Stress mit Mathematik, ein Mordwerkzeug im Gepäck sowie ein Königsweg zum Unbewussten – Fünf E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis

Das Unbewusste hat und kann eine große Kraft entwickeln, sagen die Psychologen. Wie aber kommt man daran, um es für sich nutzen zu können? Durch Träume, erklärte einer der berühmtesten Männer dieser Wissenschaft von der Seele – Sigmund Freud. Und auf genau diesem Wege versucht sich auch der Autor des fünften der insgesamt fünf aktuellen Angebote, die wie immer eine Woche lang zum Sonderpreis im E-Book-Shop www.edition-digital.de (Freitag, 16.04. 21 – Freitag, 23.04. 21) zu haben sind, sich selbst und den Geheimnissen seiner nächtlichen Gedanken auf die Spur zu kommen: „Traumläufe im Irrgang. Ein Lebensroman in Träumen – Traumaufzeichnungen aus fünf Jahrzehnten“ heißt das Buch von Peter Arlt.

Was hilft gegen Stress mit dem Nicht-Lieblingsschulfach Mathematik? Eine mögliche Antwort findet sich in dem Kinderbuch „Freitags beim Angeln“ von Ulrich Völkel.

Von einer ganz besonderen Reise berichtet Elisabeth Schulz-Semrau in „Drei Kastanien aus Königsberg. Tagebuch einer Reise in das heutige Kaliningrad“.

Um einen kleinen Mann mit großer Macht und seine Geheimnisse geht es in „Der Schweriner Schlossgeist Petermännchen. Die schönsten Sagen und Geschichten, Teil 1. Wie Petermännchen schützt, lohnt, straft und neckt“ von Erika und Jürgen Borchardt.

Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Und da hat die Literatur schon immer ein gewichtiges Wort mitzureden und heute erst recht. In diesem Newsletter steht das Thema Gerechtigkeit und Existenzkampf im Mittelpunkt und wie sich eine mehr und mehr angestaute Wut auf die Herrschenden schließlich in einer Revolution entlädt, die alles bis dahin Bestehende hinwegfegt und zumindest zu Beginn der Auseinandersetzungen mit dem alten Regime eine glückliche Zukunft für die kleinen Leute verspricht, die eben nicht mehr wussten, wie es weitergehen soll:

Erstmals 1989 – und damit genau 200 Jahre nach der Großen Französischen Revolution – veröffentlichte Ulrich Völkel im Kinderbuchverlag Berlin seine Erzählung „Luc und die Wölfe von Paris“: Aux armes! Zu den Waffen! hallt es durch Paris. Der König hat den Finanzminister Necker entlassen, von dem die Franzosen geglaubt hatten, er werde mit der Verschwendungssucht des Hofes und der Misswirtschaft im Lande fertig. Von Luc erfahren die Pariser, wo das Pulver für ihre Gewehre zu holen ist. Auf zur Bastille! Am 14. Juli 1789 wird dieses Symbol der verhassten Despotie gestürmt. Die Große Französische Revolution hat begonnen. Begonnen aber hat die hat die Empörung schon lange zuvor, unter anderem beim Brotkaufen:

Vierzehn Sous

Vor dem Laden standen bereits mehr als dreißig Frauen an. Sie waren früh gekommen, denn man wusste nie, wie weit das Brot reichen würde. Sie vertrieben sich die Zeit mit Erzählen und redeten, wie ihnen der Schnabel gewachsen war. Und die Pariserinnen waren bekannt dafür, dass sie kein Blatt vor den Mund nahmen. Eines ihrer Lieblingsthemen war die Königin. Nicht etwa, weil sie die besonders mochten. Sie hassten sie und sahen in ihr, der Fremden, die Wurzel allen Übels. Ludwig XVI. hatte sich eine Österreicherin zur Frau genommen. Marie-Antoinette aus dem Hause Habsburg.

Der König war einfältig und träge. Das verziehen sie ihm. Aber die Königin war boshaft und verschwenderisch. Sie spinne ihre Fäden und webe ihre Netze, in denen sich nicht nur der arme Ludwig verfangen habe, behaupteten die Frauen.

Die Königin, ging die Rede, halte einen Liebhaber aus, den Schweden Axel de Ferse. Die Pariserinnen tuschelten, wenn sie sich die neuesten Ausschweifungen und Eskapaden der Österreicherin ausmalten, als wären sie dabei gewesen.

Eine junge Frau zeigte auf die Buchstaben MACL, die über der Haustür der Bäckerei standen. „Wisst ihr, was das zu bedeuten hat?“, fragte sie keck.

Nun konnten zwar die meisten Frauen wie viele aus den armen Schichten des Volkes nicht lesen, aber was diese Abkürzung bedeutete, wussten sie: Maison assurée contre l’incendie, das Haus ist feuerversichert. Aber der herausfordernde Ton der jungen Frau ließ eine andere Deutung vermuten.

„Na, was schon?“, wurde sie von mehreren der umstehenden Frauen gefragt.

„Marie Antoinette cocufie Louis!“ Marie-Antoinette setzt Ludwig Hörner auf.

Der Witz war gut. Die Frauen lachten lauthals. Sie konnten sicher sein, dass ihnen in Paris kaum etwas geschehen würde, wenn sie derart spotteten. Paris gehörte den Parisern. Der König wohnte außerhalb der Stadt in einem protzigen Palast. Sollte er glücklich werden in seinem Versailles.

Doch plötzlich herrschte atemlose Stille. Margarete hatte die Preistafel aus dem Fenster entfernt. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Niemand unter den Wartenden glaubte, das Brot sei über Nacht billiger geworden. Dreizehneinhalb Sous hatte es gestern gekostet. Das war schon für jene Frauen, deren Männer eine feste Arbeit hatten, kaum noch zu bezahlen. Um wie viel härter musste es die Arbeitslosen treffen.

