Zucker unterm Mikroskop: Forschende unter anderem von den Max-Planck-Instituten für Festkörperforschung sowie für Kolloid- und Grenzflächenforschung haben eine Möglichkeit geschaffen, die dreidimensionale Struktur – Chemiker sprechen von der Konformation – einzelner Moleküle von Mehrfachzuckern mit einem Rastertunnelmikroskop, angedeutet durch die Spitze rechts oben im Bild, zu analysieren. Dabei entstehen Bilder, wie sie am unteren Rand der Illustration, dargestellt sind. Die Helligkeitsunterschiede in diesen Aufnahmen geben Aufschluss über die räumliche Anordnung der einzelnen Bausteine in den Mehrfachzuckern. Die Methode erlaubt es somit, den Zusammenhang zwischen Struktur und biologischer Wirkung von Zuckern etwa auf den Oberflächenproteinen von Viren (links oben) zu untersuchen. Auch wenn diese Zuckerstrukturen bislang unbekannt sind: Die Form von Lutschern dürften sie jedenfalls nicht haben.
Xu Wu/MPI für Festkörperforschung
Function follows form. In der Biologie gilt gewissermaßen das Gegenteil der Leitlinie, der vor allem die Designer des Bauhauses gefolgt sind. Denn die Form eines Biomoleküls bestimmt dessen Funktion. Von Enzymen und anderen Proteinen, die ihre Aufgaben nur erfüllen, wenn sie richtig gefaltet sind, ist das schon lange bekannt. „Bislang war aber unklar, ob sich auch Polysaccharide wie Proteine falten“, sagt Peter Seeberger, Direktor am Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung in Potsdam und Professor an der Freien Universität Berlin. „Wir haben jetzt eine Möglichkeit gefunden, diese Frage zu untersuchen.“ Und siehe da: Manche Vielfachzucker wie etwa Cellulose falten sich tatsächlich, andere wie etwa die Mannose auf der Oberfläche von Corona- oder HI-Viren dagegen nicht.
Die Erkenntnisse zur Gestalt von Vielfachzuckern – Chemiker sprechen von der Konformation der Moleküle – verdanken die Zucker-Spezialisten um Peter Seeberger einer neuen Methode, die von einem Team um Klaus Kern, Direktor am Max-Planck-Institut für Festkörperforschung in Stuttgart entwickelt wurde. „Unsere Rastertunnelmikroskopie erlaubt es, einzelne Zuckermoleküle abzubilden“, sagt Klaus Kern. „Andere Methoden zeigen dagegen nur, welche Struktur die Moleküle einer Probe im Mittel aufweisen.“ Gerade für Untersuchungen, wie biologische Funktion der Zucker von deren Form abhängt, bringt so eine Durchschnittsstruktur aber nicht viel.
Nach der sanften Landung beginnt die Profilzeichnung
Deshalb geht es bei den Porträts der Zuckermoleküle zunächst darum, sie einzeln und ohne sie zu deformieren, auf einer Oberfläche zu deponieren. Stephan Rauschenbach, heute Professor an der Universität Oxford, hat am Stuttgarter Max-Planck-Institut eine Methode entwickelt, die das ermöglicht. Zu diesem Zweck überführen die Forschenden die Vielfachzucker mithilfe der Elektrospray-Ionisation in den Gaszustand: Sie zerstäuben eine Lösung der jeweiligen Substanz mit einer feinen Düse und ionisieren die Moleküle gleichzeitig mit einem starken elektrischen Feld. Die geladenen Moleküle bringen sie daraufhin mit einem schwachen elektrischen Feld zu einer sanften Landung auf einer Kupferoberfläche. Anschließend beginnen sie mit dem eigentlichen Porträt. Mit der Spitze eines Rastertunnelmikroskops tasten sie ein Zuckermolekül auf der Oberfläche ab. Damit das Teilchen währenddessen stillhält, kühlen sie die Kupferoberfläche auf beinahe minus 270 Grad Celsius ab. So erhalten sie eine Profilzeichnung des Moleküls – ganz ähnlich, wie sich mit einem Stift etwa eine Holzmaserung abpausen lässt.
Mit den Porträts der Zucker im Profil alleine lässt sich die Frage nach den biologisch relevanten Konformationen noch nicht endgültig beantworten. Denn schließlich könnten die Polysaccharide als Gas eine andere Gestalt annehmen als etwa in gelöster oder kristalliner Form. Diese Fragestellung und wie die Oberfläche die Struktur eventuell beeinflusst untersuchen die Teams aus Stuttgart und Golm derzeit in enger Zusammenarbeit. „Wir erhalten aus den Aufnahmen der einzelnen Moleküle aber erste hilfreiche Hinweise, die uns helfen, die Zusammenhänge zwischen Struktur und Eigenschaften bei den Zuckern besser zu verstehen“, sagt Peter Seeberger.
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