doris kümmert das alles nicht. Beglückt umfasst sie ihren Ball. „Danke, Papa!“

Hinter ihr lacht jemand. Es ist Tante Neschi. Eigentlich nur eine Nenntante, nicht wirklich verwandt. „Doris, Liebes , du bist schon ein Glückskind. Für dich würde Papa wohl auch die Sterne vom Himmel holen, wenn du ihn darum bittest.“

Doris lacht zurück. „Na klar, zumindest würde er es versuchen, wenn Mutti ihm gut zuredet.“

Jetzt sind alle Erwachsenen weg. Das Spiel könnte ungestört weitergehen. Aber sie haben sich müde getobt, und der spannende Zwischenfall beschäftigt sie immer noch. Jedes der Mädchen fragt sich insgeheim, ob die eigenen Eltern ihre kleinen Kümmernisse auch so ernst nehmen würden. Und alle kommen für sich zu dem Schluss: nein, bestimmt nicht. Schade eigentlich. Ruth spricht aus, was auch die anderen beiden denken: „Du hast es gut, solche Eltern möchte ich auch haben.“

Doch da stellt sich Irene vor sie und sagt giftig: „Eltern? Dass ich nicht lache! Das sind ja überhaupt nicht deine Eltern! Meine Mutter hat es mir erzählt. Deine richtige Mutter ist nämlich tot. Mausetot. Und das schon, seitdem du geboren bist!“

„Quatsch!", sagt Doris, "Dann hätten sie mir das längst gesagt. Du spinnst ja, du blöde Ziege! Gib zu, dass du dir das ausgedacht hast!“

„Frag doch deine sogenannten Eltern – du wirst schon sehen!“ Unerhört! Das sieht Irene ähnlich. Noch nie hat Doris sie ausstehen können. Schluss mit der albernen Ballspielerei. Es reicht.

„Und überhaupt: wie kommst du dazu, hier anzutanzen? Macht man das, fremde Briefe lesen? Nie was von Postgeheimnis gehört?“

Doris gerät in Zorn.

„Wär’s dir lieber, ich hätte der Klassenlehrerin gesteckt, was ihre Musterschülerin in Wirklichkeit während des Unterrichts treibt?“ Irenes Blicke sind böse.

„Es würde mich nicht wundern, wenn eine Lügnerin, die fremde Briefe liest, auch noch eine Petze wär“, sagt Doris scharf. „Dann tschüss für heute!“

Ruth hat ein Stückchen denselben Weg. „Ärger dich doch nicht über die Kröte“, sucht sie ihre beste Freundin zu trösten, „ist doch klar wie Kloßbrühe, sie ist nur neidisch. Ihre Mutter stänkert dauernd mit ihr rum, und ihr Vater ist im Krieg. Da kann sie wohl nicht anders.“

„Denn bis morgen! – Dann verabreden wir uns lieber in der Pause.“

„Ja, ist besser. So was passiert uns nicht noch mal.“

Ruth ist außer Sichtweite. Doris könnte jetzt gerade über die Straße gehen und wäre zu Haus. Doch irgendwie schwirrt ihr diese ungeheuerliche Behauptung noch immer im Kopf rum. Bei aller Niedertracht, so was erfindet man doch nicht einfach. Nicht mal Irene. Sie muss doch damit rechnen, dass alle sie meiden, wenn sie solche Lügenmärchen verbreitet. Andererseits ist Lügen eine schwere Sünde, das hätten die Eltern ihr wohl kaum eingeschärft, wenn sie nicht selbst danach leben würden. Undenkbar.

Wie Doris das Problem auch wendet, leise Zweifel bleiben. Kein Rauch ohne Feuer. Wie kommt es, dass in der Vorstadt jemand wohnt, zu dem sie „Vati“ sagt und dessen Kinder ihre Geschwister sein sollen. Merkwürdig ist das schon. Und manchmal hat sie ihre Mutter auch gefragt, warum es einen Papa und einen Vati für sie gibt, wo doch alle anderen Kinder nur einen Vater haben. Dann hatte die Mutter abgewinkt und gesagt, sie würde es ihr später erklären.

