Prof. Gerlach, Prof. Rosahl, Sie erwarten als Gastgeber mehr als 1.000 Teilnehmer zur Jahrestagung der Neurochirurgie. Was beschäftigt die Fachdisziplin aktuell besonders?
Prof. Gerlach: Ständige Innovationen und technische Verbesserung helfen, die Effizienz chirurgischer Behandlungen von Patienten mit Erkrankungen des Gehirns, des Rückenmarks und der Nerven zu erhöhen und zugleich Behandlungsrisiken zu minimieren. Der schmale Grat des operativ maximal Möglichen und der funktionellen Unversehrtheit der Patienten muss für jede Erkrankung definiert und in wissenschaftlichen Analysen objektiviert werden. Neue Entwicklungen gilt es, bei der Tagung zu diskutieren, Neuerungen in die tägliche Arbeit der Kliniken zu übernehmen.
Prof. Rosahl: Ein sehr aktuelles Thema, welches in mancher Hinsicht ein neues Zeitalter für uns Neurochirurgen eingeleitet hat, ist die durch Forscher aus Heidelberg eingeleitete neue Klassifikation der Hirntumoren aufgrund molekularer Marker. Sie stellt auch einen starken Impuls in Richtung individualisierter Therapiekonzepte dar.
Was bedeutet ‚neues Zeitalter‘ für die Patienten, die an Hirntumoren leiden?
Prof. Rosahl: Neue Untersuchungsmethoden erlauben eine präzisere Einordnung vieler Hirntumoren. So können diese gezielter behandelt werden und auch Prognosen lassen sich besser einschätzen. Außerdem lassen sich dadurch neue Zielmoleküle im Tumorstoffwechsel definieren, deren medikamentöse Ausschaltung Tumorzellen vernichten kann.
Eigentlich wollten Sie alle Kollegen nach Thüringen einladen. Daraus wird nun nichts. Wieviel Erfurt konnten Sie ins digitale Format herüberretten?
Prof. Rosahl: Sehen wir´s positiv: Via Internet werden wir das schöne Erfurt, in diesem Jahr noch durch die Bundesgartenschau geadelt, perfekt in Szene setzen und in Lichtgeschwindigkeit durch die deutsche Neurochirurgenlandschaft bringen!
Prof. Gerlach: Trotz des digitalen Formats bleibt der Kongress fest mit Erfurt verknüpft. Wir haben den „NeuroRun“ initiiert, einen Spendenlauf, der unser beider Leidenschaft für Sport und Bewegung mit dem Engagement für seltene Erkrankungen verbindet, denen wir einen Schwerpunkt im wissenschaftlichen Programm gewidmet haben.
Was hat Sie bewogen, das Thema seltene Erkrankungen in den Fokus zu rücken?
Prof. Rosahl: Wir haben in Erfurt einen neurochirurgisch geprägten Schwerpunkt für seltene Erkrankungen wie Neurofibromatose oder Syringomyelie. Solche Erkrankungen brauchen unbedingt Foren, um Behandlungsfortschritte erzielen zu können.
Wie profitieren Patienten in Erfurt von Ihrer Profilierung bei seltenen Erkrankungen?
Prof. Gerlach: Patienten mit neurochirurgischen Erkrankungen haben besondere Bedürfnisse in ihrer Betreuung nach der Entlassung aus dem Krankenhaus. Hier sind auch insbesondere Tumorpatienten zu erwähnen, deren ambulante Betreuung in enger Verzahnung mit der stationären Medizin erfolgen muss. Wir versuchen hierzu in Erfurt besondere Konzepte umzusetzen, die den Patienten helfen, ihre mit der Erkrankung verbundenen Probleme zu adressieren und eine optimale medizinische Betreuung zu gewährleisten. Ähnliche Wege gehen wir für verschiedene seltene Erkrankungen auch.
Die Bildung von Zentren und Vernetzung von Klinken sind für eine gute Versorgung von Patienten mit seltenen Erkrankungen von größter Bedeutung. Was noch?
