Im Zentrum der Erzählung „Hexenfeuer“ von Joachim Nowotny steht der junge, leidenschaftliche und gern unbequeme Zimmermann Jan Scholz zwischen Stadt und Land und weiß zunächst nicht so recht, wie er sich entscheiden soll.
Um Selbsterkenntnis durch eine merkwürdige Verdopplung der eigenen Person und andere Merkwürdigkeiten geht es in dem Roman „Hexensommer“ von Elke Nagel (Willkomm): Wann kann man schon mal zwei Frauen Besen an Besen durch die Lüfte fliegen sehen?
Um zwei Fünfzehnjährige und ein Bündelchen Leben geht es in „Friederike und ihr Kind“ von Christa Grasmeyer. Es wird nicht einfach werden, das steht schon mal fest. Aber sie und ihr Freund möchten gute Eltern sein für den kleinen Domenico.
Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Und da hat die Literatur schon immer ein gewichtiges Wort mitzureden und heute erst recht. Dieses Mal steht wieder ein abenteuerlich und spannend geschriebenes Buch zur Debatte, das sich auf literarische Weise den Mechanismen der politischen und militärischen Auseinandersetzungen zwischen den damaligen Supermächten USA und Sowjetunion widmet. Und man spürt, wie dicht die Erde am Übergang vom Kalten zum Heißen Krieg und an einer globalen Katastrophe vorbeischrammt. Und nur manchmal kommt etwas von dem geheimen Geschehen hinter den Kulissen der Macht an die Oberfläche. Gibt es dennoch einen Weg zu Wahrheit, Frieden und Glück?
Erstmals 1989 erschien beim Mitteldeutschen Verlag Halle-Leipzig der Roman „Endzeit der Sieger“ von Wolfgang Schreyer: Am 20. September 1946 druckt eine New-Yorker Zeitschrift Albert Einsteins Satz: „Während wir Russlands Geheimnissen und die Russen unseren Geheimnissen misstrauen, gehen wir zusammen dem Untergang entgegen.“ Am 1. September 1983 schießt Major Wassilij Kasmin nachts über der Insel Sachalin einen Jumbo der südkoreanischen Fluglinie KAL ab. Die sowjetische Luftabwehr glaubt, ein amerikanisches Spionageflugzeug dringe bei ihr ein, doch Unbeteiligte finden den Tod. Vorgriff auf die Katastrophe eines Krieges aus Versehen? Ein doppeltes Rätsel zumindest: Irrtum der einen und mysteriöser Irrflug der anderen Seite! Wolfgang Schreyer spürt den Ursachen nach, er schildert auch Folgen, sieht die Schockwirkung des Falls auf Menschen in Kalifornien und anderswo. Dazu hat er die Schauplätze des Romans besucht; man schmeckt das Fluidum von Los Angeles, San Francisco und Las Vegas, die Luft von Florida oder New York, hört das Knistern im Cockpit einer Boeing 747 nahe dem Polarkreis. Wie ein Film rollt die Handlung ab, dramatisch, grandios, bis zum bitteren Ende. Dem Autor geht es nicht um Schuldzuweisung, sondern um Erkenntnis: um Einsicht in Psycho-Mechanismen, Denkweisen und jene harten Fakten, die es uns erschweren, eine Welt ohne Kernwaffen, ja dermaleinst ohne Militär zu schaffen. „Unter dem Zwang, Gewinn zu machen“, sagt US-Präsident Eisenhower 1959 voraus, „werden mächtige Lobbys auftreten und immer größere Rüstungsausgaben fordern; das Netz der Sonderinteressen wächst von Tag zu Tag.“ Der Roman zeigt auch das. Ein Konzern der US-Rüstungsindustrie ringt ums Überleben. Schreyer führt den Titanenkampf vor, den Griff nach der Macht und das menschliche Streben nach Glück, Geld, Liebe, Karriere – in der Verkettung von allem mit jedem. Hier ein Ausschnitt, der noch vor der Katastrophe spielt:
„De Luca merkte auf, fiel da eben nicht sein Name im Lautsprecher? Einen Augenblick war er im Zweifel. In drei Sprachen hallte es über ihn weg, erst die Wiederholung verstand er: „Wir bitten Herrn De Luca vom Flug null-eins-fünf zum Informationsschalter der Korean Airlines.“ Wer wusste denn, dass er um diese Zeit hier sein würde? Am Stand hieß es, ein Gespräch für ihn aus Los Angeles. Er nahm den Hörer und hatte Jills Stimme im Ohr, über 2500 Meilen so klar, als wäre sie im selben Raum. – „Schläfst du noch immer nicht?“, fragte er sie.
