Patientenzahlen in Dossiers lassen sich mit Versorgungsdaten validieren

Für die frühe Nutzenbewertung neuer Arzneimittel im Rahmen des AMNOG-Verfahrens (AMNOG = Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz) müssen pharmazeutische Hersteller in ihren Dossiers unter anderem die Zahl der Patientinnen und Patienten bestimmen, für die der neue Wirkstoff infrage kommen könnte. Hintergrund ist, dass dies für die spätere Preisbildung relevant ist. Dabei greifen die Hersteller häufig auf Abrechnungsdaten der Krankenkassen zurück, bei deren Auswertung das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) manchmal andere Patientenzahlen ermittelt als der Hersteller. Darüber hinaus sind die Auswertungsverfahren der Hersteller oft nicht transparent genug dargestellt.

Das IQWiG hat jetzt in drei ausgewählten Indikationsgebieten, für die in der Vergangenheit Dossiers zur frühen Nutzenbewertung von Wirkstoffen eingereicht wurden, untersucht, ob sich Versorgungsdaten einer großen Krankenkasse (der BARMER) nutzen lassen, um damit die Berechnungen der Patientenzahlen besser nachzuvollziehen.

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des IQWiG entwickelten hierfür nicht nur die Methodik und schätzten die Patientenzahlen für die Indikationen pulmonale arterielle Hypertonie (PAH), Asthma bronchiale und chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD), sondern verglichen auch die Zahlen aus der eigenen Analyse mit denen der Dossiers. Zudem ermittelten sie den entstehenden Arbeitsaufwand. Ihr Fazit: Auch wenn die Daten nur eine Teilgruppe aller gesetzlich Krankenversicherten darstellen, könnten sie genutzt werden, um Patientenzahlen in Dossiers zu validieren.

Zum Vergleich drei verschiedene Indikationsgebiete ausgewählt

Bei den gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland fließen die standardisierten Informationen ihrer jeweiligen Versicherten zusammen, die zur Abrechnung mit den Leistungserbringern routinemäßig erhoben werden (Routinedaten). Diese Daten enthalten neben Diagnose- und Leistungsdaten auch Angaben zu eingelösten Verordnungen von Arznei-, Heil- und Hilfsmitteln. Die BARMER gewährt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern auf Antrag Zugang zu diesem pseudonymisierten Datenbestand ihrer 8,6 Millionen Versicherten.

Datengrundlage für das nun vorliegende Arbeitspapier war der zum Zeitpunkt der Auswertung aktuellste Datenstand (2015 bis 2017) für Versicherte der betreffenden Kasse mit COPD, Asthma bronchiale oder PAH. Diese Indikationsgebiete wurden ausgewählt, weil bei ihnen in der Vergangenheit die Schätzungen der Patientenzahlen in den Dossiers auf Basis von Routinedatenanalysen erfolgte (z. B. PAH), sich die relevanten Patientengruppen anhand der Routinedaten abgrenzen lassen (z. B. Asthma bronchiale) oder die bisherigen Angaben auf unsicheren Datenquellen beruhen und für sie in der Zukunft weitere Hersteller-Dossiers zu erwarten sind (z. B. COPD).

Für die PAH lagen die von den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des IQWiG ermittelten Ergebnisse in ähnlicher Größenordnung wie die Obergrenzen der Patientenzahlen in den betrachteten Dossiers der Hersteller.

Im Indikationsgebiet Asthma bronchiale ließen sich die relevanten Patientengruppen auf Basis der in den Routinedaten enthaltenen Informationen insbesondere zur medikamentösen Therapie voneinander abgrenzen. Auch für diese Indikation lagen die aufgrund der BARMER-Versorgungsdaten ermittelten Patientenzahlen in einer ähnlichen Größenordnung wie die Angaben in den betrachteten Hersteller-Dossiers.

Bei der Indikation COPD wichen die vom IQWiG ermittelten Ergebnisse stark von denjenigen Zahlen ab, die in den Hersteller-Dossiers berichtet wurden. Allerdings hatten die Hersteller ausschließlich auf eine regionale epidemiologische Studie mit spirometrischen Untersuchungen („BOLD-Studie“) Bezug genommen und nicht auf Abrechnungsdaten. In einer aktuellen routinedatenbasierten Analyse mit 40,5 Millionen eingeschlossenen gesetzlich Krankenversicherten kommt das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung auf ähnliche Prävalenzschätzungen zur COPD wie das IQWiG in seinen Auswertungen.