Die Frauen warteten. Ihre eben noch fröhlichen Gesichter hatten sich sorgenvoll verfinstert. Eine, es war Colette, die den Witz auf die Königin erzählt hatte, sagte: „Wenn das Brot auch nur einen halben Sou teurer wird, schlage ich dem Bäcker das Fenster ein!“ Sie sprach nur aus, was die anderen dachten.

Margarete stellte das Schild wieder in die Auslage zurück. Nur ihr Arm war zu sehen. Schämte sie sich für die Geldgier ihres Patrons, oder fürchtete sie den Zorn der Frauen vor dem Laden, denen sie bald gegenüberstehen würde?

Zunächst geschah gar nichts. Die Preiserhöhung um einen halben Sou hatte den Frauen den Atem verschlagen. Colette starrte auf die Tafel, ohne eines Wortes fähig zu sein. Die am weitesten hinten standen, wurden zuerst unruhig, denn sie konnten nicht sehen, was das Brot ab heute kosten sollte, und sie wollten es nicht glauben, als sie den neuen Preis erfuhren. Eine rief sogar: „Damit macht man keine Witze, ihr da vorn!“

Colette stand an elfter Stelle. Sie hatte die vor ihr wartenden Frauen immer wieder gezählt, aus Sorge, es könne sich jemand unbemerkt dazwischenmogeln. Jetzt war sie es selbst, die die anderen beiseiteschob, bis sie sich direkt vor dem Schild befand. Es gab keinen Zweifel, das Brot war wieder einmal teurer geworden. Da drehte sie sich zu den Frauen um. Colette war nicht besonders groß, aber sie reckte sich und streckte beide Arme mit geballten Fäusten nach oben. Dann rief sie mit einer Stimme, als müsse sie ganz Paris wecken: „Vierzehn Sous! Das Brot kostet ab heute vierzehn Sous! Wer soll das noch bezahlen?“

„Schlagen wir ihm die Tür ein!“, rief eine Frau, die so weit hinten stand, dass das Brot wahrscheinlich gar nicht bis zu ihr gereicht hätte, und die allein deswegen schon in gereizter Stimmung war.“ Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters.

Erstmals 1971 war ebenfalls im Kinderbuchverlag Berlin als Band 81 der Reihe „Die kleinen Trompeterbücher“ ein weiteres Buch von Ulrich Völkel erschienen – „Freitags beim Angeln“: Jeden Freitag nach der Schule steht Klaus am Fluss und angelt. Eigentlich geht es ihm gar nicht so sehr darum, Fische zu fangen, er braucht diese eine Stunde, um sich zu erholen, vor allem von der stressigen Mathematik, die nun wirklich nicht sein Lieblingsschulfach ist. Zufällig macht er die Bekanntschaft mit einem jungen Mann, der ihm eine Weile zuschaut und dann behauptet:  „Angeln ist langweilig! Worauf Klaus prompt erwidert: „Mathematik ist langweilig!“ – ohne zu wissen, dass er das zu einem Mathematiker sagt. Aus der zufälligen Begegnung wird eine regelmäßige, wobei einer dem anderen beweisen will, was tatsächlich langweilig ist. Am Ende der Geschichte haben beide voneinander gelernt und am Hobby des anderen Freude gefunden. Angeln ist nicht langweilig. Und Mathematik muss es auch nicht sein. Hier die ersten drei Kapitel diese Lektüre für junge Leute von acht Jahren an:

1. Kapitel

Jeden Freitag nach der Schule stand Klaus am Fluss und angelte. Es machte ihm Spaß, dort zu stehen. Manchmal blickte er zum Schwimmer, der auf den Wellen ritt. Aber er sah nicht hin, um zu prüfen, ob ein Fisch gebissen hätte. Das fühlt ein richtiger Angler. Er sah hin aus Gewohnheit. Eben so.

Viele Fische gab es hier nicht. Die Strömung war zu stark. Doch von dieser Stelle aus ließ sich weit flussab und flussauf schauen. Die Brücke, die Häuser, die Ruine der alten Burg, das neue Hochhaus — all das konnte er von dieser Stelle aus sehen. Und die Stadt, die hochstieg zu beiden Seiten des Tales, blickte zum Fluss hinab, ihrem wettgereisten Freund, der unterwegs war zu noch größeren Weiten.

Wenn ich jetzt, dachte Klaus, wenn ich jetzt ein Rindenboot hätte, und es bliebe nirgendwo hängen, ob es bis Afrika schwämme?

Hier ließ sich träumen! Die alte Brücke verwandelte sich in die berühmte Towerbrücke von London. Die Häuser der Stadt wurden zu den Terrassen von Neapel, die alte Burg ein sagenumwobenes Schloss, das neue Hochhaus mit seinen zwölf Stockwerken ein stolzes Leningrader Gebäude. In diesen Vorstellungen lebte Klaus jeden Freitag nach der Schule.

Wenn er nach Hause kam, stellte er die Schultasche in die Ecke, nahm seine Angel hervor und den kleinen Eimer, sammelte hinter dem Haus Regenwürmer in eine Schachtel und lief hinunter zum Fluss.

Und während Klaus hier stand, vergaß er die zwei Stunden Mathematik, die Rechenaufgaben, die ihm viel zu schwer waren, das Gekicher der Mädchen, seine Hilflosigkeit beim Rechnen an der Tafel — seinen ganzen Kummer mit dieser Mathematik vergaß er und wurde wieder froh in den Träumen von der Welt.