Ja, irgendwie ist das verdächtig.“

Erstmals 2000 veröffentlichten Aljonna und Klaus Möckel bei der LeiVBuchhandels- und Verlagsanstalt als Band 5 der Nikolai-Bachnow-Bücher „Die falsche Fee“ – damals noch unter dem Pseudonym „Nikolai Bachnow“: In diesem Buch der Zauberland-Reihe geht es um das Rosa Land, in dem freundlich und klug die gute Fee Stella herrscht. Doch gerade die Güte wird ihr zum Verhängnis, denn Mark, ein gemeiner Betrüger, schmeichelt sich bei ihr ein, um an ihre Zauberbücher zu kommen. Nachdem er bereits den misstrauischen Hengst Eschno ausgeschaltet hat, gelingt es ihm, Stellas Gestalt anzunehmen und sich an ihre Stelle zu setzen. Der Scheuch und seine Freunde, die anlässlich einer großen Feier ins Rosa Reich gekommen sind, schöpfen zunächst keinen Verdacht. Nach und nach begreifen sie aber, dass hier etwas nicht stimmt, und beginnen Fragen zu stellen. Doch Mark ist gefährlich. Er lähmt den Holzfäller, verwandelt den Scheuch, Prinzessin Betty und den alten Goodwin, der gleichfalls einen Abstecher in die ihm von früher her bekannten Gegenden gemacht hat, in sprechende Kohlköpfe. Zum Glück gibt es da ja aber noch Jessica, die all ihren Mut zusammennimmt. Von einem flüsternden Bäumchen geführt, stellt sie sich tapfer dem Betrüger entgegen. Und gleich zu Beginn treffen wir auf Stella, die zu diesem Zeitpunkt noch glücklich und zufrieden scheint. Schließlich hatte sie sich in ihrem Land umgesehen und Erfreuliches erlebt. Diese Reise hatte sich gelohnt:

Die falsche Fee

Erster Teil: Der Mann am Baum

Ein Hilferuf

Stella, die gute und schöne Fee, ritt auf ihrem Ross Eschno über Land. Als Herrscherin des Rosa Reiches wollte sie von Zeit zu Zeit mit eigenen Augen sehen, wie es um ihr Volk stand, ob die Leute glücklich oder unzufrieden waren. Sie besuchte Dörfer und Städte, mischte sich verkleidet unter die Menschen und unterhielt sich mit ihnen. Auch diesmal hatte sie wieder mit Handwerkern und Kaufleuten gesprochen, Fischer und Bauern bei der Arbeit beobachtet. Sie hatte allerhand erfahren und sich überzeugt, dass es den Leuten gut ging. Darüber freute sie sich.

Eschno, ein silbergrauer Hengst mit weißer Blesse, trabte gemächlich dahin. Wie stets hatte er seine Herrin über Hügel und durch Täler getragen, er war ausdauernd und schnell. Man konnte sich mit ihm auch unterhalten, denn wie alle Tiere im Zauberland beherrschte er die menschliche Sprache. Allerdings redete er manchmal etwas zu viel, hatte sogar einen Hang zum Philosophieren.

„Unsere Reise hat sich gelohnt“, sagte die Fee und Eschno wollte gerade ausführlich antworten, da wurden sie aufgestört. Ein lauter Klageruf erscholl aus einiger Entfernung. Es war ein langgezogenes, schrilles „Hi-ilfe! So helft mir doch!“

Die Fee brauchte Eschno nicht erst aufzufordern, er jagte von ganz allein los. In gestrecktem Galopp stürmte er querfeldein zu einem Wäldchen mit Buchen und Eichen.

„Hilfe!“, ertönte es wieder, „zu Hilfe!“

Sie setzten über niedriges Buschwerk und drangen in das Wäldchen ein. Die Rufe kamen von weiter hinten und schnell hatten die beiden eine dicke Eiche erreicht, bei der sich ihnen ein verblüffendes Bild bot. Von einem Ast hing, an den Füßen festgebunden und mit dem Kopf nach unten, ein schmächtiger Bursche. Er mochte neunzehn oder zwanzig Jahre alt sein, hatte geflickte Kleider an und borstiges braunes Haar. Er zappelte und bog sich, weil er mit den Händen nach oben oder wenigstens an den Baumstamm gelangen wollte. In seiner unglücklichen Lage stieg ihm das Blut zu Kopf, besser gesagt, es drängte abwärts, so dass er knallrot im Gesicht war.

Eschno machte schnaubend Halt und Stella rief:

„Was um Himmels willen ist dir armem Kerl zugestoßen? Wer hat das getan?“

„Räuber“, würgte der Bursche hervor. „Sie haben mir alles weggenommen. Bindet mich rasch los, bitte!“

Die Fee murmelte ein paar Worte und berührte den Burschen mit ihrem Zauberstab. Sofort lösten sich nicht nur die Stricke von seinen Füßen, er schwebte auch, mit den Beinen nach unten, sanft zu Boden.