„Nicht mehr. Ich hab mich eben wecken lassen, um das Frühflugzeug zu erwischen. Damit die Vorlesung nicht ausfällt.“
Ihm zuliebe! Sie flirtete nie, doch auch am Telefon hatte ihre Stimme etwas, das ihn sexuell ansprach. „Jill, du willst mir doch was sagen?“
„Sicher. Du, ich liebe dich.“
„Ich dich auch. Ist das alles?“
„Ist das nicht genug?“
Er stellte sich ihr Gesicht vor, fein, blütenzart, so war es ihm schon vor Jahren in Berkeley aufgefallen. Sie war dunkelblond, einen Kopf kleiner als er und hatte manchmal die braunen, hoffnungslosen Augen eines italienischen Waisenkinds (oder eines polnischen, das lag bei ihr näher). „Du hast wirklich nichts weiter auf dem Herzen?“
„Nein. Ich fliege gleich nach San Francisco, ohne dich.“
„Regnet es noch bei dir?“
„Nein, warum fragst du?“
„Dann wird es ein netter Flug. Knapp eine Stunde über dem Meer und den rotgrauen Bergen.“
„Es wird mir keinen Spaß machen. Ich werde den oder die, wer immer da zufällig neben mir sitzt, gehörig hassen, weil du es nicht bist. Ich hatte mir so gewünscht, das Semester gemeinsam mit dir zu beginnen. Und nun bist du weit weg, zu einer albernen Tagung.“
„So unnütz ist sie gar nicht. Ich halte die Fahne von Berkeley hoch.“
„Vor zweitrangigen, belanglosen Narren!“
„Die sind weder zweitrangig noch harmlos.“
„Eben, das kommt noch hinzu. Sei vorsichtig, hörst du?“
„Aber ja. Danach sehe ich mir nur noch ein Archiv an.“
„Sandro, wenn’s irgend geht, kürz es doch ab!“
„Das will ich gern versuchen.“
„Du bist also nicht erst in einer Woche zurück?“
„Vielleicht schon in vier Tagen, Jill.“
Er hörte sie aufatmen und beschloss das Gespräch mit zärtlichen Worten. Ihre Besorgnis rührte und ärgerte ihn. Nie mehr würde er in seinen Schritten so frei wie vorher sein. Dafür nun der Gewinn an Intensität und Lebendigkeit. Sein starkes Gefühl überstrahlte die Schatten der Partnerschaft; ein Amtssiegel darauf aber hätte es wohl erstickt.
De Luca fing an, die Umgebung wieder wahrzunehmen. Das Getümmel ringsum entstand dadurch, dass in dichter Folge weitere Jets einschwebten, Jumbos auf dem Weg nach Japan, Taiwan, Stockholm oder Paris; die Leuchtschrift dort zeigte es an. Sie gaben sich draußen ein Stelldichein, er sah es durch das Glas, Schwinge an Schwinge umdrängten sie den Terminal und spien Menschen aus. Zwischenstopp zum Auftanken und Wechsel der Crew, Pause vor dem zweiten großen Sprung. Auch war dies ein Knoten im Flugnetz des Staates Alaska. Vierzehn Inlandsrouten trafen sich hier, eine Wandkarte zeigte es.
In diesem Moment glaubte er Tanja Cory zu sehen. Wirklich, sie war es! Sie hat ihn eher entdeckt, vermutlich dank des Aufrufs, von ihrem Platz aus blickte sie in seine Richtung. Er winkte ihr zu, sie lächelte nicht zurück, sondern lud ihn mit einer knappen Geste zu sich ein. Sie nahm ihr Gepäck vom Nebenplatz, damit er sich setzen konnte… „Welch ein Zufall“, sagte er.
„Ich bin genauso überrascht.“
In dem vagen Gefühl, ihre Überraschung sei nicht echt, sah er sie aufmerksam an. Ein kaum geschminkter Mund, samtiger Hauch auf der Oberlippe, kunstvoll frisiertes Haar, Modeschmuck von Ciro; wenn sie die lange Zigarette hob, klirrten Armbänder. Sie rauchte, ohne zu inhalieren. Trotz ihrer lässigen Haltung wirkte sie sehr damenhaft – brünett, reserviert, eingeweiht. Das Flanellkostüm und die weißen Handschuhe schienen das zu unterstreichen. Den kalifornischen Akzent, ihm von damals noch im Ohr, hatte sie abgelegt und sich dem Sprachklang Neuenglands genähert. Ihre Figur war ideal, durch Diät getrimmt, zweifellos. Er war überzeugt, dass sie zweimal die Woche zur Hautpflege ging und Gymnastik trieb, um die Waffen blankzuhalten. Würde sie heute noch auf einer Party das große Wort führen? Schwerlich. Soviel Schick und Schliff… Doch er durchschaute das. Komödiantin! Gewechselt hatte bloß das Stück. Sie inszenierte ihren Aufstieg, nicht mehr nur die Unwiderstehlichkeit ihrer Person.“ Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangeboten dieses Newsletters.