Mit dem Strom, der zum Meer hin floss, trieben seine Gedanken fort. Manchmal biss ein Fisch an. Den zog er heraus und legte ihn zu den anderen, die schon im Eimer schwammen. Aber eigentlich ging er nicht an den Fluss, um zu angeln. Er angelte, um am Fluss zu sein.

Schularbeiten machte er abends. Seit Mutter diesen Kursus besuchte, hatte Klaus viel Zeit freitags, denn sie kam spät nach Hause. Vater aber war Kapitän auf einem 10 000-Tonnen-Frachter und befuhr die Meere der Welt.

[*] Kapitel

Auf der gegenüberliegenden Seite der Straße, die an Klaus’ Angelplatz vorbeiführte, war eine Bushaltestelle. Alle zwanzig Minuten kam ein Ikarus, je nach der Tageszeit besetzt. Um diese Stunde war er ziemlich leer. Die Leute arbeiteten noch. Laut und lebendig wurde es erst, wenn die Menschen von der Arbeit kamen und noch letzte Einkäufe für das Wochenende erledigten.

Dann war die Stadt ganz anders als sonst. Klaus brauchte seine Fantasie nicht mehr, um aus ihr eine Weltstadt zu machen. Die Gehsteige erwiesen sich als zu schmal, die Straßen wurden zu eng. Die Stadt brodelte vor Geschäftigkeit.

Und dann, auch das beobachtete Klaus von seinem Platz her, veränderte sich der Fluss. Etwa in der Stunde, in der die Läden schlossen, beruhigte sich der Strom, als hätte er, aus dem engen Tal kommend, die Ebene erreicht. Behaglich floss er dahin, wurde dunkler und glänzender. Um diese Zeit kamen die jungen Mädchen aus den Häusern und schlenderten hinüber zum Park. So begann der milde Abend des Vorsommers.

Es ist komisch, dachte Klaus, auch mein Fluss ist wie die Stadt, immer anders und schön.

Drüben fuhr wieder der Bus ab. Ein junger Mann erreichte ihn nicht mehr, schaute auf die Uhr und steckte sich eine Zigarette an. Er blieb eine Weile stehen, dann kam er zu Klaus herüber.

Der Junge hatte ihn oft gesehen. Er wusste zwar den Namen nicht, aber er war einer seiner Freitagsbekannten. Der junge Mann stand immer um diese Zeit mit den wenigen Wartenden an der Haltestelle. Noch nie hatte er den Bus verpasst. Heute geschah das zum ersten Mal, und jetzt kam er zu Klaus herüber.

„Na“, sagte der Mann, „du angelst wohl?“

„Hm“, sagte Klaus. Was sollte er auch antworten? Er angelte, das sah man. „Haben Sie den Bus verpasst?“

„Hm“, sagte der Mann und lachte.

„Warum lachen Sie?“, fragte Klaus.

„Über uns“, sagte der Mann. „Ich sehe, dass du angelst, und frage, was du tust. Du hast beobachtet, wie mir der Bus wegfuhr, und fragst mich danach. Wir sind zwei, was? Übrigens fuhr er siebenunddreißig Sekunden zu früh.“

Klaus lachte mit. Dann starrten sie beide in den Fluss. Der Mann blies den Rauch der Zigarette zum Schwimmer hin, aber der Wind nahm die kleinen Wolken auf und trug sie behutsam zu den großen.

„Angeln ist langweilig“, sagte der Mann.

Klaus sah ihn von der Seite her an. Wie konnte ein erwachsener Mensch so etwas sagen? „Mathematik ist langweilig“, entgegnete er.

„Ho, Mathematik ist die Königin der Wissenschaften. Ohne Mathematik kein Leben!“ Der Mann sagte das, als ob er vor einer Klasse stünde.

„Sie sind wohl ein Mathematiker?“, fragte Klaus, und er betonte das i. Mathematicker, klang das.

„Ich bin Ingenieur. Und es heißt Mathematiker.“ Er betonte richtig. Jetzt dröhnte der nächste Bus heran. „Ich seh dich oft hier. Angelst du jeden Tag?“, fragte der Ingenieur.

„Nein“, sagte Klaus. „Aber freitags, freitags immer.“

„Schön, wir reden noch darüber!“ Er lief auf die andere Seite, stieg in den Bus und fuhr davon.

Worüber will er mit mir reden, der Mathematiker? dachte Klaus und betonte wiederum das i. Er überlegte noch einen Augenblick, vergaß den Mann aber schnell. Gegen Abend ging er nach Hause. Er musste eine Stunde vor Mutter da sein, sonst schaffte er die Schulaufgaben nicht. Mathe würde er in der zweiten Pause abschreiben, also reichte die eine Stunde am Abend. Worüber wollte der Mathematiker mit mir reden? überlegte Klaus.

[*] Kapitel

Als die Mutter nach Hause kam, lag Klaus bereits im Bett. Aber er schlief noch nicht. Er hörte sie in der Küche das Geschirr zusammenräumen, dann war eine Weile Ruhe. Sie aß wohl eine Schnitte; denn ihr Tag war lang gewesen.

Klaus wartete. Als er sie kommen hörte, schloss er schnell die Augen, atmete tief und stellte sich schlafend. Jetzt kam die schönste Stunde. Dagegen war Fußballspielen nichts, und nichts war Angeln am Fluss. Mutter trat in sein Zimmer. „Schläfst du?“, fragte sie leise. Er antwortete nicht. Da setzte sie sich auf den Rand seines Bettes und sah ihn lange an. Er glaubte ihre Blicke warm auf der Haut zu spüren. Und sie sprach zu ihm. Sie sprach zärtliche Worte, deren Sinn er nicht immer verstand, aber sie spannen ihn ein in wohlige Zufriedenheit.

