Mindestens 450 Milliarden Euro zusätzlicher Investitionsbedarf, schon vor Corona
Deutschlands Infrastruktur muss dringend modernisiert und ausgebaut werden, um die Herausforderungen durch Digitalisierung, Klimawandel und demografische Entwicklung bewältigen zu können. Auf 450 Milliarden Euro bis 2030 hat eine gemeinsame Studie des IMK und des Instituts der Deutschen Wirtschaft Ende 2019 den zusätzlichen Investitionsbedarf beziffert. Die für den Bundeshaushalt erlaubte jährliche Neuverschuldung von maximal 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts lässt viel zu wenig Raum für die notwendigen Zukunftsinvestitionen. Bleiben Investitionen aber aus, geht das auf Kosten aller Generationen, besonders der jungen, die von einer leistungsfähigen Infrastruktur und positiven Wachstumsimpulsen langfristig am stärksten profitieren würde. Durch die Corona-Pandemie sind die Anforderungen eher größer geworden, dagegen haben sich die finanziellen Möglichkeiten, Investitionen direkt aus Steuereinnahmen zu finanzieren, zumindest für die nächsten Jahre deutlich reduziert.
Angesichts des hohen Investitionsbedarfs, beispielsweise zur raschen Reduzierung des CO2-Ausstoßes in Deutschland, begrüßen Hermes, Vorwerk und Beckers, "dass die grundgesetzlichen Regelungen zur Schuldenbremse des Bundes eine Etablierung von ÖIG erlauben." Es sei – ausgehend von der derzeitigen Verfassungslage – "zu empfehlen, eine Kreditfinanzierung von Investitionen durch den Bund zu ermöglichen, indem ÖIG eingerichtet werden, und auf diese (Kredit-)Finanzierungsmöglichkeiten im Bedarfsfall zurückzugreifen", schreiben die Wissenschaftler. Im Übrigen weisen die von Hermes, Vorwerk und Beckers untersuchten ÖIG große Ähnlichkeiten zu den so genannten "Investitionsfördergesellschaften" (IFG) auf, die in einem kürzlich veröffentlichten Gutachten vom Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) für die staatliche Kreditfinanzierung von Infrastrukturinvestitionen ins Spiel gebracht worden sind.
Kreditfinanzierungsverbote für Investitionen in Schuldenbremsen: makroökonomisch problematisch, oftmals ineffektiv und ineffizient
In der für das IMK erstellten Studie weisen Hermes, Vorwerk und Beckers darauf hin, dass es im Kontext des erheblichen Investitionsbedarfs aus makroökonomischer Sicht bedeutsam sei, öffentliche Investitionen auch durch eine Kreditaufnahme zu realisieren. Das sei durchaus generationengerecht, betonen die Wissenschaftler: "Unter den aktuellen ökonomischen Rahmenbedingungen in Deutschland erscheint eine heutige öffentliche Verschuldung sogar völlig unproblematisch für die intergenerative Lastenverteilung."
Am konsequentesten wäre es nach Analyse der Forscher, die grundgesetzliche Schuldenbremse umfassend zu reformieren und mehr Spielräume für kreditfinanzierte Investitionen zu etablieren. Solange dies nicht erfolgt, schaffen ÖIG eine sinnvolle Möglichkeit, Kredite zur Investitionsfinanzierung aufzunehmen. Damit stellen sie auch einen Ersatz für den vom Bund seit Jahren genutzten Weg dar, Investitionen im Rahmen von öffentlich-private Partnerschaften (ÖPP) finanzieren zu lassen. Dabei realisieren Privatunternehmen Infrastrukturprojekte, beispielsweise einen Autobahnabschnitt, über Kredite. Ihre Schulden tilgen sie später über vorab vereinbarte Vergütungszahlungen des Staates. ÖPP-Projekte werden aktuell oftmals genutzt, um Investitionsspielräume auszuweiten, auch wenn sie nicht den kostengünstigsten Weg zur Beschaffung darstellen, kritisieren die Wissenschaftler.