„Wer bist du?“, fragte Stella. „Erzähle, wie das passiert ist.“

„Bist du eine Zauberin?“, wollte der junge Mann seinerseits wissen. Er schien verblüfft.

„Etwas Ähnliches, aber ich pflege nichts Böses zu tun, du brauchst also keine Angst vor mir zu haben. Berichte jetzt.“

„Nun ja, wie soll ich beginnen …“ Der Bursche war ganz offensichtlich noch geschwächt und durcheinander. „Ich heiße Mark und bin, wie ihr an meinen Kleidern seht, nicht gerade reich. Wir wohnen in den Bergen, in einer kargen Gegend. Meine Mutter ist gestorben, als ich noch sehr klein war, der Vater brachte die Familie gerade mal so mit dem Flechten von Weidenkörben durch.“

„Das muss ein wackerer Mann sein“, sagte die Fee, „denn bestimmt bist du nicht das einzige Kind.“

„Ganz und gar nicht. Ich habe drei Brüder und zwei Schwestern. Weil ich der Älteste bin, musste ich übrigens von zu Hause weg. Der Platz in unserer Hütte reichte hinten und vorn nicht mehr. Ich habe meine Siebensachen zusammengepackt, meinen Stock genommen und einen Beutel mit ein paar Kupfermünzen eingesteckt, die ich im Laufe der Jahre gespart hatte. Vater schenkte mir noch ein Silberstück, seinen einzigen Schatz. Aber dann haben mich diese Banditen überfallen.“ Marks Stimme klang kläglich.

„Banditen hier, ich bin erstaunt“, mischte sich Eschno ein. „Die Bewohner unseres Landes werden Schwätzer genannt, weil sie ein munteres Mundwerk besitzen, doch Raub und Mord sind ihnen fremd. Wie sahen die Wegelagerer denn aus?“

„Sie waren kräftig, zerlumpt und hatten struppige Bärte“, erwiderte Mark. „An mehr erinnere ich mich nicht, es ging alles so schnell. Vielleicht kamen sie von jenseits der Grenze.“

„Das könnte sein, die Grenze ist nicht weit von hier“, stimmte die Fee zu.

„Jedenfalls haben mir diese Schufte alles weggenommen, auch die kleinste und schäbigste Münze.“ Mark zeigte seine leeren Taschen.

„Und was willst du nun tun?“, fragte Stella.

„Ich werde in die Hauptstadt gehen und um eine Anstellung am Hof unserer Herrscherin bitten. Bei ihr kann ich bestimmt eine Menge lernen. Vielleicht habe ich Glück.“ Ein sonderbares Glitzern zeigte sich in Marks Augen.

„Wenn du dich bei unserer berühmten Herrscherin bewerben willst, musst du Klugheit, Zuverlässigkeit und Geschick in vielen Dingen beweisen“, wandte Eschno skeptisch ein.

„Ihr kennt euch in der Hauptstadt wohl gut aus?“, fragte der Bursche.

„Ja, ein wenig“, erwiderte Stella, die nicht verraten wollte, wer sie war. „Aber die Worte meines Pferdes sollten dich nicht hindern, dein Glück zu versuchen. Und damit es dir etwas leichter wird, nimm dieses Goldstück. Du kannst dir dafür etwas zu essen und bessere Kleidung kaufen.“

Sie gab Mark eine Münze, die der Bursche, überrascht von so viel Großmut, mit unterwürfiger Geste und einem „Dankeschön, vielen tausend Dank“ entgegennahm. Dann klopfte sie Eschno zum Zeichen des Aufbruchs gegen die Flanke und sprengte in schnellem Galopp davon.“