Erstmals 1997 veröffentlichte Bernd Wolff bei Jüttners Verlagsbuchhandlung Wernigerode seinen „Sagenspiegel des Harzes. Von Geisterspuk und Hexenflug“: Roßtrappe, Hübichenstein, Brocken – so vielfältig wie die Landschaft des Harzgebirges sind seine Sagen, in denen sich Denken und Hoffen, Freude und Schrecken, Leid und Zuversicht widerspiegeln. Dieses Sagenbuch, in dem Bernd Wolff die alten Begebenheiten auf eigene poetische Weise und mit der nötigen Portion hintergründigen Humors nacherzählt, hilft dem Leser über das Vergnügen am Text hinaus, die mündlichen Überlieferungen in ihrem historischen Zusammenhang zu begreifen. Dazu werden auch mitunter schriftliche Quellen herangezogen. Deshalb sind die Sagen nicht wie üblich nach Ortschaften, sondern nach Themenkreisen geordnet. Hüttenkobolde und Zwerge, Götter und Riesen, Hexen und der in diesen Bergen besonders präsente Teufel, Bergleute, Schatzsucher, Reiche, Arme und Geprellte sowie gruselige Nachtgeister bevölkern die Seiten. Jedes der übergeordneten Kapitel wird eingeleitet durch ein Zitat aus Goethes „Faust“, das zeigt, wie dieses Nationalepos unserem Gebirge besonders verbunden ist. So stellt sich unschwer die Verbindung von Volksdichtung und klassischer deutscher Literatur her, die beide aus einem Born geschöpft sind. Der Beginn des Buches zeigt, worum es Bernd Wolff auf den folgenden Seiten geht:
„Von Geisterspuk und Hexenflug
Wie Wasser in den Vertiefungen der Wege, so sammelten sich im Harz die Sagen vor allem nach überstandener Unbill – fast hätte man Schaden genommen, woran lag es? Fast wäre einem das Gold über den Weg gerollt – warum nur passierte es nicht, wo man Furcht und Beschwörungen auf sich genommen hatte? Den Nachbarn hatte es getroffen – womit hat er sein Glück verwirkt? Im Harz war das Leben besonders hart, lagen die Siedlungen weit auseinander, Wälder voller Geheimnisse, in denen noch der Königsbann galt. Besonders verwegene Kerle hausten im Schutz der Schluchten: Vogelfreie, denen kein Gesetz heilig war, Räuber und Wegelagerer, Wilddiebe auf der Fährte des königlichen Hirsches, Finkenhanse mit Netz und Leimrute, Erzscharrer mit Schlegel und Kratze, Heiden, die dem alten Glauben anhingen. Wehe dem, der ohne sicheres Geleit die alten Pfade zog, die Heerstraßen, die Königswege durch Wildnis und Furten! Wehe, wenn er an eine Räuberburg kam statt zur einsamen Klause und Zelle, wenn er ins Elend geriet!
Auf der Höhe orgelt der Sturm. Unten zur Harzkante hin lauscht alles atemlos, aneinander gefasst; droben bricht in wilder Wut das Wetter über kahle Kuppen her, faucht durch Wipfel, reißt Äste zu Boden, stürzt Stämme um, poltert Steine steile Hänge hinab. Am nächsten Morgen schimmern alle Berge weiß, als habe sich die Schleppe eines weiten Mantels darüber verfangen.
Nach solchen Nächten wusste man zu sagen, der Wilde Jäger sei über den Harz getobt, Wotan, der Wütende, in all dem Fauchen und Donnern habe man Stimmen vernommen, Hetzlaute, Jiffen, Tutursels Ruf. Im weißen Umhang, im roten Umhang, wenn blutend die Sonne aufging, sei er dahergefegt, dem im rasenden Gewölk sich verbergenden Gold-Eber hinternach, auf Sleipnir, dem achtfüßigen Schimmel Schleifer, der alle Kuppen rundschleift. Frau Holle, auch Harke, in seinem Gefolge, Hüterin des Totenreiches, wehe, wer ihr ins Angesicht schaut! Sie wird ihm zeigen, was eine Harke ist. Zur Wintersonnwend, in zwölf hilligen Nächten, braust die Wilde Jagd daher; wer es wagt, ihr zu trotzen, wird überrannt, mit stinkender Pferdelende beworfen, ein Jahr lang anhaftend, dass man aussätzig ist und gemieden. Furcht vor Naturgewalten, lebendig in dunklen Stuben voller Qualm. Der rauschige Eber der Dezembernächtem, das Pferdeopfer auf hoher Klippe kehren in heimlich weitergeflüsterten Sagen wieder. Blut dampfte in der ovalen Vertiefung der Rosstrappe und taute das Eis an den Rändern, im Osten stieg Ostara, die Strahlende, über Berghänge und übersprang den Abgrund, ihre Lichtkrone erhellte die Tiefe, wo Schmelzwässer kochten und brodelten. Der dunkle Winterschlag schlug als Graupelwetter und Hagelwolke zu Grund und verwandelte sich in den schwarzen Hund. In den Sagen mischten sich Bruchstücke verwehter Mythen mit der neuen Lehre, noch entzündete man Jahr für Jahr Osterfeuer auf den Höhen, noch ging man schweigend Osterwasser, das heilige wiedererweckte wiedererweckende Lebenswasser, zu schöpfen. Wer schweigt, hört auf die Stimmen der Bäche.
Doch der Brocken – wer war schon auf dem Brocken? Ganz Verwegene, die sich bis in die Nähe vorkämpften, fanden Bäume mit verdrehten Ästen und zottigen Flechtenbärten, fanden hin gepolterte Granitblöcke, als hätten Riesen damit gewürfelt, gerieten in tückisches Moor oder waren unversehens von Schwaden ziehender Nebelhexen umgeben, die einen kichernd in die Irre führten, und wen es besonders schlimm traf, den glotzte mit gesenkten Hörnern und rotunterlaufenen Lichtern ein Auerochs aus dem Dickicht an, ein Ur, ein Herr Urian. Aber die klaren Granitgrusbäche glitzerten und glimmerten wie Gold, in den Moorlöchern stand rostig schillernd die Lache, die Eisen verhieß; immer wieder galt es die Angst zu überwinden, stets lockte das Abenteuer.