Investitionsgesellschaften fallen nicht unter die Schuldenbremse und lassen sich effektiv kontrollieren
Als wirtschaftlichere und transparentere Alternative, um notwendige Investitionen trotz enger Schuldenbremse möglich zu machen, schlagen Hermes, Vorwerk und Becker deshalb Öffentliche Investitionsgesellschaften vor. Solche ÖIG sind rechtlich selbständige Gesellschaften des Bundes in öffentlich-rechtlicher oder privatwirtschaftlicher Rechtsform, die eine staatliche Investitionsaufgabe übernehmen. Um diese Aufgabe zu erfüllen, können ÖIG auch Kredite aufnehmen.
Die Schuldenbremse blockiert die Kreditaufnahme von ÖIG nicht, betonen die Wissenschaftler, da sich die Regelung im Grundgesetz nur auf die direkten öffentlichen Haushalte bezieht. Positionen einzelner Juristen, die Schuldenbremse auch als bindend für ÖIG anzusehen, sind aus Sicht der Experten nicht überzeugend. Dabei verweisen sie u.a. darauf, dass die bereits praktizierte indirekte Kreditfinanzierung öffentlicher Infrastrukturvorhaben über ÖPP durch den Bund nicht möglich wäre, wenn man die grundgesetzliche Reichweite der Schuldenbremse sehr weit auslegen würde.
Voraussetzung für die Möglichkeit der Kreditfinanzierung von Investitionen durch ÖIG sei, dass diese durch Bundesgesetz eingerichtet werden und nicht nur rechtlich selbstständig sind, sondern auch über eine eigene Sachaufgabe verfügen, die z.B. in Bau, Erhaltung und Betrieb von Infrastrukturanlagen oder einer Sicherstellung des klimaneutralen Umbaus von Infrastrukturbereichen bestehen kann. Die Forscher betonen, dass eine rechtliche Selbstständigkeit von ÖIG keinesfalls mit einem Verlust an politischer Steuerung, parlamentarischer Kontrolle und letztlich demokratischer Legitimation einhergehen muss. In dem zur Gründung der ÖIG erforderlichen Bundesgesetz können vielmehr der politische Einfluss definiert und eine transparente und effiziente Steuerung sichergestellt werden. Erhöhten Zinskosten einer ÖIG im Vergleich zu einer Kreditfinanzierung über den Bundeshaushalt kann aus Sicht von Hermes, Vorwerk und Beckers entgegengewirkt werden, indem ÖIG in öffentlich-rechtlicher Rechtsform errichtet oder mit einer Staatsgarantie ausgestattet werden.
ÖIG nutzen, aber auch über Verfassungsänderung nachdenken
Als Ergebnis ihrer Analyse empfehlen die Experten – ausgehend von der derzeitigen Verfassungslage – den Einsatz von ÖIG. "Insbesondere Investitionen, bezüglich deren Realisierung ein breiter politischer Konsens besteht, dürften sich hierfür eignen", schreiben Hermes, Beckers und Vorwerk. "Dies dürfte in besonderer Weise für Investitionen gelten, die einen effektiven Beitrag zu einer effizienten Dekarbonisierung des Energie- und Wirtschaftssystems in den kommenden Jahrzehnten leisten." Das Grundgesetz biete im Übrigen auch den Bundesländern die Möglichkeit, ÖIG zu etablieren und Investitionen durch eine Kreditaufnahme zu finanzieren, betonen die Wissenschaftler.
Auch wenn die Schuldenbremse des Bundes eine Kreditfinanzierung von ÖIG ermöglicht, regen Hermes, Vorwerk und Beckers an, eine Verfassungsänderung in Betracht zu ziehen, die eine Kreditfinanzierung von – zumindest bestimmten – Investitionen über den Bundeshaushalt wieder zulassen würde. Darüber hinaus sollte angestrebt werden, dass die europäischen Schuldenbremsen so modifiziert werden, dass auch sie eine Finanzierung von gewissen Investitionen über Kredite im Haushalt erlauben.
*Georg Hermes, Lukas Vorwerk, Thorsten Beckers: Die Schuldenbremse des Bundes und die Möglichkeit der Kreditfinanzierung von Investitionen – Rechtslage, ökonomische Beurteilung und Handlungsempfehlungen. IMK Study Nr. 70, Oktober 2020. Download: https://www.boeckler.de/de/faust-detail.htm?sync_id=9095
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