Erstmals 1992 erschien im damaligen Schweriner Verlag Stock & Stein „SPURENSUCHE. Über das ehemalige Quarantäne- und Wohnlager Losten und den Friedhof „Moidentiner Wald“. Geschichte und Geschichten“ von Barbara Kühl: Dieser beklemmende Report schildert die Ergebnisse einer Spurensuche, auf die sich Barbara Kühl kurz nach der Wende nach dem ehemaligen Quarantäne- und Wohnlager Losten in der Nähe von Wismar begeben hatte. Scheinbar waren dieses Lager – nach dem Ende des zweiten Weltkriegs Durchgangsstation für Tausende Vertriebene und für viele von ihnen auch ihre letzte Lebensstation – und der Friedhof „Moidentiner Wald“ schon völlig in Vergessenheit geraten. Aber 1992 konnte Barbara Kühl noch Menschen finden, die selbst in dem Lager gelebt oder die dort gearbeitet hatten und mit ihnen über diese Zeit sprechen. Sie erfuhr von den unvorstellbar schwierigen Bedingungen, von der qualvollen Enge und dem Minimum an Verpflegung, von der einsetzenden Kälte und von den fast nicht vorhandenen Möglichkeiten der Körper- und Wäschepflege. Sie erfuhr aber auch von Lebenswillen und von Solidarität und auch von erstaunlich schönen Geschichten an einem traurigen Ort. „Da erinnert sich, wer selbst Bewohner des Waldlagers gewesen ist – der Junge, der Heimkehrer, die Mutter von zehn Kindern, das junge Mädchen. Und es erinnern sich die damals jugendliche Krankenschwester, die Bäuerin, die Arztfrau, der Totengräber an Bedrückendes und Kurioses, an scheinbar Alltägliches und Außergewöhnliches und Unglaubliches, an mancherlei Fröhlichkeit und fast Vergessenes. Und an die Charaktereigenschaften der Menschen unter Bedingungen, die einer besonderen Gesetzmäßigkeit unterlagen in diesem zufälligen Zusammenleben, einer Art Ausnahmezustand, der alles hervorzubringen vermag, wessen der Mensch fähig ist.“ Hier das 2. Kapitel dieses noch immer bewegenden Reports:

„Es ist nichts mehr da. Kein Brett, kein Balken, nicht der kleinste Gegenstand, der bezeugen könnte: Hier haben einmal Menschen gelebt. Hartes, welkes Gras hemmt die Schritte, verdorrte Disteln reichen bis zu den Hüften auf dieser Lichtung im Wald. Die Blicke schweifen rundum. Nein, es ist nichts mehr da.

Die beiden Menschen verharren, als wagten sie nicht, einander in die Augen zu sehen. Die Vergangenheit springt sie an, wird plötzlich Gegenwart an diesem sonnigen Oktobernachmittag des Jahres 1991, an dem sie sich entschlossen, diesen Flecken Erde aufzusuchen. Wie eine Säule steht die Frau da, sinnend die Hände an den Mund gelegt. „Hier ist es gewesen.“
„Ja“, sagt der Mann, „hier ist es gewesen.“
Es, das ist das ehemalige Lager Losten, es, das sind etwa zwölf Jahre ihres Lebens, die sie hier verbracht haben.

Der Chronist gibt folgende Auskunft: Nach Ende des 2. Weltkrieges wurde der Ort (Losten bei Bad Kleinen) zunächst von englischen und amerikanischen Truppen besetzt. Später (im Juni 1945) bezogen sowjetische Truppen auf kurze Zeit hier Quartier. Die Offiziere waren in der Häuslerreihe untergebracht (Besitzer ausquartiert). Für die Mannschaften wurden im Wald gegenüber Baracken gebaut (nicht von der Bevölkerung, sondern von den sowjetischen Soldaten selber). Schon im September 1945 verließen die Truppen den Ort, und die freiwerdenden Baracken wurden kurze Zeit darauf zur Aufnahme der Aussiedler aus den Ostgebieten verwendet Die so genannte „Umsiedleraktion“ mit der Ausweisung der Deutschen aus den Gebieten östlich der Oder hatte begonnen. Waren es in den ersten vier Wochen nur Einzelreisende, so kamen ab Oktober 1945 komplette, organisierte Transporte an, zumeist aus alten Leuten bestehend und Müttern mit ihren Kindern.

„Wir kamen nachts an, im September 1946“, sagt die Frau, die aus Warnsdorf im Sudetengau stammt. Sie erinnert sich weder an die tagelange Reise im Viehwaggon noch an die Ankunft im Lager. In Erinnerung geblieben ist dem damals vierjährigen Mädchen lediglich ein Teil des Fußweges vom Bahnhof Moidentin durch die nächtliche Finsternis. Der Ruf „Vorsicht, Schlucht!“, der irgendwann durch die endlose Reihe Dahintappender gegeben worden war, hatte sie in panische Angst versetzt „Und stürzte in die tiefe Schlucht…“ Dieser Satz aus irgendeinem Märchen war der kindlichen Seele so tief eingeprägt, dass er alle anderen Eindrücke zu verdrängen vermochte.