In den Tälern dagegen wuchsen Ortschaften – die Enge der Gassen, in denen man sich kannte und doch nicht kannte, Geflüstertes und Weitergeflüstertes: droben auf den Schlössern, fern vorm Tor, nachts auf dem Markt… Unerklärliches, jemand war mit dickem Kopf gestorben, wer hatte wen umgebracht, dort und dort ging es nachts um. Fremde tauchten auf, verständigten sich mit geheimen Zeichen, wer ihnen nachschlich, kam nach Jahren verändert aus ferner Gegend wieder. Die Reichtümer der Tiefen zerrten an einem, das Dunkel des Bergwerks, in dem die Unschlittfunzel nur ein paar Schritte reichte, was war dahinter? Abends, in den flackernden Räumen beisammen. Sagen. Weitersagen. Sagen.“
Erstmals 1965 veröffentlichte Joachim Nowotny im damaligen Mitteldeutschen Verlag Halle/Saale seine Erzählung „Hexenfeuer“: Auch die leidenschaftlichste Liebschaft kann ein Leben nicht ausfüllen, wie es der junge Zimmermann Jan Scholz leben will. Wenn die Menschen seines Heimatdorfes gegen ihn stehen, wenn Großbaustellen mit lockenden Angeboten winken – er kann sich von seinem Dorf nicht trennen, denn es macht ihm allmählich Spaß, unbequem zu werden. Joachim Nowotny erzählt die Geschichte des Zimmermanns Jan Scholz in starken poetischen Episoden, deren psychologische Ausleuchtung einen interessanten Einblick in die Welt junger Menschen gibt, die an ihrem Heimatdorf hängen und doch in die Stadt wollen, die mit dem alten Brauch des Hexenfeuers verbrennen möchten, was ihrem Leben auf dem Lande entgegensteht, um bleiben zu können, wo sie aufgewachsen sind. Die folgende Szene zeigt, wie hart es dabei mitunter zur Sache geht:
„Am Abend sieht die Sache anders aus. Wir sitzen in der Gaststube bei Henke-Max und belauern die Tür zum Vereinszimmer. Die Kripo ist tatsächlich gekommen. Sie hockt mit dem Hauptbuchhalter zusammen und lässt sich vorrechnen, wie viel Futter im Speicher war. Das dauert seine Zeit.
Henke trägt mit dem Bier seine Meinung unter die Leute. „Sabotage war es, das sag’ ich euch!“
Der Fuhrunternehmer Kubo schiebt die Daumen hinter die Joppenrevers. „Red keinen Zwirn. Kannst es nicht beweisen“, sagt er.
Die Vereinszimmertür lässt er nicht aus dem Auge.
„Ich hab’ es kommen sehn!“, orakelt die Witfrau Kubo. „Es war Gottes Wille.“
Henke schiebt ihr ein Tablett mit schaumbereiften Gläsern zu. „Mach hin!“, sagt er. „Ich komm’ sonst nicht nach.“
Ärgerlich dreht er das Pressluftventil auf. Was die alte Schachtel hier bloß reinzureden hat? Sie soll gefälligst Gläser spülen, wie es sich bei einem solchen Andrang gehört.
Auch der Schäfermeister Hubalek möchte seinen Senf dazugeben. Er war während des Brandes zwar mit der Herde auf den winterstarren Heidewiesen – aber das hat nichts zu sagen. Der Mensch wuchert mit seinen Erfahrungen, wenn er älter wird. Warum soll ausgerechnet Hubalek mit ihnen knausern?
„Es ist alles ganz anders!“, räsoniert er. „Ihr habt alle nicht recht. Mit Sabotage und Gottes Wille ist nichts erklärt. Man braucht einen Täter, einen Brandstifter sozusagen. Kennt man ihn, dann weiß man auch, weshalb er gekokelt hat.“
Henke zapft frisches Bier. Über den Hahn hinweg schielt er zu dem Klugschnabel.
„Gut und schön“, sagt er, „Bloß, wo nehmen wir so schnell einen her, einen Täter, mein’ ich?“
Hubalek kneift die windgebeizten Augen zusammen. Einer in der Gaststube muss eine verdammt schlechte Sorte rauchen. „Manches wüsste man schon …“
Wir werden unruhig. Der Schäfer kann also mehr als bloß Bier trinken und lange Reden halten. Unter Umständen wird er der Polizei allerhand auf den Tisch packen. Man könnte direkt neidisch werden.
Fuhrunternehmer Kubo weiß, wie man einen Menschen kunstgerecht aushorcht. Er stellt sich neben den Kachelofen, schiebt wieder die Daumen unter die Joppenrevers und wippt von den Absätzen bis zu den Schuhspitzen.
„Jeder kann kommen und sagen, dass er eine Ahnung hat. Jeder! Damit ist überhaupt nichts bewiesen. Ich zum Beispiel könnt’ mich hinstellen und behaupten, ein gewisser Hubalek sei der Brandstifter.“
„Beleidigung!“, schreit der Schäfer aus seiner Ecke.
Kubo dämpft seine Entrüstung mit einer Handbewegung. Es sieht aus, als tätschele er die Luft.