Manchmal erzählte sie von Vati. Dass sie traurig sei, weil er nur selten bei ihnen sein konnte. Und dass sie Furcht hätte wegen der Gefahren auf dem Meer. Sie sprach von ihrer Sehnsucht und von gemeinsamen Stunden. Klaus hätte die Augen öffnen mögen, sie umarmen und trösten. Aber er tat es nicht.

Oder sie erzählte von ihrer Arbeit. Das wäre ein herrlicher Beruf, technische Zeichnerin. Auf dem klaren Papier entstünden die Pläne für riesige Häuserblocks und umfangreiche Grünanlagen in den Neubauvierteln. Aber nur für die war der Beruf schön, die aus den gezeichneten Fenstern Menschen reden hörten, die lärmende Kinder in den Anlagen sähen, obwohl es nur Striche waren auf dem Papier. – Das erzählte sie ihm. Und er hätte aufstehen mögen und sie fragen wollen, um mehr zu hören von diesem Beruf. Aber er tat es nicht.

Manchmal erzählte sie von ihrer Abendschule. Es fiel ihr schwer, all die Formeln zu beherrschen. Die Zahlen stritten sich in ihrem Kopf. Aber sie musste es schaffen, musste diese Prüfung bestehen, weil die Arbeit, die sie liebte, dadurch leichter wurde und sie noch fröhlicher machte. Weil sie es auch der Brigade versprochen hatte, die an sie glaubte. Sie würde es schaffen, und wenn sie dieser Mathematiker noch so spöttisch behandelte und ihr die schlechten Noten eintrug, als ob es ihm leid täte. Klaus hätte das Licht anknipsen mögen, um mit ihr die schwierigen Aufgaben durchzurechnen, obwohl er selbst mit Mathematik nicht gut zurechtkam. Aber er tat es nicht.

Denn einmal hatte er die Augen geöffnet. Und da war der Zauber der Stunde verloren. Mutter kam gleich auf praktische Dinge zu sprechen. Sie fragte nach seiner Arbeit, nach seinen Zensuren und redete auf ihn ein, weil er ihr durch seine schwachen Leistungen zusätzlich Sorgen machte. Nein, er öffnete die Augen nicht. Er hörte ihre gute Stimme und spürte ihre Nähe. Langsam schlief er ein. Und im Hinüberdämmern dachte er noch, dass er sich jetzt unbedingt bessern würde in Mathematik. Und dass er ihr helfen wolle. So dachte er, bevor er ein schlief. Und er überlegte noch zuletzt, ob sie wohl wisse, dass er gar nicht schlafe.

Dass sie sein Zimmer verließ, hörte er meistens schon nicht mehr.“

Erstmals 1990 veröffentlichte Elisabeth Schulz-Semrau im Mitteldeutschen Verlag Halle – Leipzig „Drei Kastanien aus Königsberg. Tagebuch einer Reise in das heutige Kaliningrad“: Erst im Herbst 1988 gelingt der gebürtigen Königsbergerin die Wiederbegegnung mit ihrer Vaterstadt, der bis dahin für Ausländer verbotenen Stadt. Viele Leser hatten sich nach dem Report „Suche nach Karalautschi“ (1984) mit ihren Lebensberichten, Dokumenten und Fotos an die Autorin gewandt. Nun folgt sie einer Einladung des Kaliningrader Kulturfonds, der sich die Aufgabe gestellt hat, die ganze Geschichte der 700-jährigen Stadt wieder lebendig zu machen. Die Autorin überbringt Zeugnisse der gebürtigen Königsberger Käthe Kollwitz und E. T. A. Hoffmann, sie nimmt an Feierlichkeiten zu Ehren Immanuel Kants teil, und sie sucht die alten Straßen, Plätze und vertrauten Winkel ihrer Kindheit. Die verwandelte Stadt, die Kaliningrad heißt und doch noch Königsberg wie Karalautschi ist, wird zum Ort der Begegnung mit liebenswerten Menschen, deren Schicksal unter den Hitler- und Stalinregimes betroffen macht. Die Autorin erringt ein neues, lebendiges Verhältnis zu dieser Stadt der Geburt und entdeckt sie als gemeinsame Heimat. Und so geht sie los, diese spannende Reise:

Zugfahrt nach Kaliningrad

An dem Zug stand es wirklich, an jedem Waggon sogar: KALININGRAD: Moskau-Kaliningrad.

Die da leicht benommen, hastigen Schritts, diesem Labkan eines Gepäckträgers zu folgen sucht, eine Frau, nicht mehr jung, füllig geworden, bin ich.

Und ich werde, alle Zeichen stehen dafür, in diesen Zug einsteigen.

Der nach Kaliningrad fährt …

Die Dolmetscherin hatte dem großen Menschen mit seiner Gepäckkarre eingangs des Belorussischen Bahnhofs gewinkt, flink sortierte er unsere Gepäckstücke. Die zwei großen in Packpapier verschnürten Kartons stapelte er auf Hinweis der Dolmetscherin gesondert. Sie hatte ihm auch die Nummer des Zugwagens genannt.

Geschickt durcheilte und umfuhr er die Menschentrauben, die sich jeweils um die Eingänge der Waggons sammelten. Rita – so heißt die Dolmetscherin – bleibt unserm Helfer am nächsten auf den Fersen.

Auch sie wird in diese Stadt fahren. Zum ersten Mal. In viele andere Städte der Sowjetunion hat sie deutsche Reisende begleitet. Oft mehrmals. Ich kenne ihre Empfindungen, unser Reiseziel betreffend, nicht, weiß aber schon, dass ein Haushalt daraufhin umorganisiert, eine schulpflichtige Tochter zu ihrer beider Leidwesen zur Großmutter umgesiedelt werden musste.