„Ich konnte nicht weitergehen. Meine Beine waren wie mit Blei ausgegossen. Meine Mutter erbarmte sich und setzte mich für eine kurze Strecke auf den sowieso schon überladenen Kinderwagen.“

Wie alle anderen Ankömmlinge wurde die Familie in eine der 116 Baracken eingewiesen, die in Blockhausstil aus Vollstämmen zusammengefügt waren. In das Innere der etwa sechs mal acht Meter großen (oder kleinen!) Häuschen gelangte man durch Holztüren, von denen je eine in die sich gegenüberliegenden Giebelseiten eingepasst war. Die winzigen Fenster – fest eingefügt in die Längsbalken – konnten nicht geöffnet werden. Nicht alle Unterkünfte verfügten von Anbeginn über einen Ofen, dafür aber über umso mehr Ritzen zwischen den Stämmen, über denen im stumpfen Winkel ohne Zwischendecke ein nicht immer regendichtes Dach stülpte. Die Einrichtung der Hütte war – zumindest in den ersten Jahren – mehr als primitiv. Durchgehende Holzpritschen an den Wänden dienten als Schlaf- und Wohnstatt zugleich, manchmal mit Strohschütte, manchmal ohne. Den Eingewiesenen blieb nichts anderes übrig, als es auszuhalten oder sich mit dem wenigen einzurichten, das sie mitgebracht hatten, sollte das Waldlager Losten für die meisten von ihnen doch nur eine Zwischenstation sein.

Um ein Auftreten von Seuchen zu verhindern, waren auf Anordnung der Landesverwaltung im damaligen Kreis Wismar so genannte „Quarantänelager“ eingerichtet worden – bei Ventschow, bei Flessenow und bei Losten. Jedes dieser Lager hatte eine Aufnahmekapazität von etwa 1 000 Menschen. Normalerweise betrug die Quarantänezeit 14 Tage. Da aber in kurzer Folge neue Transporte aus dem Osten eintrafen, mussten die meisten Insassen das Lager bereits nach 14 Tagen wieder verlassen. Sie wurden auf die umliegenden Dörfer und Städte „verteilt“ (wobei man hin und wieder auch persönliche Wünsche berücksichtigte), wenige reisten weiter Richtung Westen oder Süden zu Verwandten.

Die Gemeinden des Kreises Wismar erhielten ein so genanntes „Aufnahmesoll“ entsprechend ihrer Einwohnerzahl, und nicht selten überstieg sehr bald die Zahl der „Umsiedler“ die der Alteingesessenen um ein Mehrfaches.

Eine derartige Anweisung wurde vom Rat des Kreises Wismar – Umsiedlerabteilung – gegeben und las sich dann so:

„An den Gemeinderat…
Betr.: Unterbringung der Umsiedler
Gemäß Verfügung der Landesregierung – Hauptabteilung Umsiedlung – vom 20.6. … sind im Kreis Wismar noch 10.000 Umsiedler aus den Ostgebieten aufzunehmen. Davon entfallen auf ihre Gemeinde 100 Personen. Der Zeitpunkt des Eintreffens steht noch nicht fest. Sie wollen schon jetzt die Vorbereitungen für die Aufnahme treffen und bis zum 15.8. … hierüber informieren.
Rat des Kreises Wismar – Umsiedlerabteilung – Kreisrätin.

Die Frau und der Mann, verheiratet längst, die sich mitten im Lostener Wald auf „Spurensuche“ begeben haben, sind im Lager geblieben, bis es – zum „Wohnlager“ geworden – 1958 aufgelöst wurde.“

Erstmals 1974 veröffentlichte Renate Krüger im Union Verlag Berlin „Nürnberger Tand. Historia eines Narren, eines Stummen und dreier gottloser Maler“: ANNO DOMINI 1523 wird in der Reichsstadt Nürnberg drei jungen Malern der Prozess gemacht. Die Stadt befindet sich ökonomisch, politisch und kulturell auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung und ist ein geistiges Zentrum in Europa. Das wirtschaftlich starke Patriziat hat das Stadtregiment fest in der Hand und weiß, wie mit Oppositionellen zu verfahren ist. Da gibt es die Brüder Barthel und Sebald Beham und ihren Freund Georg Pencz. Es sind Schüler des in der Stadt besonders angesehenen, hoch berühmten Meisters Albrecht Dürer. Doch jetzt stehen sie als Aufrührer vor Gericht, die gefährlichen und verderblichen Lehren von „göttlicher Gerechtigkeit“ für den gemeinen Mann anhängen. Schlimmer noch: Die Menschen selber müssten die Gerechtigkeit schaffen auf Erden, so meinen sie. Und die Obrigkeit, die das nicht zulasse, müsse als ungöttlich verworfen werden. Gottlose Maler also, wie ihre Ankläger es wollen? Die Autorin schildert die geistigen Auseinandersetzungen und Kämpfe, die der revolutionären Erhebung der Bauern vorangingen. Sie führt uns von der weiten ungarischen Puszta, in der eben ein Bauernaufstand blutig niedergeworfen wurde, in das Gewimmel der wohlhabenden großen Stadt, in die Häuser der Patrizier wie Willibald Pirckheimer und in die Hütten der Armen, in die Werkstadt Dürers und in das Wirtshaus in der Wöhrd, den Treffpunkt derer, die Unrecht nicht mehr dulden wollten. Ein reicher Narr, der eine neue nürnbergische Weltchronik schreiben will, lernt von den drei gottlosen Malern und einem ungarischen Bauern, den die Herren grausam verstümmelt haben, dass nicht heiteres Darüberstehen und Spottlust eine neue Welt schaffen, sondern die Klarheit des Gedankens und der Mut zur Entscheidung. Hier ein längerer Auszug:

