„Das gilt vor allem, wenn sie länger dauern. Damit gefährden Schulschließungen ohne ein geeignetes Konzept für das Lernen zu Hause den Gleichheitsanspruch der Bildungspolitik“, schlussfolgert Neidhöfer. Als Konsequenz fordern die Studienautoren von der Politik die Entwicklung digitaler Lernformate, um auch während der Schulschließungen alle Kinder zu erreichen. Denn durch den Unterrichtsausfall könnten bei den Schülerinnen und Schülern Lerndefizite entstehen. Insbesondere bei den schulischen Leistungen kann sich die Ungleichheit von Kindern mit unterschiedlichem familiärem Hintergrund erhöhen.
Ein Viertel der Kinder braucht ein zusätzliches Schuljahr
Kinder aus sozioökonomisch verschiedenen Elternhäusern unterscheiden sich teilweise beträchtlich in ihren schulischen Leistungen. „Um Defizite auszugleichen, bräuchten die schwächsten 25 Prozent der Schülerinnen und Schüler im Mittel etwa ein zusätzliches Schuljahr“, sagt ZEW-Wissenschaftler Maximilian Bach aus dem Forschungsbereich „Arbeitsmärkte und Personalmanagement“ und Mitautor der Studie. „Das zeigt, dass die Ungleichheiten bei den Lernergebnissen je nach Familienumgebung schon bei der Einschulung groß sind.“ Denn Erstklässlerinnen und Erstklässler, deren Eltern Abitur und eventuell einen Hochschulabschluss haben oder die einen prestigeträchtigen Beruf ausüben, erzielen in Tests wesentlich bessere Ergebnisse. Die Einschätzung ihrer Leistungen durch Lehrerinnen und Lehrer fällt ebenfalls positiver aus. Besonders deutlich wird dies bei den sprachlichen Fähigkeiten. Präsenzunterricht an der Schule gleicht die Wirkung von wirtschaftlichen und sozialen Unterschieden im Familienumfeld teilweise aus. Vor den Corona-bedingten Schulschließungen erzielten Grundschülerinnen und Grundschüler im Laufe eines Monats ähnlich gute Lernfortschritte – unabhängig von ihrem familiären Umfeld, wie die Studienautoren darlegen. Schulschließungen bewirken dagegen, dass die Herkunft der Schülerinnen und Schüler einen stärkeren Einfluss auf ihre schulischen Leistungen bekommt. Diese Ergebnisse lassen sich zwar nicht ohne weiteres auf eine Zeit von drei Monaten oder ein ganzes Schuljahr hochrechnen. „Die Analyse verdeutlicht aber, dass die Lernzuwächse im Präsenzunterricht in der Schule unabhängig vom Familienhintergrund sind“, sagt Guido Neidhörer. „Da alle Schülerinnen und Schüler ein vergleichbares Lernumfeld vorfinden, können sie in der Schulzeit etwa gleich viel dazulernen. Zeiten, in denen die Schulen geschlossen sind, verstärken daher Ungleichheit, insbesondere in den ersten Grundschuljahren.“
Potenzial von Smartphones nutzen
Ein weiteres Indiz für die Auswirkung von Schulschließungen liefern die Sommerferien. Die ZEW-Kurzexpertise zeigt, dass der Lernzuwachs von der ersten zur zweiten Klasse je nach Herkunft der Schülerinnen und Schüler variiert. Kinder von Erziehungsberechtigten mit geringerer Bildung und Berufsprestige fallen bei den schulischen Lernergebnissen nach den Sommerferien wieder zurück.
Ein bisher ungenutztes Potenzial für den Unterricht während Schulschließungen liegt in der hohen Verbreitung von digitalen Geräten. Mehr als 90 Prozent aller Sechstklässlerinnen und Sechstklässler besitzt nach Angabe ihrer Erziehungsberechtigten ein eigenes Handy. „Das Potenzial von Smartphones sollte verstärkt für eine Professionalisierung des Lernens zu Hause genutzt werden, um dem Gleichheitsanspruch auch außerhalb des Lernortes Schule gerecht zu werden“, sagt Maximilian Bach. „Der Aufwand für die öffentliche Hand, diejenigen Kinder ohne Handy entsprechend auszustatten, sollte sich in einem vertretbaren Rahmen halten.“
Schulunterricht in die digitale Gegenwart holen
Die Autoren plädieren dafür, Lernformate zu erarbeiten, die Lernergebnisse auch in Zeiten von Schulschließungen unabhängig vom Familienhintergrund machen. Dazu gehören digitale Interaktionsmöglichkeiten auch außerhalb des Unterrichts an Schulen. Ein erprobtes Beispiel stellen etwa Mentoring-Programme dar, bei denen Schülerinnen und Schüler mit Lerndefiziten von Studierenden außerhalb der Schule beim Lernen begleitet werden. „Wir empfehlen der Politik, die Pandemie zum Anlass zu nehmen, um Schulunterricht in die digitale Gegenwart zu holen und neu zu strukturieren. Nur so kann der Staat den Anspruch einlösen, allen Kindern möglichst vergleichbare Lernumwelten bereitzustellen“, erklärt Guido Neidhöfer.
Das ZEW in Mannheim forscht im Bereich der angewandten und politikorientierten Wirtschaftswissenschaften und stellt der nationalen und internationalen Forschung bedeutende Datensätze zur Verfügung. Das Institut unterstützt durch fundierte Beratung Politik, Unternehmen und Verwaltung auf nationaler und europäischer Ebene bei der Bewältigung wirtschaftspolitischer Herausforderungen. Zentrale Forschungsfrage des ZEW ist, wie Märkte und Institutionen gestaltet sein müssen, um eine nachhaltige und effiziente wirtschaftliche Entwicklung der wissensbasierten europäischen Volkswirtschaften zu ermöglichen. Durch gezielten Wissenstransfer und Weiterbildung begleitet das ZEW wirtschaftliche Veränderungsprozesse. Das ZEW wurde 1991 gegründet. Es ist Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft. Derzeit arbeiten am ZEW Mannheim rund 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, von denen rund zwei Drittel wissenschaftlich tätig sind.
Forschungsfelder des ZEW
Arbeitsmärkte und Personalmanagement; Digitale Ökonomie; Innovationsökonomik und Unternehmensdynamik; Internationale Finanzmärkte und Finanzmanagement; Soziale Sicherung und Verteilung; Umwelt- und Ressourcenökonomik, Umweltmanagement; Unternehmensbesteuerung und Öffentliche Finanzwirtschaft; Marktdesign.
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