Nutzbarkeit der Versorgungsdaten hängt von verschiedenen Faktoren ab

Eine Voraussetzung für die Nutzbarkeit von Versorgungsdaten ist die eindeutige Abgrenzbarkeit von Patientengruppen durch die in den Datensätzen enthaltenen Informationen. Da im Datensatz der betreffenden Krankenkasse allein abrechnungsbegründende Umstände und abrechnungsrelevante Leistungen repräsentiert sind, ist diese Voraussetzung nicht immer erfüllt. Besonders das Erfassen einer Erkrankung durch eindeutige Diagnose-Codes ist daher wichtig für die Nutzbarkeit von Versorgungsdaten.

Auch der Arbeitsaufwand ist relevant für die sinnvolle Nutzbarkeit der Daten. Im vorliegenden Projekt war der Aufwand durch das erstmalige Verwenden der Daten hoch. Aus diesem Grund erscheint diese Art von Auswertungen für die regelhafte Anwendung in laufenden AMNOG-Verfahren im hierfür vorgesehenen Dreimonats-Zeitraum derzeit noch nicht geeignet. Eine Standardisierung der Auswertungsverfahren könnte die Bearbeitung in künftigen AMNOG-Dossierbewertungen allerdings beschleunigen, sodass durch das IQWiG selbstinitiierte Schätzungen zu Patientenzahlen auch unabhängig von laufenden Dossierbewertungen denkbar wären.

Die untersuchten Versorgungsdaten beruhen auf einem vergleichsweise aktuellen Datenstand. Sie liegen in einer gut aufbereiteten Datenstruktur vor und sind mit geeigneter Standardsoftware ohne größeren programmiertechnischen Aufwand auswertbar. Insofern könnten sie eine Quelle zur Plausibilisierung von Angaben zur Patientenzahl im Kontext des AMNOG-Verfahrens sein.

Die Versorgungsdaten im Vergleich mit anderen Datensätzen

In vorherigen Arbeitspapieren untersuchte das IQWiG in ähnlicher Weise Datensätze des Deutschen Instituts für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) und des Zentrums für Krebsregisterdaten (ZfKD):

Die Daten des DIMDI schließen alle gesetzlich Krankenversicherten ein und sind insofern als eine weitgehende Vollerhebung anzusehen. Allerdings sind die Daten weniger aktuell und enthalten deutlich weniger differenzierte Leistungsdaten als die Versorgungsdaten einer Krankenkasse. Darüber hinaus ist ihre Analyse verfahrenstechnisch umständlich und langwieriger.

Das Zentrum für Krebsregisterdaten im Robert Koch-Institut (RKI) erhält seine Daten anonymisiert von den Krebsregistern der Bundesländer. Diese Daten liefern somit lediglich epidemiologische Angaben zur Diagnose individueller Krebserkrankungen zum Zeitpunkt der Neumeldung. Überdies erfassen noch nicht alle deutschen Landes-Krebsregister die neu aufgetretenen Erkrankungen vollzählig, sodass das ZfKD in seinen Auswertungen diese Untererfassung mithilfe eines Schätzverfahrens korrigiert. Und auch bei diesem Datensatz ist der personelle, administrative und zeitliche Aufwand gegenwärtig zu hoch, um ihn regelhaft im Dreimonats-Zeitraum des AMNOG-Verfahrens durch das IQWiG auszuwerten.

Zum Ablauf der Berichtserstellung

Der vorliegende Bericht wurde in Form eines Arbeitspapiers im Rahmen des Generalauftrags erstellt. Diesen Generalauftrag hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) dem IQWiG im Dezember 2004 erteilt, um die wissenschaftliche Unabhängigkeit des Instituts zu stärken. Das ermöglicht es dem IQWiG, eigenständig Themen aufzugreifen und wissenschaftlich zu bearbeiten. Im Unterschied zu anderen Berichtsformen gibt es keine Fristen für die Publikation von Arbeitspapieren. Das Arbeitspapier wurde am 7. Juli 2020 an den G-BA versandt.

Über Stiftung für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG)

Das IQWiG ist ein unabhängiges wissenschaftliches Institut, das Nutzen und Schaden medizinischer Maßnahmen für Patienten untersucht. Wir informieren laufend darüber, welche Vor- und Nachteile verschiedene Therapien und Diagnoseverfahren haben können

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