Erstes Buch

ENDLICH WUCHSEN VOR DEN AUGEN DER Kaufleute die Mauern und Türme Nürnbergs aus der leicht gewellten Erde empor, ein wenig drohend zuerst, dann aber doch einladend.

„Kommt zurück in unseren Schutz … Wir sind stark genug, euch wieder aufzunehmen, auch wenn ihr den schwarzen Kaspar und den Nichtsnutz Koberger bei euch habt, wir sind stark genug.“

Nürnberg war nicht nur eine Stadt, sondern eine Welt mit eigenen Gesetzen, eigenem Geld, eigenen Maßen, eigenen Augen und Ohren. Sie stieß manchmal mit anderen Welten zusammen, mit Ulm, mit Augsburg, aber jede Welt wusste, dass man nur gemeinsam einen Kosmos bilden konnte und nahm den Zusammenstoß nicht allzu ernst.

Das Herz dieser Welt bildete der Kleine Rat mit seinen 42 Mitgliedern, von denen 26 den Titel Bürgermeister führten, freilich stände ihnen eher die Anrede Meisterbürger zu, aber die war nicht üblich. Die drei obersten Bürger waren der Erste und der Zweite Losunger und der Kriegshauptmann der Stadt, deren niedere Bürger sich im Tuchhandel und in der Färberei ihr Geld verdienten. Andere tummelten sich in den vielen Gießereien, gossen Löffel und physikalisch-mathematische Instrumente, das Nürnberger Ei, um die eigene Zeit zu messen, und Feuerschlösser für die Gewehre, um anderen die Zeit abzukürzen. Und viel Papier flatterte von Nürnberg aus in die Welt, bedrucktes und unbedrucktes, letzteres sogar bis nach Sizilien und in die Niederlande, denn in Nürnberg drehte sich die älteste Papiermühle des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Und überhaupt war man sehr stolz darauf, dass alles so alt und lange bewährt war.

Auch die großen europäischen Handelsstraßen waren eigentlich zuerst von Nürnberger Füßen ausgetreten worden, die Augsburger hatten sich dann so nach und nach eingeschlichen. Die Handelszüge kamen und gingen von und nach Venedig und Genua, Lyon und Paris, Antwerpen und El-Kahira.

Für das Volk gab es vielerlei Theater, Fastnachts- und geistliche Schauspiele, und den Frommen standen Kirchen und Klöster in Fülle zur Verfügung. Der Chronist Cochläus berichtete: „In der Stadt gibt es zwei Hospitäler, von denen eines so reich ist an Priestern, Sängern, Schülern und Armen, dass ihm in Deutschland keines gleichkommt, ferner gibt es zwei Zufluchtshäuser für zwölf Brüder, nämlich zwölf arme Greise; eines davon ist erst neulich durch einen Bürger mit einem Aufwand von 15 000 Goldgulden errichtet und ausgestattet worden … In der Karwoche jeden Jahres strömen selbst aus weiter Ferne hier bis über siebenhundert Aussätzige zusammen, die körperlich und geistig erquickt werden. Das geschieht einmal öffentlich auf dem St. Sebalder Kirchhofe, wo die Patrizier und ihre Frauen sie bei Tische bedienen. Ehe sie weggehen, erhält jeder einen Rock, ein leinenes Hemd, ein Tüchlein und ein Zehrgeld. Am Allerseelentag ist der Zusammenlauf von Bettlern so groß, dass außerhalb der Mauern bisweilen über 400 gelagert sein sollen, und in der Stadt sind alle Kirchhöfe von ihnen angefüllt. Die meisten Bürger teilen nämlich an diesem Tag mehr als 40 bis 50 Goldgulden aus. Es sind außerdem noch milde Stiftungen zu erwähnen, solche für Bürger, welche durch Missgeschick, langes Gefängnis und Krankheit herabgekommen sind, solche, welche Jungfrauen, die sich verheiraten wollen, eine anständige Mitgift gewähren, und endlich solche, welche Bürgerskindern die Studien ermöglichen.“