Prof. Rosahl: Die Überwindung intersektoraler Grenzen, das Aufholen auf dem Gebiet der Digitalisierung in der Medizin – Stichwort künstliche Intelligenz – oder die Schaffung der richtigen Anreize, zum Beispiel durch qualitätsorientierte Vergütung. Nachholbedarf haben wir aber auch bei einheitlichen Behandlungsstandards und der Transparenz medizinischer Qualität. Auf dem Gebiet der Neurofibromatose bewegt sich diesbezüglich in Deutschland Einiges – und Erfurt spielt dabei keine unwesentliche Rolle.
Prof. Gerlach: Oft sind mehrere Fachbereiche im Klinikum in die Behandlung von Patienten mit seltenen Erkrankungen involviert. Der „Blick über den Tellerrand“, das Erlernen von Techniken aus chirurgischen Nachbardisziplinen sowie die Diskussion fachübergreifender Lösungen verbessert am Ende das Behandlungsergebnis. – Ein typischer Effekt von Zentrenbildung und Interdisziplinarität, was zunehmend von den Kostenträgern erkannt wird, aber auch honoriert werden muss.
Ein Blick in die Zukunft der Fachdisziplin: In der Session „Elektroden im Gehirn“ geht es um neue Ansätze und Herausforderungen der Tiefen Hirnstimulation. Zum Beispiel?
Prof. Gerlach: Elektroden werden nicht nur im Gehirn, sondern auch anderen Bereichen wie in der Nähe des Rückenmarks oder an peripheren Nerven eingesetzt. Diese modulierenden Verfahren werden etwa zur Behandlung unerträglicher Schmerzen angewandt und helfen, daraus resultierende psychische und sozialmedizinische Einschränkungen der Betroffenen zu lindern.
Prof. Rosahl, Sie thematisieren in diesem Zusammenhang die ethischen Grenzen der „Elektroden im Gehirn“. Welche Richtung nimmt die Entwicklung? Welche besser nicht?
Prof. Rosahl: Die Entwicklung neurotechnischer Schnittstellen hat mit dem Cochlea-Implantat und der Tiefenhirnstimulation in den letzten Jahren wesentliche Fortschritte in der Behandlung von Gehörverlust und Bewegungsstörungen, zum Beispiel bei Morbus Parkinson, gebracht. Die Weiterentwicklung dieser Implantate etwa durch die Verfeinerung von Elektroden, wie sie Elon Musk’s Firma NeuraLink vorantreibt, ist logisch und begrüßenswert. Die ethischen Fallstricke liegen darin, dass man die Technologie auch zur Veränderung psychischer und emotionaler Prozesse im Gehirn missbrauchen kann. Insbesondere im möglichen Einsatz auf nicht-medizinischem Gebiet sehen wir eine problematische Grenzzone. Wollen wir wirklich Cybersoldaten? Ist es sinnvoll, aus gesunden Menschen Cyborgs mit speziellen Fähigkeiten zu formen mit der Gefahr elektronischer „Fernsteuerung“? Sollte man Musik nicht weiterhin einfach hören, statt sie direkt ins Gehirn zu streamen?
Auf der Kongress-Agenda steht auch das Thema Qualitätssicherung: Wie stellen Kliniken die Qualität ihrer Arbeit nach außen dar? Worauf können Patienten sich verlassen?
Prof. Rosahl: Mit dem Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG) hat sich eine trägerübergreifende Institution etabliert, welche die zuvor eher vereinzelten und spärlichen Bemühungen um medizinische Qualität bündelt und hoffentlich wirksame Instrumente für die richtigen Anreize auch in der Neurochirurgie schafft. Durch die digitale Erfassung von Routinedaten sowohl durch die Kostenträger als auch durch die Leistungserbringer ist die Transparenz deutlich gestiegen, Manipulationen sind kaum noch möglich. Eine solche Sicherheit hat es für Patienten bisher noch nie gegeben.