Daran, dass auch ich daheim verschiedenes zu ordnen hatte, einiges nicht ohne Sorge beließ, denke ich im Augenblick überhaupt nicht.

Was aber denke ich?

Vielleicht das, was ich weiß, aber kaum zu glauben wage: Ich fahre nach Kaliningrad?

Eher werde ich von einer Empfindung geleitet, die sich nicht in Bild und Gedanken umsetzt, die nur Erwartung ist, feierliche, freudige, aufgeregte. Ähnlich vielleicht jenem Gefühl, mit dem das Kind, vor fast fünfzig Jahren, mit den Eltern von der Großmutter auf den HUFEN kommend, durch winterliche Straßen ging, Kerzenschimmer hinter Fenstern entdeckte und so den heimatlichen Weihnachtsbaum und den darunter liegenden Geschenken in der TRAGHEIMER KIRCHENSTRASSE 17 entgegenfieberte.

Und so sehen also Menschen aus, die in dieser Stadt wohnen.

Ganz selbstverständlich sind sie in die Hauptstadt gefahren, haben Ämter aufgesucht, Freunde getroffen, eingekauft. Sind beladen mit Koffern und Kisten und fahren ganz natürlich in ihre Stadt zurück …

Natürlich – wie Leben ist, wenn es sich natürlich leben lässt …

Ich habe vor dreiundvierzig Jahren in einer furchtbaren, widernatürlichen Zeit meine Heimat verlassen müssen.

Ich war ein dreizehnjähriges Kind, dem erst viele Jahre später aufging, was es hieß, keine Heimat zu haben.

Meine Heimat liegt in der Stadt, in der diese Menschen wohnen, und nun bin ich auf dem Weg dorthin …

Nachwersche, Nachwersche,

Komm an den Zaun!

Wo bleibst du?

Heute ist der vierte Oktober. Gestern, am 3. also, bin ich von Berlin nach Moskau geflogen, um die Mittagszeit.

Ich war die letzte der Reisenden gewesen, die dem Flugzeug über eine weite Strecke des Flugplatzes zueilte, der entsprechende Bus hatte die Leute aus dem Flughafengebäude längst an der Gangway abgeliefert.

Natürlich begann sich meine mangelhafte Fähigkeit, Stress zu bewältigen, bereits gewaltig zu regen. Obwohl ich mich nach einem schlauen Psycho-Buch so präpariert hatte, dass ich Dinge annehmen wollte, wie sie auf mich zukämen.

Also bereit sein für das, was immer der Tag mir brächte. Sorge dich nicht – lebe, verlangte das Buch von mir, das wollte ich künftig auch von mir verlangen.

Vielleicht hätte ich lieber einen Tag später mit diesem Vorhaben beginnen sollen, denn was dieser 3. 10. mir abverlangte …

Wir waren zweieinhalb Stunden vor Flugbeginn aus der Wohnung aufgebrochen. Mein Mann hatte gegen meinen Wunsch darauf bestanden, mich nach Schönefeld zu bringen. Wir saßen schon im Auto, als uns ein Passant darauf aufmerksam machte, dass der linke Hinterreifen platt stünde.

Meinen Gedanken: Na bitte, hätte ich man lieber ein Taxi …, verbannte ich weit ins Unterbewusstsein, ging, um meinen Mann nicht nervös zu machen, noch einmal in die Wohnung, schielte, jede Sorge verneinend, durch die Gardine, bis er’s geschafft hatte, den Reifen zu wechseln.

Wir erreichten den Flughafen immer noch so zeitig, dass mein Mann in aller Ruhe jene großen Pakete von der Gepäckaufbewahrung abholte und wir ziemlich vorn in der Ansammlung vor dem Abfertigungsschalter standen.

Grafiken, neunundzwanzig an der Zahl, waren ein Geschenk der Akademie der Künste für die Stadt Kaliningrad.

Ich war sehr froh, nicht mit leeren Händen in meine ehemalige Heimatstadt zu kommen. Kunstfotos in Originalgröße von Grafiken der Käthe Kollwitz würden in der Geburtsstadt der Künstlerin bewahrt und ausgestellt werden können.

Und ich hatte etwas dafür getan!

Als wir an der Reihe waren, das Gepäck auf das Laufband stellten, bedeutete uns die Interflugangestellte, dass die Pakete zu sperrig seien und über einen anderen Weg ins Flugzeug gelangen müssten. Sie telefonierte nach jemandem.

Wir stellten uns beiseite, ließen 5-10-15-20 Minuten lang alle Reisenden vor. Niemand holte uns. Auch, als die junge Frau erneut telefonierte, nicht.

Da endlich wies uns ihre danebensitzende Kollegin den Weg zu einem Schalter, der sperriges Frachtgut annahm. Also dorthin!

Vor uns wurden Apparaturen und Gerätschaften eines Filmteams eingeräumt.

War aber schön, dass du vorhin wegen des Autos nicht nervös geworden bist, sagte mein Mann nun voll weiser Methodik.

Zum ersten Schalter zurück. Vor mir, in intensiver Abfertigung verharrend, eine BRD-Reisegruppe, nach mir niemand.

Wozu haben Sie ein Messer mit? fragt der Zollbeamte, als ich endlich dran bin, dabei immerfort grüble, ob sie die Pakete auch wirklich noch ins Flugzeug transportieren werden, ins richtige.

Rasch hatte ich noch während des Radwechselns ein kleines Küchenmesser und einen Teelöffel eingesteckt. Es konnte ja sein, dass ich mich einmal selbst zu versorgen hatte.