„Könnte! Hab’ ich gesagt. Ich werd’ mich hüten, so einen Schnee in die Welt zu setzen. Manche Leute aber, die sind schlimmer als die Hühner. Sie krakeelen los, und das Ei bleiben sie uns schuldig.“
Nun sitzt Hubalek fest. Entweder er spuckt seine Weisheiten aus, oder er muss zusehen, wie man ihn zum Schwätzer stempelt. Eine Weile ziert er sich noch. In einer Tour versichert er, dass er tatsächlich was auf Lager habe.
„Kommt Zeit, kommt Rat“, verkündet er uns. Und er will uns den ganz Schlauen vorspielen. Aber Kubo lässt nicht locker. „Geschwätz!“, zischt es zwischen seinen Goldzähnen hervor. Schließlich setzt sich der Schäfer in Positur. Er nimmt einen Schluck aus dem Glas, wischt sich mit dem Handrücken den Schaum aus dem Schnurrbart und lässt seine Augen im Raume wandern. Nachdem er sicher ist, dass alle die Ohren gespitzt haben, beginnt er zu sprechen.
„Ich will nichts gesagt haben. Überhaupt nichts, versteht ihr? Nur eins: Seit drei Wochen ist Scholz-Teifel auf freiem Fuß, tja!“
Ich höre noch, wie die Witfrau Kubo die Luft ausstößt. Einer setzt in der Stille sein Glas auf den Tisch. Henke lässt den Wischlappen in die Blechschüssel rutschen, Kubo beult seine Revers aus, dass die Joppennäthe knacken, im Vereinszimmer klimpert ein Bleistift auf die Diele, die Pendeluhr über der Theke tickt. Dann höre ich nichts mehr. Ich sehe rot. Im nächsten Augenblick lang’ ich über den runden Tisch nach Hubaleks Kragen. Meine Faust springt ihm ins Gesicht. Gläser klirren zu Boden, Stühle kippen mit Gepolter auf die Lehnen, Schreie gellen zur Balkendecke auf. Und ich schlage, was die Armmuskeln hergeben. Irgendwo hinten klappt eine Tür. Das Gesicht des Schäfers wird pappig wie eine Würgebirne. Noch einmal will ich zustoßen, mitten in das schwarze Mundloch, das sich erstaunt öffnet. Aber da packen sie mich von allen Seiten. Kubo versetzt mir einen Kinnhaken. Vor meinen Augen tanzen rote und grüne Ringe. Schade, denk ich im Fallen, schade, dass die Schrecksekunde so kurz ist. Stundenlang hätt’ ich ihn bläuen können. Dann trudle ich nach unten, immer tiefer – durch die Diele, vorbei an den Lagerhölzern, hinein in den Schwemmsand und noch tiefer bis zum Erdmittelpunkt.“
Erstmals 1984 erschien im Buchverlag Der Morgen Berlin der kritische und immer noch aktuelle Roman „Hexensommer“ von Elke Nagel, damals Elke Willkomm: Sie flogen Besen an Besen. Anne saß gerade, mit flatterndem Wolltuch; krumm hockte die Großmutter, wieder mit wehendem Haar, die Ähnlichkeit zwischen ihnen war unverkennbar. Bringst du mich dorthin, wo du mein Spiegelbild getroffen hast? Die Alte lachte auf. Stell dir das nicht so einfach vor, rief sie. Wenn du es nicht allein findest, kannst du´s niemals festhalten. Sah´s selbst nur für Sekunden. Dann zersprang es in tausend Scherben. Die wirst du suchen müssen. Und zusammenfügen. Aber das wird dir nicht gelingen, wenn du nichts anderes suchst als dies. Verstehst du? Nein, Großmutter. Wer nur sich selbst sucht, wird wenig finden, am wenigsten: sich selbst. Die Wolkendecke unter ihnen hatte sich gelichtet, wurde ein dünner Schleier, verflog gänzlich, und verloren blitzten die Erdenlichter durch die Dunkelheit …
Der poetische Reiz dieses in sensibler Sprache geschriebenen Romans liegt in der Verfremdung und zugleich Doppelung der beiden Hauptfiguren. Anne Bremer, Lehrerin, wird sich endlich der Fehleinschätzung ihrer Schüler durch die zur Wahrhaftigkeit mahnende innere Stimme bewusst: Die Hexe Barbara verkörpert Annes zweites Ich, als die zweite Seite ihres Gewissens – Barbara in Anne, zwei und doch eins …
Auch Annes Großmutter vermag erst als Hexe Debitrice zu erkennen, dass sie niemals auch nur den Versuch unternahm, zu handeln, wie sie es selbst für gut und richtig hielt. Für Anne Bremer war es ein langer Weg, selbstbewusst „ich“ zu sagen. In die Wiedergabe dieses Bildes floss ein großer Erfahrungsschatz der Autorin mit ein. Der folgende Auszug handelt von einem gewöhnlichen Nachmittag und einer ungewöhnlichen Begegnung:
„Zehn Minuten später erreichte sie die Straßenkreuzung in der Altstadt, über die sich der nachmittägliche Berufsverkehr ergoss, gebremst und wieder entfesselt durch rote, gelbe und grüne Signale. Sie stand vor dem Fußgängerüberweg, weil die hastende Menge vor ihr erstarrt war, blickte zu dem dreistöckigen Amtsgebäude auf der anderen Straßenseite hinüber, las mechanisch die weißen Buchstaben, die dort von einem roten Transparent leuchteten. Sie fügten sich zu bekannten Wörtern, die Wörter zu einem ebenso bekannten Satz, der zum Ausdruck brachte, was niemand ernsthaft bezweifelte; Anne vergaß augenblicklich, was sie gelesen hatte. Als die Ampel ein laufendes grünes Männlein zeigte, wurde sie im Sog der vor ihr Gehenden auf die Straße geschwemmt. Und plötzlich blieb sie stehen, der Fußgängerstrom flutete rechts und links an ihr vorbei, so stand sie einen Moment wie ein Pfahl in einem Fluss und dann für Minuten ganz allein auf der Straße, denn sie stand noch, als das grüne Männlein verschwunden und statt seiner das rote aufgeleuchtet war, sie studierte die Schrift, und sie las den Satz: DIE SICH VERLIERENDEN LÄSST ALLES LOS.
