Das IMK empfiehlt zudem, vorläufig die Option offenzuhalten, die Notfall-Ausnahmen von der Schuldenbremse auch 2022 noch zu nutzen. Die Düsseldorfer Forscher prognostizieren zwar für 2021 ein Wirtschaftswachstum um spürbar über 4 Prozent, diese Größenordnung ist nach Analyse des IMK auch zu halten, wenn der Lockdown bis Ende Januar verlängert würde. Damit wäre der tiefe Einbruch aus 2020 (-5,0) Prozent aber noch nicht wieder ausgeglichen. "Eine frühzeitige Festlegung darauf, ab 2022 die Schuldenbremse wieder einzuhalten, birgt die Gefahr, die Erholung abzuwürgen und würde dadurch auch die Konsolidierung gefährden", warnen die Konjunkturexpertinnen und -experten. Denn bei schleppendem Wachstum würden sich erstens die Staatseinnahmen langsamer erholen, zum zweiten würde sich die staatliche Schuldenstandsquote, die die Verbindlichkeiten ins Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) setzt, ungünstiger entwickeln. Diese Quote wird unter Ökonomen und an den Finanzmärkten als zentrale Größe betrachtet, um die "Bonität" staatlicher Schuldner zu beurteilen.
Dagegen gilt nach Analyse des IMK: "Kreditfinanzierte Investitionen, die dazu beitragen, Deutschland zu einem klimaneutralen, digitalisierten, forschungsstarken Industriestandort zu machen, sind ökonomisch sinnvoll. Sie würden die Rückführung der Schuldenstandsquote zwar verlangsamen, die Verschuldung würde relativ zur Wirtschaftsleistung aber dennoch stetig sinken, zumal die Zukunftsinvestitionen die Wirtschaftsleistung erhöhen und somit die Schuldentragfähigkeit günstig beeinflussen." Zusammen mit dem Institut der Deutschen Wirtschaft hatte das IMK Ende 2019 einen zusätzlichen öffentlichen Investitionsbedarf von mehr als 450 Milliarden Euro bis 2030 ermittelt.
Die Verlangsamung beim Rückgang der Schuldenstandsquote wäre dabei marginal, weil Tilgungen im Vergleich zum Wachstumseffekt nur eine nachgeordnete Rolle spielen. Das zeigt das IMK am Beispiel der Entwicklung nach der Finanz- und Wirtschaftskrise, als sich die Bundesrepublik zur Krisenabwehr ebenfalls verschuldet hatte – und zwar noch deutlich stärker als bislang im Zuge der Corona-Pandemie. So betrug die Schuldenquote 2012 knapp 82 Prozent des BIP. Bis Ende 2019 sank sie um 21,4 Prozentpunkte. Davon entfielen lediglich 4,9 Prozentpunkte darauf, dass Kredite zurückgezahlt wurden (siehe auch die Abbildung in der pdf-Version dieser PM; Link unten). "Der Rückgang der Schuldenquote war also zu mehr als drei Vierteln Wirtschaftswachstum und Inflation geschuldet, nur ein kleiner Teil war Tilgung. Und das in Jahren, in denen die Wirtschaft im Durchschnitt solide, aber keineswegs besonders dynamisch gewachsen ist", sagt Prof. Dr. Sebastian Dullien, der wissenschaftliche Direktor des IMK.
Auch für die Entwicklung der Schuldenstandsquote über die kommenden Jahre hat die Tilgung nach der IMK-Analyse keine große Bedeutung: Mit oder ohne Tilgung dürfte die Schuldenstandsquote in der zweiten Hälfte der 2020er-Jahre von heute gut 70 Prozent des BIP unter die 60-Prozent-Marke fallen – bei Beachtung der in der Schuldenbremse geltenden Tilgungsregeln etwa ein Jahr früher als ohne Tilgung. Ein durchschnittliches Wirtschaftswachstum von knapp einem Prozent und Inflation von 1,6 Prozent würden dafür reichen. "Ein Jahr zeitlicher Unterschied bei der Reduzierung der Schuldenquote fällt kaum ins Gewicht. Dagegen wäre der Unterschied beim Spielraum für dringend notwendige öffentliche Investitionen erheblich", sagt Dullien. "Deshalb sollte die Wirtschaftspolitik den Investitionen unbedingt den Vorrang geben. Zumal sich der Bund auf absehbare Zeit auch für sehr lange Zeiträume von 30 Jahren zu Negativzinsen verschulden kann. Die Gläubiger würden unsere öffentlichen Investitionen also sogar finanziell unterstützen. Bei den aktuellen Negativzinsen müsste der Staat selbst bei moderater Inflation in Einklang mit dem EZB-Inflationsziel nach 30 Jahren inflationsbereinigt lediglich etwa knapp die Hälfte der geliehenen Summe zurückzahlen oder refinanzieren."