Und was den Löffel betraf, er stammte aus dem Silberkasten, den wir vor dreiundvierzig Jahren aus der Stadt KÖNIGSBERG mitgeschleppt hatten. Ihn beabsichtigte ich zum Abschied, als eine Art Anker, in den PREGEL zu werfen. Nun verankerten mich diese verflixten Gegenstände womöglich in Berlin!

Wie gut, dass der Beamte genau wusste, in welche Tasche ich die Dinger gesteckt hatte. Ich lieferte brav mein Mordwerkzeug ab und rannte mehr, als ich ging, zum Flugzeug, kam an, ehe die Gangway, wie ich es schon vor mir gesehen hatte, weggefahren wurde.

Schließlich sind fast alle Situationen unseres Lebens uns schon irgendwo einmal „vorgespielt” worden.“

Als Eigenproduktion der EDITION digital veröffentlichten Erika und Jürgen Borchardt erstmals 2017 „Der Schweriner Schlossgeist Petermännchen. Die schönsten Sagen und Geschichten, Teil 1. Wie Petermännchen schützt, lohnt, straft und neckt“: Der Schweriner Schlossgeist Petermännchen ist ein ungewöhnlicher Geist in der deutschen Mythologie: Obotritengott? Verwunschener Slawenprinz? Mittelalterlicher Poltergeist? Oder zwergenhafter Hofnarr? Auf jeden Fall nun Hausgeist des Schweriner Schlosses. Aber er geistert nicht allein im Schloss. Petermännchen ist zugleich ein Wandelgeist, lebt auch in einem Berg bei Schwerin, bewegt sich in Gängen unter der Erde, hat Behausungen und Schatzkammern im Wasser und kann durch die Lüfte fliegen. Der kleine Mann ist von großer Macht: Er macht sich unsichtbar, beobachtet alles, lohnt gute und straft böse Taten. Und er besitzt die Gabe eines Sehers und Warners, kündigt schlimme oder schöne Ereignisse an. All dies ist selten, wenn nicht gar einmalig bei ein und derselben Sagenfigur. Völlig wundersam sind die vielen verschiedenen Erlösungsarten, durch die der Schlossgeist seine frühere Gestalt wieder gewinnen könnte. Manche sind lustig, gar närrisch, andere dagegen unheimlich, unfassbar, geradezu haarsträubend – im Wortsinn. Vielleicht ist die Erlösung des kleinen Kerls aber gar nicht wünschenswert; die Folgen wären katastrophal für das Schloss, die Insel und ganz Schwerin! Andererseits: Wäre er erlöst, würde er als ein gerechter Herrscher das Land regieren. Wie soll man da den Bitten des Geistes um Erlösung begegnen?! Die mehrteilige Sagensammlung besteht aus neuen und aus bereits früher erschienenen Geschichten der Autoren, letztere sind zumeist stark überarbeitet. Im vorliegenden Buch sind jene Geschichten vereint, die davon handeln, wie Petermännchen schützt, lohnt, straft und neckt. Hier eine der schönen Geschichten, in dem sich das Petermännchen mit einem damals berühmten Kaiser anlegt – und zwar mit Erfolg, wie man sehen wird:

Napoleon hat die Nase voll

Der französische Kaiser Napoleon eroberte vor über 200 Jahren viele Länder Europas. Als Statthalter für Mecklenburg entsandte er General Laval nach Schwerin. Dieser nahm seinen Sitz in dem alten Fürstenschloss.

Der neue Herr und seine Soldaten benahmen sich recht manierlich, soweit das in Kriegszeiten möglich ist. Sie gewannen sogar einiges Wohlwollen, vor allem bei den Stadtarmen, weil diese mit Brot und Fleisch versorgt wurden. Und so manches Mädchen erwiderte die Schäkereien der fremden Soldaten in ihren schmucken Uniformen mit einem geschmeichelten oder gar koketten Lächeln.

Allein, es war doch Krieg. Erst zogen russische Kosaken durchs Land, dann preußische Jäger und Grenadiere, schließlich sächsische Husaren. Die Franzosen jetzt schienen sich gar festsetzen zu wollen. Der Herzog hatte sich mit seiner Familie außer Landes begeben, nur seine hochbejahrte Mutter blieb im Schloss. Sie musste mit ansehen, wie die mecklenburgischen Wappen entfernt oder überdeckt wurden. Überall erschien statt dessen der französische Adler als Herrschaftszeichen. Ständig marschierten französische Truppen mit viel Lärm durch die Stadt. Häufig donnerten Kanonen und kündeten von neuen Siegen des Kaisers der Franzosen. Die vielen Einquartierungen waren lästig, in so manchem Haus mussten die Familien für fünfzehn, manchmal sogar für zwanzig Soldaten Platz schaffen.

Petermännchen verbitterte das ganze Getöse der Eindringlinge. Auch tat ihm die Herzoginmutter leid. Auf ihre alten Tage solch eine Unruhe im Schloss.

Der empörte Kleine beschloss: Hier muss wieder Ruhe einziehen. Also hatten die fremden Herren und ihr ganzes Gefolge zu verschwinden. Schön gedacht, aber: Wer oder was konnte den Kaiser der Franzosen, den mächtigsten Mann der Welt, zwingen, diese Eroberung hier aufzugeben? Da schmiedete Petermännchen einen gewitzten Plan. Er würde dafür sorgen, dass die Franzosen von selber abzogen! Und sogleich machte er sich ans Werk.