Ein Wagen fuhr langsam an und bremste vor ihren Füßen. Der Gegenverkehr setzte sich in Bewegung. Ein Lastzug hielt haarscharf neben ihr, der verschwitzte Fahrer in grünem Turnhemd beugte sich gestikulierend aus seiner Kabine. Nervöses Hupen …
Verlieren, dachte sie, die sich Verlierenden … vorhanden also doch? Aber verloren. Und sie formulierte mit der Beharrlichkeit und Ruhe von Betrunkenen oder Schlafwandlern: Ich habe mich verloren. Stand noch immer reglos, starrte auf diese Schrift, gebannt. Fragte sich nicht, in welchen Zusammenhang der Satz gehörte, zweifelte aber keine Sekunde an dem Verfasser: Rilke, dachte sie.
Aus den Autos schoben sich Köpfe, auf den Gehwegen stockte der Fußgängerstrom. Die Blicke der Menschen folgten dem Blick der starrenden Frau. Das Transparent wurde gelesen, das bisher kaum jemand beachtet hatte. Erhöhung der Arbeitsproduktivität. Na ja, gewiss doch.
Und dann rief jemand Annes Namen. Eine tiefe Frauenstimme. Anne zuckte zusammen. Löste die Augen von der Schrift. Fragte ungläubig: Tina? Du? Das ist doch nicht möglich. Aber heute ist wohl alles möglich.
Komm, sagte die Frau. Martina Lenz. Sie nahm Anne beim Arm, zog sie behutsam, aber zielstrebig von der Straße. Anne wehrte sich nicht. Sie bemerkte nichts von den teilnahmsvollen Blicken der Umstehenden.
Bist du Tina?
Wer sonst.
Sie gingen eingehakt, Schritt für Schritt, schweigend. Bogen in eine ruhige, schattige Seitenstraße ein, die vor einem parkähnlichen Platz endete, da setzten sie sich auf eine Bank.
Anne verspürte eine ihr unbekannte, wohltuende Mattigkeit, schloss die Augen. Wahrscheinlich ist das tatsächlich Tina, dachte sie.
Martina brach das Schweigen. Hab heute Nachmittag lange überlegen müssen, sagte sie. Bist du’s, oder bist du’s nicht? Konnte es einfach nicht glauben, verstehst du? Am Ende wurd ich noch aufgehalten, von meinem zukünftigen Direktor übrigens. Und dann warst du verschwunden. Aber den Gerhard Schütt hab ich noch gesprochen, der hat mir erzählt …, da bin ich losgerannt, um dich zu suchen. Was sagst du denn dazu, dass ausgerechnet unser Gerdchen promoviert hat? – Hörst du mir nicht zu?
Doch, doch, murmelte Anne wie abwesend. Sie dachte: Wie kommt denn Martina hierher? Im Grunde dachte sie aber ganz anderes: Nun wird sich gleich alles aufklären, Verlorenes kann man doch wiederfinden, man muss nur danach suchen! Mit Bedacht.
Ja, Großmutter, flüsterte sie, denn sie glaubte, Großmutters Stimme gehört zu haben.
Tina blickte sie aufmerksam an. Komm, sagte sie, was ist los mit dir? Wie geht es deiner Großmutter?
Sie ist lange tot. Zum ersten Mal schaute Anne die Frau neben sich wirklich an. Alt ist sie geworden, dachte sie. Und etwas Fremdes ist in diesem Gesicht, etwas Hartes. Eineinhalb Jahrzehnte haben wir uns nicht gesehen …
Aber sie stellte keine Fragen. Nicht einmal der übliche, unverbindliche Satz „Wie geht es dir?” kam ihr in den Sinn.
Wunderst du dich nicht, fragte Martina, dass wir uns heute plötzlich treffen? Nach so vielen Jahren …
Anne schüttelte den Kopf. Es gebe Seltsameres, gerade heute, sagte sie. Und erstarrte. Zeigte zum Himmel hinauf. Sieh doch! rief sie, dort! Hast du’s nicht gesehen?
Nein, sagte Martina. Was soll ich gesehen haben?
Sie flog dort. Über den Dächern. Auf einem Strauchbesen. Und ich sagte noch eben, sie sei lange tot.
Anne sprang auf. Sie müsse sofort gehen, sagte sie, denn sie fürchte, die Großmutter könne sich, des Suchens überdrüssig, wieder zurückziehen. Sie müsse aber unbedingt mit ihr sprechen, noch heute.