Und dann die Wallfahrten! Nürnberg war Sammelpunkt der vornehmsten Jerusalempilger aus dem ganzen deutschen Reich, die hier ihre Geschäfte besprechen und dann gemeinsam auf die Reise gehen konnten. Der Nürnberger Bürger Martin Ketzel maß in Jerusalem die heiligen Entfernungen ab, so die vom Richthaus des Pilatus bis nach Golgatha, um in Nürnberg die richtige Zahl der Wallfahrtsschritte finden zu können. Leider vergaß er jedoch die Zahl, wahrscheinlich hatte er zu viel an das Geld gedacht, und so machte er eine zweite Reise ins Heilige Land … Gute Werke standen hoch im Kurs.

Als Bálint auf des Schreiber- und Dichternarren Hieronymus hartem Kaufmannskarren in der stolzen Reichsstadt Nürnberg einrumpelte, stand es in allen Köpfen der weit gereisten Kumpanei unumstößlich fest, dass man Valentin Stumm, den Verstümmelten, mit letzter Kraft einem türkischen Krummschwert entrissen und dabei sogar das eigene Leben aufs Spiel gesetzt habe. So habe sich wieder einmal der strahlende Glaube der Christen als turmhoch überlegen dem Teufelsglauben der Mohammedanbeter erwiesen. Man habe eine christliche Seele vor türkischer Sklaverei und vielleicht sogar vor der ewigen Verdammnis gerettet und sich somit unschätzbare Verdienste erworben, die nun auch vom Nürnberger Stadtregiment gebührend honoriert werden müssten.

Das erste Honorar bestand darin, dass man den stummen Bálint überhaupt in die vielfachen Mauerringe der Freien und Reichsstadt Nürnberg einließ. Die Stadtwachen am Spittlertor wurden vom Bericht der Weitgereisten beeindruckt. Am besten wusste Hieronymus die Ereignisse zu schildern. Er spielte der Stadtwache eine richtige Schlacht vor, in der er zugleich türkischer Pascha, christlicher Feldhauptmann und das dem qualvollen Tode entrissene Opfer war. Bálint sah durch einen Riss in der Wagenplane und wunderte sich über das seltsame Gebaren des jungen Mannes, in dessen Wagen er nun eine halbe Ewigkeit gefahren war. Wie der da draußen herumsprang, wild mit den Augen rollte und mit den Armen herumfuchtelte, als wolle er einen alten störrischen Esel antreiben! Er hüpfte vor und sprang zurück, schwang dabei ein unsichtbares Schwert, dann streckte er lang die Zunge heraus und röchelte, und die anderen machten schmerzliche Gesichter, als werde ihnen die Zunge herausgeschnitten. Ein sonderbarer Tanz! Und dann zog er gar den schwarzen Kaspar neben sich, zeigte immer wieder auf ihn und klopfte ihm auf die Schulter. Dem schwarzen Kaspar gefiel das. Er verbeugte sich, legte eine Hand auf die Brust, wies mit der anderen auf den bewölkten Himmel und neigte bescheiden und demütig das Haupt. Die anderen, die am Tor gewartet hatten, drängten sich nun mit großem Ungestüm an ihn heran, schüttelten ihm die Hand und klopften ihm immer wieder die Schulter. Dann kamen zwei Männer an Kobergers Wagen, hoben den verwunderten Bálint heraus und stellten ihn unter die Toreinfahrt. Man bildete einen Halbkreis um ihn, der dichter und dichter wurde. Was alles hatte das zu bedeuten?

Bálint freute sich, dass er endlich wieder sicher auf den Füßen stehen konnte. Er reckte und streckte sich, als sei er hier ganz allein. Nach und nach begriff er, dass man ihn beobachtete, dass man ihn in den Blickpunkt gestellt hatte, als sei er ein weißer Hirsch oder ein Kalb mit zwei Köpfen. Darüber erschrak er und wollte eilig in das bergende Dunkel des Planwagens zurückklettern. Aber der Wagen war schon weitergefahren.