Er blieb unsichtbar, war aber überall. Vorm Aufstehen versteckte er dem einen der Franzosen die Stiefel, die der dann fluchend suchte, dem andern machte er das Rasiermesser stumpf, so dass er sich in die Wange schnitt. Beim Essen schob er öfter eine Schüssel vom Tisch und die heiße Suppe ergoss sich bei jemandem auf die schöne Uniformhose. Und der hatte sie gerade gesäubert! Wenn einer einen Befehl des Generals ausführen wollte und loseilte, stolperte er, fiel hin und schlug sich die Nase blutig. Einem Offizier verpasste er mir nichts dir nichts handfeste Puffe, einem anderen gar Maulschellen. Ihnen wurde ganz wirr im Kopf, sie wussten gar nicht warum und von wem das kam. Nicht mal vor dem Schlaf und erst recht nicht im Schlaf fanden die Franzosen die ersehnte Ruhe. Bei dem einen wurde abends ständig die Kerze ausgeblasen, er stolperte über den Schemel und das Schienbein schmerzte ihm, es schmerzte so sehr, dass er überhaupt keinen Schlaf finden konnte. Im Raume eines anderen qualmte der Kamin fürchterlich, dass er im Schlaf beinahe erstickte. Und dann die ewige Polterei, gerade in der Nacht, das Türen- und Fensterzuschlagen, das Tisch- und Stühleumkippen, als ob das ganze Schloss wackelte, dazu das Gekrächze und Gejaule vom Dachboden her. So ging das über Monate hinweg, fast ein ganzes Jahr lang, jeden Tag und jede Nacht aufs Neue.

Was für Petermännchen beinahe vergnüglich war, wurde für die Franzosen mit jedem Tag immer schrecklicher. General Laval hörte das Geschimpfe und Klagen seiner Leute, was für ein widerwärtiges Dasein es doch wäre in diesem Schloss.

Nach außen schwiegen sie davon; sie wollten zu dem Ungemach nicht auch noch das Gespött und den Hohn der Mecklenburger ertragen. Laval berichtete seinem Kaiser Napoleon immer öfter von den unheimlichen Vorgängen, denen niemand seiner Leute gewachsen war. Einige waren sogar schon bei Nacht und Nebel desertiert. Ihm selber wäre auch sehr unbehaglich zumute in diesem Schloss. Überall wäre es kalt und zugig und ihn plage das Reißen in sämtlichen Gliedern. Am schlimmsten aber wäre, dass auch außerhalb des Schlosses niemand seiner Leute sicher war. Erst gestern sei auf dem Alten Garten ein großer Wagen mit Munition explodiert, die Granatsplitter flogen in alle Richtungen und verletzten viele seiner Leute. Nur der Teufel konnte wissen, wie das passierte.

Der Kaiser der Franzosen, das muss man so sagen, hatte, nach den vielen Beschwerden Lavals und jetzt nach dieser Explosion, die Nase einfach voll. Vor Wut wäre Napoleon fast selber explodiert; seine Soldaten, das wusste er nun wirklich, schlugen so manche Schlacht und gewannen sie alle, sie waren tapfere Leute und beklagten sich nicht ohne Grund. Diesem unheimlichen Wesen im Schweriner Schloss aber war offenbar nicht beizukommen. Kurz entschlossen befahl er General Laval, mit seinen Leuten das Schloss und das Land überhaupt zu verlassen, und als Herrscher setzte er wieder den Herzog von Mecklenburg ein. Sollte der doch diesen schrecklichen Bau bewohnen!

Nicht nur Petermännchen war erleichtert. Das ständige Poltern und Aushecken neuer Streiche hatte ihn ermüdet. Er war ja nicht gerade mehr der Jüngste. Auch die abziehenden Franzosen waren erleichtert. Hatten sie doch nun das Unwesen, wie sie sagten, nicht mehr am Halse. Niemand von ihnen ahnte die wahre Ursache.

Im selben Jahr 2017 erschien ebenfalls als Eigenproduktion der EDITION digital „Traumläufe im Irrgang. Ein Lebensroman in Träumen – Traumaufzeichnungen aus fünf Jahrzehnten“ von Peter Arlt: Traumläufe offenbaren im Schlaf teils merkwürdig reale, teils phantastische Bilder, die – nach Sigmund Freud – einen Königsweg zum Unbewussten eröffnen und uns durch berührendes filmisches Geschehen in seelische und körperliche Erregungszustände versetzen. In bildlich verdichteten Miniaturen erweitern sie die innere Biografie überpersönlich und reflektieren Zeitläufte: „Bemerkenswert, wie in den Inhalt der Träume die politische Wende Eingang gefunden hat“ (Christa Wolf an Peter Arlt, 1995). Selbstbehauptung und Abwehrkämpfe, zwei Lieben im Zentrum des Wie-Weiter, sind in konfliktgeschüttelten Handlungen lose aneinander gekettet zu einem Lebensroman in Träumen. Hier ein paar frühe Beispiele:

Träume

1

Ich träumte von einer sechszehnjährigen Schülerin, die sich in mich verliebt hat und die ich dann auch heirate. Träumerei – Spinnerei, ja! Doch vielleicht verbirgt sich etwas dahinter?

29.08.1969

2

Der junge Lyriker, mein Freund Jochen Wiesigel, ist gestorben. Im Traum hieß er anders, da wechselten die Namen ständig, während einer in Versalien geschrieben auf einem Brett stand, mit IJ in der Mitte. Bei seiner Frau schlief ich. Ich schlief; sie betrachtete mich; und ich sah uns beide. Auch in einem Hotel war ich, gleich neben dem Wohnhochhaus der Hochschule, wo die Straßenbahnlinie 3 endet. Und immer war dieser junge Dichter oder Nicht-Dichter, wohl doch Jochen, tot. Zu Beginn der Traumfolge wollte er mich selbst, wie mir später aufgeht, von seinem Tod in Kenntnis setzen. Doch durch den Krach an der Straßenbahnhaltestelle ging das unter.

