Studie: Erhöhtes Demenzrisiko bei Hörminderung

Studien zum Zusammenhang zwischen Hör- und Sehbehinderungen und dem Risiko, an Demenz zu erkranken, lieferten bislang keine eindeutigen Ergebnisse. Eine über fünf Jahre angelegte Fall-Kontroll-Studie von Forschern aus Greifswald in Kooperation mit IQVIA auf Basis sog. Real World Daten zeigt nun, dass Hörminderung mit einem erhöhten Demenzrisiko in Verbindung steht.

Hör- und Sehverlust sind bei älteren Menschen weit verbreitet und treten häufig in Verbindung mit kognitiven Beeinträchtigungen auf. Studien deuten darauf hin, dass Hörschäden mit einem höheren Risiko für Demenz verbunden sind. Schlüssige Belege für den Zusammenhang zwischen Sehkraftverlust und Demenz sowie für das gleichzeitige Auftreten von Sehkraft- und Hörkraftverlust und Demenz lieferten die Untersuchungen bis dato nicht. Vor diesem Hintergrund untersuchten Forscher des Deutschen Zentrums für neurogenerative Erkrankungen und der Universitätsmedizin Greifswald zusammen mit IQVIA auf Basis von Daten aus der Alltagsversorgung den Zusammenhang zwischen Hör- oder Sehverlust bzw. beiden Beeinträchtigungen zusammen und dem Risiko, an Demenz zu erkranken.

Gesellschaftlich und ökonomisch relevante Fragestellung

Die Fragestellung ist in mehrfacher Hinsicht bedeutsam angesichts einer zunehmenden Zahl älterer Menschen in der Bevölkerung und den mit der Behandlung und Betreuung Demenzkranker verbundenen Kosten. Weltweit waren Mitte der 2010er Jahre etwa 47 Millionen Menschen betroffen, in Deutschland gut 1,6 Millionen. Bis 2050 wird eine Zunahme Betroffener um über 180 % erwartet.[1] Global beliefen sich die Krankheitskosten von Demenz im Jahr 2015 auf geschätzt 818 Milliarden US-Dollar, das entspricht einem Drittel der gesamten gesellschaftlichen Kosten der Altenpflege.[2]

Die Datenbasis der hier zu berichtenden Fall-Kontroll-Studie bildeten anonymisierte Diagnoseinformationen aus der retrospektiven Datenbank IMS® Disease Analyzer[3] aus 1.203 allgemeinärztlichen Praxen in Deutschland. In die Auswertungen flossen die Therapieverläufe von 61.354 Patienten ab 65 Jahren ein, die im Zeitraum von Januar 2013 bis Dezember 2017 (Indexphase) als dement diagnostiziert worden waren und für die eine Beobachtungszeit von mindestens 12 Monaten vor dem Indexdatum vorlag. Verglichen wurden sie mit einer gleich großen Kontrollgruppe ohne Demenzdiagnose, die nach den Merkmalen Alter, Geschlecht, Versicherungsstatus, behandelnde Praxis und Indexdatum (zufällig ausgewählter Besuch zwischen Januar 2013 und Dezember 2017) sowie Ko-Erkrankungen vergleichbar selektiert wurden. Hör- und Sehverluste, die vor der Demenzdiagnose festgestellt worden waren, wurden entsprechend den in den Hausarztakten dokumentierten ICD-10-Diagnosen identifiziert.[4]

Um den Zusammenhang zwischen Seh- und/oder Hörbehinderung und Demenz zu bewerten bzw. eine Risikoabschätzung vorzunehmen, wurden geeignete statistische Methoden angewendet.

Erhöhtes Demenzrisiko bei Hörminderung

Das zentrale Ergebnis der Untersuchung besteht darin, dass Hörminderung, gleich welcher Art die Einschränkung ist (verschiedene Formen und Ursachen), statistisch signifikant mit einem höheren Demenzrisiko einhergeht. Bei der Studiengruppe der Demenzpatienten war dies zu 11,2 % gegeben, bei der Kontrollgruppe zu 9,5 % (Abb. 1 zum Herunterladen).

Bei Sehverlusten ergab sich dagegen kein signifikanter Unterschied. Allerdings scheint die Erfassung von Sehverlusten auch weniger gut dokumentiert zu sein als Einschränkungen des Hörens, so dass weitere Forschung vonnöten ist, um diesbezüglich Klarheit zu schaffen. Die Kombination von Hör- und Sehverlust bedeutet jedoch ein erhöhtes Risiko, an Demenz zu erkranken.