– Schuldenregeln an veränderte Realität anpassen –
Das IMK empfiehlt, die Schuldenregeln in Deutschland und auf EU-Ebene an die Realität anzupassen, die sich in den letzten anderthalb Jahrzehnten stark verändert hat: "Die Schuldenbremse wurde zu einem Zeitpunkt eingeführt, als die Zinsausgaben relativ zu den Einnahmen der Gebietskörperschaften um ein Mehrfaches über dem aktuellen Niveau lagen", heißt es in der Analyse. Gegenwärtig, "vor dem Hintergrund der noch länger andauernden Niedrigzinsphase", seien die Kosten der Verschuldung dagegen "zu vernachlässigen", insbesondere, wenn sie in Investitionen fließen. "Entsprechend sollten die Prioritäten der Finanzpolitik überdacht werden", so die Ökonominnen und Ökonomen.
Für den Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt, der nach fast 30 Jahren Gültigkeit derzeit von der EU überprüft wird, hat das IMK bereits ein Reformkonzept entwickelt. Für Investitionen sollte danach künftig die sogenannte Goldene Regel gelten. Sie besagt, dass öffentliche Investitionen generell über Kredite finanziert werden können. Die Begründung: Auch künftige Generationen profitieren von einer Erhöhung des Kapitalstocks, deshalb können und sollen sie auch an der Finanzierung beteiligt werden. Zudem sollte die geltende Defizitgrenze von 3 Prozent des BIP durch eine Ausgabenregel ersetzt werden, die das Wachstum der konjunkturunabhängigen, nicht-investiven Staatsausgaben begrenzt, sobald der Schuldenstand eine gewisse Grenze überschreitet. Als einen weiteren Reformbaustein nennen die Ökonomen eine neue Obergrenze für die erlaubte Schuldenquote. Angesichts des veränderten Zinsniveaus wäre nach Berechnung der IMK-Forscher heute eine Schuldenquote von 100 Prozent verkraftbar statt der bislang geltenden 60 Prozent. Inklusive eines "Sicherheitspuffers für unvorhergesehene Krisen" schlagen sie eine Obergrenze von 90 Prozent des BIP vor.
– Corona-Krise zeigt Schutzlücken auf dem Arbeitsmarkt drastisch –
Neben der Fiskalpolitik sieht das IMK auch auf dem Arbeitsmarkt Reformbedarf, der durch die Erfahrungen während der Corona-Pandemie noch einmal unterstrichen wurde. So habe die Beschäftigungssicherung über Kurzarbeit insgesamt bislang gut funktioniert. Doch bei Soloselbständigen oder Minijobbern zeigt sich nach der IMK-Analyse nun zugespitzt, wie riskant es ist, große Erwerbstätigengruppen aus den sozialen Sicherungssystemen auszukoppeln. Daher empfehlen die Wissenschaftler, Minijobs verstärkt in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu überführen und darüber nachzudenken, auch für Selbständige eine Versicherungspflicht in der Arbeitslosenversicherung einzuführen. Dadurch ergäbe sich ein Anspruch auf Kurzarbeitergeld. Zudem plädieren sie für ein höheres Kurzarbeitergeld für Beschäftigte mit Niedriglöhnen.
Grundsätzlich liege die "Zukunft der deutschen Volkswirtschaft" auch angesichts der demografischen Entwicklung, des technischen Fortschritts und der anstehenden digital-ökologischen Transformation "nicht in schlecht bezahlten Teilzeitbeschäftigungsverhältnissen mit einem geringen Stundenumfang, ohne Sozialversicherungsschutz und multiplen Prekaritätsrisiken", schreiben die Expertinnen und Experten. Neben den Investitionen in technische Infrastruktur seien vielmehr Investitionen in qualifizierte Beschäftigung notwendig. Dazu zählt das IMK eine Stärkung der Tarifbindung sowie die Einführung eines Transformationskurzarbeitergeldes, das im Fall von transformationsbedingten Arbeitsausfallzeiten Kurzarbeit und gleichzeitige Qualifizierung absichert.
*Sebastian Dullien, Alexander Herzog-Stein, Katja Rietzler, Silke Tober, Sebastian Watzka: Wirtschaftspolitische Herausforderungen 2021: Die Erholung nachhaltig gestalten. IMK-Report Nr. 164, Januar 2021. Download: https://www.boeckler.de/pdf/p_imk_report_164_2021.pdf
Mehr zu den konjunkturellen Aussichten und den wirtschaftspolitischen Herausforderungen 2021 auch in der neuen Folge unseres Podcasts SYSTEMRELEVANT mit Sebastian Dullien: https://systemrelevant.podigee.io/40-imk-herausforderungen-2021
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