Karosh Taha gelingt es in ihrem Roman – so die Jury – »eine Vielzahl von Figuren mit all ihren Sehnsüchten und Abgründen darzustellen und wie nebenbei auch eine Geschichte von Einwanderung und Verlust zu erzählen. Mit atemberaubender Einfühlungskraft schildert sie, wie unentrinnbare, schicksalhafte Umstände entstehen und Menschen vor Lebensentscheidungen gestellt werden. Die sorgfältige, genaue und originelle Sprache erzeugt einen Sog, der den Fortgang der Handlung intensiviert und ihm eine mitreißende Spannung verleiht.« Das Buch ist als Wendebuch angelegt, von zwei Seiten lässt sich eine Handlung aus verschiedenen Perspektiven verfolgen, die einander spiegeln und ergänzen, auch widersprechen und – so die Jury weiter: »Nicht alle Fäden werden bis zum Ende verfolgt, nicht alle Knoten gelöst, den Figuren bleibt ihr Geheimnis: Das verleiht diesem brillanten Buch seine existentielle Kraft.«
Semra Ertan erhält eine außerordentliche Alfred-Döblin-Medaille für ihren postum erschienenen Gedichtband ›Mein Name ist Ausländer‹. Als junges Mädchen ist sie aus der Türkei, wo nach dem Militärputsch Kriegsrecht herrschte, zu ihren Eltern nach Deutschland gezogen. Bildung wird ihr verwehrt. Dass sie beginnt, Gedichte zu schreiben, zunächst auf Türkisch, dann auf Deutsch, »ist ein Akt des Aufbruchs in das Eigene, des Widerstands«. »Semra Ertan«, so die Jury in ihrer Begründung, »erarbeitet eine Poetik der Insuffizienz, die den angeblichen Makel des angetanen Außenseitertums in Stolz verwandelt. Ihre Gedichte sind lehrhaft und lernbegierig, dokumentarisch und träumerisch. Sie erschreibt sich ›das erwünschte Leben‹. In ›Mein Name ist Ausländer‹ erweist sich das Selbstbewusstsein einer jungen Dichterin, die sich schreibend denkt und schreibend das Wahrgenommene unter ethischen Gesichtspunkten prüft und dabei häufig verwirft. Ihr Tod ist ein Fanal, dass das Dichten in einer gleichgültigen Welt nicht geholfen hat.«
Zu den Preisträgerinnen
Karosh Taha wurde 1987 in Zaxo (Autonome Region Kurdistan) geboren. Seit 1997 lebt sie im Ruhrgebiet. Sie studierte Englisch und Geschichte und arbeitete zunächst als Lehrerin. 2018 erschien ihr Debütroman ›Beschreibung einer Krabbenwanderung‹, 2020 der Roman ›Im Bauch der Königin‹. Sie wurde mehrfach mit Preisen und Stipendien ausgezeichnet, u.a. dem Förderpreis des Landes NRW, dem Hohenemser Literaturpreis und dem Rolf-Dieter-Brinkmann-Stipendium.
Semra Ertan, geboren 1957 in Mersin/Türkei, zog 1972 zu ihren Eltern, die in der Bundesrepublik Deutschland als Arbeitsmigranten lebten. Sie arbeitete als technische Bauzeichnerin, Schriftstellerin und Dolmetscherin und schrieb über 350 Gedichte und einige Satiren. 1982 starb sie in Hamburg. Ihre Gedichte wurden von ihrer Schwester Zühal Bilir-Meier und ihrer Nichte Cana Bilir-Meier herausgegeben.
Zühal Bilir-Meier studierte Agrarwissenschaft und Sozialpädagogik und arbeitet als Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche in München.
Cana Bilir-Meier studierte Kunstpädagogik und Digitale Medien, sie arbeitet als Filmemacherin, Kunstpädagogin und in Projekten bildender Kunst. Gemeinsam mit ihrer Mutter Zühal Bilir-Meier und weiteren Menschen hat sie 2018 die Initiative in Gedenken an Semra Ertan in Hamburg gegründet.
Mit der Alfred Döblin-Medaille würdigt die Akademie Autorinnen und Autoren für deren erste vielversprechende Veröffentlichungen und Arbeiten. Der Preis ist mit 5.000,- € dotiert. Mit der Auszeichnung wird an einen der Mitbegründer der Akademie der Wissenschaften und der Literatur erinnert – an Alfred Döblin, dem die Akademie 1949 die Einrichtung einer Klasse der Literatur zu verdanken hat. Ein Termin für die Preisverleihung steht aufgrund der pandemischen Entwicklung noch nicht fest. Zur Verleihung ergeht eine gesonderte Einladung.
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