26.02.1970

3

In einer Kabine stehe ich nackt auf einer sich drehenden Plattform. Duschte ich schon oder noch nicht? Jedenfalls erblicke ich bei jeder Umdrehung durch das Kabinenfenster ein schönes nacktes Mädchen. Sie steht unbewegt mit kühler Miene und sieht mich kurz, bis ich an ihr vorbei bin. Begierig warte ich darauf, dass ich wieder an ihr vorüberkomme. Sie hat eine erregende Hüftlinie; und ich errege mich. Ich schäme mich deshalb vor ihr, denn ihr Gesichtsausdruck bleibt kühl. Und das wiederum erregt mich noch mehr. Ich verschlinge den Anblick ihrer schönen Gestalt und komme, vor ihr gekrümmt, zum Orgasmus. Gelassen fährt sie an mir vorbei. Erst jetzt wird mir im Traum bewusst, unter der Dusche zu stehen. Ihr warmes Wasser spült mir das Sperma vom Körper.

08.01.1971

4

Auf meinen Armen halte ich unsere einjährige Tochter, damit sie aufstoßen soll. Plötzlich kündigt sich an, dass sie brechen wird. Ich rufe meine Mutter und halte Solveig seitwärts. Aus ihrem Mund fließt eine dicke Flüssigkeit, erst Blut, danach Brei, in welchem eine seltsame Pflanzenform wie ein Zeichen smaragdgrün aufleuchtet. Neben mir sagt meine Mutter dumpf: „Das ist das grüne Kreuz. Bei wem es sichtbar wird, der stirbt.“ – Entsetzt presse ich mein Kind an mich und stammle: „Mutti, Mutti!“

05.02.1972

5

In einem Kindergarten, an dessen Wänden mehrere Bilder hängen, stehe ich zwischen den Kindern in einer Reihe. Nacheinander rennen sie zu dem ihnen gegenüberhängenden Bild, werfen einen kurzen Blick auf das Bild und rennen dann zurück. Die das am schnellsten taten, bekamen den meisten Beifall. Die nicht schnell genug hin und her rannten und länger vor dem Bild stehenblieben, wurden ungeduldig angemurrt.

11.03.1978

6

Ich höre einen Vogeltriller, spüre plötzlich einen warmen Windhauch, in ihm der Duft von Flieder.

30.10.1979

7

Im Fernsehen wird eine Rede Erich Honeckers übertragen, die er überraschenderweise frei in einem lebendigen Vortrag zu Gehör bringt und mit Lockenwicklern im Haar.

24.04.1981

8

Ich befinde mich in einer Ausstellung, wo ich nach dem neuen Gedichtband Hanns Cibulkas frage. Der Verantwortliche gibt mir einen Band des „Rebstockes“ und verweist mich auf ein seiner Meinung nach herrliches Gedicht, das fotografisch unterlegt ist.

Es lautet:

„Gehen.

Gehen.

Gehen.

Gehen.

Gehen.“

Die Fotografie darunter zeigt Cibulka, wohl mehrmals, und Kurt Kauter und vielleicht noch ein, zwei andere, wie sie einen schmalen, aber tiefen Bach durchschreiten und lachend das andere Ufer betreten. Ich bin beeindruckt, eine Gänsehaut überläuft mich. Dem Buchhändler erkläre ich, dass die Tiefe des Gedichtes aus dem Assoziationsreichtum des Wortes „gehen“ gewonnen würde, zumal das letzte „Gehen“ an ein Gehen für immer erinnern könnte und damit dem Gedicht etwas Tragisches verleiht.“

Es ist jedenfalls eine ebenso ungewöhnliche wie faszinierende Lebensreise, die sich da dem Leser in dem Traum-Tagebuch von Peter Arlt offenbart und es ist schon erstaunlich, mit welchen Assoziationen man es zu tun bekommt und nicht zuletzt steht die Frage im Raum, wie und wann der Autor seine Traumerlebnisse jeweils aufgezeichnet hat. Und vielleicht wäre es überhaupt eine gute Idee, sich ebenfalls ein Traum-Tagebuch anzulegen? Wer weiß, auf welche ebenso ungewöhnlichen wie faszinierenden Nachtgedanken man dabei stößt? Und welche Wege sie einem zum eigenen Unbewussten öffnen. Auf jeden Fall wäre es wohl einen Versuch wert.

Viel Vergnügen beim Lesen und beim eigenen Träumen (und anschließenden Aufzeichnen), weiter einen schönen Frühling und bleiben auch Sie in diesen noch immer unentschlossenen und teils bedrückenden Zeiten weiter vor allem schön gesund und munter. Und bis demnächst. Und wie gesagt: Träumen Sie was Schönes. Es muss ja nicht gleich ein Lebensroman werden.

Über die EDITION digital Pekrul & Sohn GbR

EDITION digital war vor 26 Jahren ursprünglich als Verlag für elektronische Publikationen gegründet worden. Inzwischen gibt der Verlag Krimis, historische Romane, Fantasy, Zeitzeugenberichte und Sachbücher (NVA-, DDR-Geschichte) sowie Kinderbücher gedruckt und als E-Book heraus. Ein weiterer Schwerpunkt sind Grafiken und Beschreibungen von historischen Handwerks- und Berufszeichen sowie Belletristik und Sachbücher über Mecklenburg-Vorpommern. Bücher ehemaliger DDR-Autoren werden als E-Book neu aufgelegt. Insgesamt umfasst das Verlagsangebot, das unter www.edition-digital.de nachzulesen ist, mehr als 1.000 Titel. E-Books sind barrierefrei und Bücher werden klimaneutral gedruckt.

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