Prof. Gerlach: Zentrenbildung und deren Struktur-, Prozess- und Behandlungsqualität, die Einhaltung wissenschaftlicher Standards sowie die Selbstverpflichtung, Behandlungskomplikationen darzustellen, werden auch im Rahmen von Zertifizierung – etwa durch die Deutsche Krebsgesellschaft oder die Deutsche Schlaganfallgesellschaft – sehr intensiv geprüft und nicht nur den ärztlichen Kollegen, sondern auch Patienten und Angehörigen transparent zur Verfügung gestellt. Als Patient kann man so eine Klinik oder Fachabteilung nach Qualitätssigeln der Fachgesellschaften auswählen.
Wir befinden uns im zweiten Pandemiejahr: Sind Sie inzwischen Onlinekongressprofis? Prof. Rosahl: Gezwungenermaßen ja. Die Online-Müdigkeit setzt wohl allen inzwischen etwas zu. Aber wir haben wir uns einiges Belebendes für den Kongress einfallen lassen!
Prof. Gerlach: Wissenschaftliche Daten können sehr präzise und verständlich in diversen digitalen Foren präsentiert werden. Aber klar fehlt auch den Neurochirurgen der persönliche Kontakt, das Gespräch jenseits der Sitzungen. Deshalb wünsche ich mir für die Zukunft auch eine Rückkehr zur Präsenzveranstaltung.
Ihre NeuroRun-Premiere muss leider virtuell bleiben. Wie funktioniert das? Dürfen nur Mediziner mitlaufen?
Prof. Rosahl: In diesem Jahr schnürt jeder für sich die Laufschuhe und absolviert zwischen 26. Mai und 8. Juni eine Strecke seiner Wahl. Trotzdem versprechen wir uns einen gewissen Fun-Factor für die Tagung. Die Kilometer werden über eigene Trekkingsysteme ermittelt und über ein Formular auf der Kongresshomepage gemeldet. Am besten inklusive Lauf-Selfie! Anmelden kann sich dafür jeder. Die Startgebühr kommt komplett der neugegründeten MerliN Foundation und damit Patienten mit Neurofibromatose Typ 2 zugute. Künftig soll der Lauf die DGNC-Jahrestagung regelmäßig flankieren, die öffentliche Aufmerksamkeit für Anliegen neurochirurgischer Patienten erhöhen und lokale medizinische Projekte unterstützen, die der jeweiligen Tagungsleitung besonders am Herzen liegen.
Wie sehr liegt Ihnen das Thema Gleichstellung der Geschlechter in der Neurochirurgie am Herzen, dem ebenfalls eine ganze Session eingeräumt wurde?
Prof. Rosahl: Hier ist es dringend an der Zeit für eine gemeinsame Anstrengung, um zunächst mal den numerischen und Lobby-Nachteil auszugleichen. Die Neurochirurgie ist ein noch sehr männerdominiertes Fachgebiet der Medizin. Obwohl seit über 20 Jahren mehr als die Hälfte der Medizinstudierenden weiblich sind, an manchen Universitäten inzwischen gar zwei Drittel! Dagegen ist statistisch nur knapp jede fünfte Facharztstelle weiblich besetzt und nur neun Prozent der Fachabteilungen werden von Frauen geführt. Die Neurochirurgie steht damit auch im Vergleich mit anderen chirurgischen Disziplinen hintenan. Was genau die Gründe sind und wie wir die Kluft verringern können, werden wir diskutieren und darauf bin ich sehr gespannt!
Alle Informationen sowie das Tagungsprogramm unter: www.dgnc-kongress.de.
Medienvertreter sind herzlich eingeladen zum digitalen Kongress. Gern vermitteln wir Ihnen Ansprechpartner für Interviews. Akkreditierungen sind über die Kongress-Homepage möglich sowie direkt über den Pressekontakt.
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