Martina, Unruhe und Besorgnis nur schlecht verbergend, erklärte sachlich – und sie zog Anne mit Nachdruck auf die Bank zurück -: Wenn sie tatsächlich durch die Luft fliegen kann, deine Großmutter, dann wird es ihr nicht schwerfallen, dich zu entdecken, wo auch immer du dich versteckst.
Anne beruhigte sich augenblicklich. Nun wurde ihr vollends bewusst, mit wem sie sprach. Martina Lenz. Irgendwann in ihrem Leben hatte es eine Tina Lenz gegeben. Immer war sie ein Stück weiter, diese Tina, wusste ein bisschen mehr als ich, dachte Anne. Aber immer konnte man mit ihr reden, über alles … Warum ist sie mir jetzt so fremd? Doch ich werde ihr alles sagen, denn es ist Tina.
Und sie redete.
Als Anne erschöpft schwieg, unruhiger als zuvor, fragte Tina: Du hältst also dein Referat für unwahr?“
Erstmals 1988 veröffentlichte Christa Grasmeyer im Verlag Neues Leben Berlin „Friederike und ihr Kind“: Eine gute Mutter will sie sein, und Benny versucht als Vater auch sein Bestes. Aber sie sind beide erst fünfzehn und hätten nicht gedacht, dass es so schwierig werden würde. Friederike will die 9. Klasse nicht wiederholen und die Mutter soll ihr das Baby auch nicht abnehmen, es ist ja ihr Kind. Und Benny möchte nicht immer nur bei Freundin und Kind hocken. Er hat sich schon bei der Seereederei beworben und segelt so gern mit seinem Freund auf dem Schweriner See. Hier der Beginn des ersten Kapitels – und eines neuen Lebens:
„Die Wehe naht wie eine Welle, die über ihr zusammenschlägt, sie fortreißt und wieder zurückwirft. Sie krallt die Hände ins Laken.
Die grüngekleidete Frau an ihrem Bett, die Hebamme, liest von elektronischen Geräten ab, wie es ihr geht. Anscheinend ist die Hebamme ganz zufrieden.
Im Vorbereitungskurs hörte sich alles einfach an, fast so, als käme das Kind von selbst zur Welt, wenn man nur die Atmungs- und Entspannungsübungen richtig beherrscht und anwendet. Ihre Mutter hatte zwar gemeint, dass damit gegen die Schmerzen wenig auszurichten sei, aber wie hätte sie, Friederike, ahnen sollen, dass es solche Schmerzen überhaupt gibt?
Sie hat keine Angst gehabt. Neugierig und voller Erwartung ist sie hergekommen. Dann sind die Schläuche an ihr befestigt worden, einer für den Wehentropf am Arm und zwei weitere, die zwischen ihren Beinen in den Leib hineinführen und durch eine an den Oberschenkel geschnallte Kontaktplatte gesichert sind. Auf diese Weise, erklärte ihr die Hebamme, würden der Wehendruck gemessen und der kindliche Kreislauf überwacht. Der Schmerz meldete sich ab und zu, aber er lauerte noch im Hinterhalt. Viel stärker, glaubte sie, würde er nicht werden. Die Hauptverantwortung für das gute Gelingen übernahm offenbar die steuernde, kontrollierende Technik.
Inzwischen haben die Wehen all ihre Gedanken und Vorstellungen ausgelöscht. Sie zerbeißt sich die Lippen, um nicht zu schreien.
Plötzlich spürt sie einen gebieterischen Stoß in ihrem Körper. Sie hebt den Kopf und drückt das Kinn gegen die Brust. Ihre Hände greifen nach den Knien. Ein Keuchen bricht durch ihre Kehle.
Die Hebamme tastet in ihren Leib hinein. Der Arzt tritt ans Bett und sieht auf den Biomonitor. Er fragt etwas, und die Hebamme am Fußende des Bettes antwortet. Dann wendet er sich an Friederike. Sie soll entspannt liegen und schnell und oberflächlich atmen, die Presswehe verhecheln, wie er sagt. Sie dürfe nicht zu früh mitpressen, sonst würde sie vorzeitig ihre Kraft vergeuden.
Sie begreift wohl den Sinn, aber ihr Körper handelt eigenmächtig. Sie wird von Neuem ermahnt. Die grüngekleideten Leute verlangen von ihr, dem Befehl des Körpers nicht zu gehorchen. Sie gerät in Panik, denn die Forderung ist so unerfüllbar, als erwarte man von ihr, dass sie ein Erdbeben verhindern könne.
Der Arzt spricht ihr Mut zu. Sie hört seine Stimme wie aus weiter Ferne. Die Hebamme nestelt an ihr herum. Der untere Teil des Bettes wird ausgehakt und ein Stück gesenkt, und ihre Füße werden so gestellt, dass sie Halt finden. Der Arzt verfolgt die Wehenkurve auf dem Biomonitor.
„Noch nicht, noch nicht““, sagt er, und dann sehr laut: „Jetzt!“
Friederike kämpft. Die Grüngekleideten helfen ihr, und die Technik am Bett funktioniert, und trotzdem fühlt sie sich allein. Ab und zu. in den Sekunden zwischen den Wehen, legt sich ein Nebel über ihr Bewusstsein. Der Zwang zum Pressen reißt sie hoch. Jedes Mal meint sie, die nächste Wehe nicht mehr zu überstehen.
Sie schreit auf. Der Arzt ruft ihr zu, dass der Kopf des Kindes geboren sei. Wenig später fühlt sie, wie das Kind aus ihr herausgleitet.