Im Hinblick auf die Faktoren Alter, Geschlecht, Versicherungsstatus und Komorbidität sind Studien- und Kontrollgruppe vergleichbar. Im Mittel waren die Patienten 81 Jahre alt, wobei Frauen mit 61 % überwogen. Über ein Drittel litt an weiteren Erkrankungen wie etwa Diabetes (41 %), ischämischer Herzerkrankung (39 %) oder Depression (32 %).

Auch wenn die Studie bestimmten Einschränkungen unterliegt[5], so lassen sich doch aufgrund der Größe mit insgesamt fast 123.000 einbezogenen Patienten Erkenntnisse gewinnen. Dazu Prof. Dr. Karel Kostev, Forschungsleiter bei IQVIA: „Die Ergebnisse zeigen, dass der Verlust der Hörfähigkeit Demenz begünstigen kann. Denn bei Patienten mit Hörverlusten vollziehen sich neuronale Veränderungen. So kann Hörverlust bei älteren Erwachsenen das Altern beschleunigen, da die Nervensysteme die Synapsen und die neuronale Anatomie verändern können. Um dies zu kompensieren, ist mehr Zuhöranstrengung erforderlich. Bei hörgeschädigten Patienten kommt es zu einer Zunahme der kognitiven Belastung. Folglich werden kognitive Prozesse wie Gedächtnis und exekutive Funktionen beeinträchtigt. Daher kann Hörverlust das übliche Muster der Ressourcenverteilung im Gehirn verändern, die neuralen Reserven und die kognitive Leistung beeinträchtigen und zu einer veränderten auditorischen Verarbeitung führen.“

Ein früh einsetzender Hörverlust bei älteren Erwachsenen könne die Atrophie im gesamten Gehirn kausal beschleunigen, mit Erschöpfung der kognitiven Reserven im Gehirn als mögliche Folge. Die Koexistenz von Hörverlust bei Demenzpatienten könne aufgrund von Schwierigkeiten bei der Teilnahme an alltäglichen sozialen Aktivitäten und von Störungen in der sozialen Kommunikation zu nachteiligen patientenbezogenen Ergebnissen führen, im Endeffekt zu einer geringeren Lebensqualität, so der Forscher.

Trotz der weiten Verbreitung von Hörschäden bei Demenzpatienten und dem in Studien nachgewiesenen Zusammenhang zwischen Hörverlust und kognitiven Einschränkungen, werden Hörgeräte offenbar nur mäßig genutzt. Ihr früherer Einsatz könnte helfen, die Hörfähigkeit zu erhalten und den Ausbruch von Demenz zu verzögern. Hörschäden müssen daher bei älteren Erwachsenen und bei Patienten, die mit Demenz leben, frühzeitig erkannt werden.

Dazu Prof. Kostev: „Die Früherkennung und Behandlung von Hörverlust könnte zusätzlich zu anderen präventiven Maßnahmen möglicherweise den Ausbruch von Demenzkrankheiten bei einem Teil der älteren Personen verzögern und die Behandlung der Patienten verbessern helfen. Sie sollte daher einen Schwerpunkt für Anbieter von Gesundheitsdienstleistungen und Pflegemanagementmodellen bilden. Es ist jedoch weitere Forschung erforderlich, um die Wirksamkeit und Kosteneffizienz solcher Hörgeräte bei Patienten, bei denen kognitive Beeinträchtigungen von Demenz und Hörverlust koexistieren, zu bewerten.“

[1] Quelle: Statista, 2020

[2] Michalowsky B., Kaczynski A., Hoffmann W., 2019: The economic and social burden of dementia diseases in Germany-A meta analysis. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz 62, 981-992. 10.1007/s00103-019-02985-z [PubMed]

[3] IMS® Disease Analyzer ist eine Datenbank von IMS Health, die anonymisierte Therapie- und Behandlungsverläufe zeigt. Dadurch lassen sich Krankheits- und Therapieverläufe über viele Jahre darstellen. IMS® Disease Analyzer beruht auf einer repräsentativen Stichprobe von mehr als 2.500 niedergelassenen Ärzten in der Bundesrepublik Deutschland, die mit EDV-Systemen ausgestattet sind.

[4] Einbezogene Demenzdiagnosen nach ICD-10: F01, F03, G30, F06; Hörverluste: H90, H91; Sehbehinderungen: H25-H28, H30-H36, H40-H42, H43-H45, H46-H48, H49-H52, H53, H54

[5] Z.B.: Ausschließliche Einbeziehung von Allgemeinmedizinern/Praktikern/Internisten, bei denen visuelle Einschränkungen weniger dokumentiert sind, Unsicherheit hinsichtlich korrekter Diagnosen (Zuschreibung kognitiver Einschränkungen aufgrund von Hörfehlern) usw.

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