„Was wollt ihr von mir?“, schrie es in ihm. Aber der Schrei blieb in ihm stecken. Und es wurde ihm plötzlich bewusst, dass in Zukunft alle Fragen in ihm stecken bleiben, festgehalten würden. Die Wunden waren zwar inzwischen verheilt. Die Schmerzwellen hatten nachgelassen. Die Schwäche wich aus seinem Körper. Aber mit dem Sprechen war es vorbei. Und er konnte nicht nur nicht sprechen, sondern auch nichts verstehen. Das hatte er natürlich schon eher bemerkt, aber es war nicht tief in sein Bewusstsein eingedrungen. Hier aber, angesichts der neugierigen Menschenmenge, wurde er völlig verwirrt. Was wollten sie von ihm? Waren sie seine Feinde? Er war doch schon gestraft genug. Er konnte sich doch nicht verteidigen. Sie sollten ihn in Ruhe lassen!

Woher waren alle diese Menschen so schnell gekommen? Hausfrauen mit riesigen Hauben und riesigen Marktkörben. Wohlfeil waren heute die Eier. Für das eingesparte Geld konnte man die Weinration erhöhen. Zusätzlicher Wein würde den Hausherrn in vielen Dingen gefügiger machen. Ein befreiter Türkensklave – Gesprächsstoff für mehrere Wochen oder noch länger. Und Gott der Allmächtige hatte sich zu dieser Großtat des schwarzen Kaspar bedient, dieses Strolches und Tagediebes, dem niemand eine gute Zukunft voraussagte? Und nun war doch noch ein ernst zu nehmender Bürger aus ihm geworden, noch ehe er ganz in seine Heimatstadt zurückgekehrt war. Auch das war Gesprächsstoff für mehrere Wochen.

„Stellt Euch vor, Gevatterin, der schwarze Kaspar, dieser … tapfere Mann, wollte ich sagen, welch große Tat hat er vollbracht!“

Hinter und vor den großen Hauben gafften die Lehrlinge, die gerade für ihre Meister unterwegs waren, mit Schuhen, mit Kleidern, mit Fellen, mit Farbe. Ein solches Schauspiel bot sich ihnen nicht alle Tage. Da mussten sie zum Tor laufen, das musste man auskosten.

Und dann die Mönche, von denen immer eine Handvoll auf den Straßen umherlief, immer eilig und geschäftig.

Der Kreis um Bálint schloss sich enger. Bálint schlug die Hände vor das Gesicht, er fürchtete sich. Er lief zu Hieronymus und versteckte sich hinter ihm. Verwundert sah die Menge zu. Weshalb Hieronymus, dieser wunderliche Mensch, vor dessen Reden sich jeder fürchten musste, sogar der eigene Vater, wieso Hieronymus? Der schwarze Kaspar hatte dem Stummen das Leben gerettet! Wenn er nun schon bei jemandem Schutz suchte – dann doch bei ihm!

Hieronymus sagte nichts. Er legte den Arm um Bálint, strich ihm über das Haar – was war das wieder für ein neues Narren- und Gaukelspiel? Nun kam endlich Leben in den schwarzen Kaspar! Er fasste Bálint am Arm, nicht gerade mit Gewalt, aber auch nicht eben sanft. Sein Gesicht sah noch schwärzer aus als sonst, obwohl es lächelte. Denn was hielt er da alles in der Faust! Nicht nur diesen stummen unbekannten namenlosen Fremden, mit dem er später doch nur Scherereien haben würde. Nein, viel mehr! Auch eine ehrsame, vielleicht eine schon etwas ältliche Nürnberger Bürgerstochter, später dann einen Sohn, der gewiss nicht mehr schwarzer Kaspar heißen müsste. Er würde endlich einen richtigen ehrenwerten Familiennamen tragen – wie wäre es denn mit dem Namen Schwarz? In seiner Hand hielt er auch einen schweren Haustürschlüssel, mit dem er sein spät erworbenes Eigentum vor den anderen Spitzbuben sichern könnte. Und noch etwas müsste er in der Hand halten: eine Waage, eine Schere oder ein Ellenmaß. Man musste sehen, was sich da am leichtesten finden ließ.“

Was für ein buntes Panorama prallen Lebens sich da vor den Leserinnen und Lesern auftut. Renate Krüger gelingt es meisterhaft, uns in diese scheinbar so ferne Zeit mitzunehmen und uns an den damaligen Auseinandersetzungen teilhaben zu lassen. Viel Vergnügen beim Lesen, viel Vorfreude auf die kommenden Lockerungen, bleiben auch Sie trotzdem weiter vorsichtig sowie vor allem schön gesund und munter und bis demnächst.

Im Übrigen hätte Albrecht Dürer gerade dieser Tage Geburtstag – und zwar den 550. Herzlichen Glückwunsch! Und vielleicht ein schöner Grund, sich wieder einmal mit seinem Leben und Werk zu befassen, oder?

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