Über ihr Gesicht laufen Tränen. Ihr Körper ist leicht geworden, ganz leicht. Sie meint zu schweben.
Jemand redet sie an. „Frau Jordan!“ Es ist die Hebamme, die das sagt. Die Hebamme hält in gummibehandschuhten Händen etwas Lebendiges in die Höhe. „Frau Jordan, Sie haben einen Sohn.“
Sie versucht, ihren Sohn zu erkennen. Aber ihre Augen sind von Tränen blind, und sie hat ihre Brille nicht auf. Die Hebamme legt ihr das Kind auf den Bauch. Es ist warm und bewegt sich. Sie hält den Atem an. Ihre Hände berühren einen feuchten, behaarten Kopf und ein schlüpfriges, schleimverschmiertes Körperchen. Sie lacht und weint.
Dann trägt die Hebamme das Kind fort. Der Arzt setzt sich vor den heruntergeklappten Teil des Bettes. Während er dort hantiert, erkundigt er sich, welchen Namen ihr Sohn tragen solle.
„Domenico“, flüstert sie.
Der Arzt nickt. Vielleicht hat er ihr Geflüster gar nicht richtig verstanden, oder er hört jeden Tag ausgefallene Namen und reagiert nicht mehr darauf. Er sagt ihr, dass er jetzt nähen müsse, weil ihr Damm eingerissen sei. Sie brauche aber keine Angst zu haben. Horchend wendet sie den Kopf in die Richtung, aus der das Schreien ihres Kindes dringt.
„Ein glattes, gesundes, schönes Kind“, sagt der Arzt. Er will sie wohl ablenken und erzählt, was nun mit dem Kind geschieht. Es werde untersucht, gebadet, gemessen, gewogen. angekleidet. Er streift die Gummihandschuhe ab und wäscht sich am Waschbecken. Dann kehrt er zurück und nimmt ihre Hand in seine Hände.
„Frau Jordan, ich gratuliere Ihnen zur glücklichen Geburt Ihres Sohnes und wünsche Ihnen ein komplikationsloses Wochenbett.“ Frau Jordan. Daran hat sie sich noch nicht gewöhnt. Trotzdem ist sie jetzt eine Frau, das steht fest. Dort drüben, in einem Glaskasten unter Wärmestrahlern, liegt ihr Kind, ihr kleiner Sohn!
All die Monate hindurch haben sie und Benny sich gefragt, oh sie einen Sohn haben würden oder eine Tochter. Nicht dass es besonders wichtig gewesen wäre, sie waren bloß beide so neugierig und wünschten sich, es gäbe am Bauch einen Reißverschluss, den man kurz mal aufziehen könnte, oder ein Plexiglasfensterchen, durch das zu erkennen wäre, wie ihr Kind aussieht. Zuletzt haben sie es kaum erwarten können. Nun haben sie also einen Sohn. Was Benny wohl dazu sagen wird!
Sie richtet sich etwas auf. Die Hebamme hat ihr die Wunde, die der Arzt genäht hat, gespült und sie mit einem neuen Laken zugedeckt.
„Wann darf ich telefonieren?“
„Ihre Eltern haben schon angerufen.“ Die Hebamme bettet sie aufs Kissen zurück. „Wir geben grundsätzlich nur die Auskunft, dass alles gut verlaufen ist. Dass Sie einen Sohn haben, sollen Sie Ihren Angehörigen selbst erzählen. Wenn wieder ein Anruf kommt, stecken wir den Apparat in den Anschluss an Ihrem Bett. Einverstanden?“
„Ja, und …“ Sie traut sich nicht recht, noch mehr zu erbitten.
„Und?“, fragt die Hebamme.
„Mein Kind.“
Bereitwillig holt die Hebamme das Bündelchen aus dem Glaskasten und legt es ihr in den Arm.“
Der kleine Domenico ist also da, angekommen auf der Welt, und damit beginnt eine neue Lebensgeschichte. Wie wird es werden sein Leben? Wird es ihm gelingen? Wie wird es ihm ergehen? Wird er glücklich werden? Oder unglücklich?
Fragen über Fragen, wie sie nicht nur das Leben, sondern auch die Literatur stellen kann. Und Antworten andeuten. Viel Vergnügen bei dem Suche nach Antworten und natürlich beim Lesen, weiter eine gute, gesunde und Corona-freie Zeit, einen schönen Sommer und bis demnächst. Und bleiben Sie weiter vor allem schön gesund und munter.
EDITION digital war vor 25 Jahren ursprünglich als Verlag für elektronische Publikationen gegründet worden. Inzwischen gibt der Verlag Krimis, historische Romane, Fantasy, Zeitzeugenberichte und Sachbücher (NVA-, DDR-Geschichte) sowie Kinderbücher gedruckt und als E-Book heraus. Ein weiterer Schwerpunkt sind Grafiken und Beschreibungen von historischen Handwerks- und Berufszeichen sowie Belletristik und Sachbücher über Mecklenburg-Vorpommern. Bücher ehemaliger DDR-Autoren werden als E-Book neu aufgelegt. Insgesamt umfasst das Verlagsangebot, das unter www.edition-digital.de nachzulesen ist, mehr als 1.000 Titel. Alle Bücher werden klimaneutral gedruckt.
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