Die Ergebnisse der Studie liefern einen weiteren Hinweis darauf, dass Insekten von den gegenwärtigen Schutzkonzepten nur ansatzweise erfasst werden. "Wenn wir die Ziele des Naturschutzes definieren, sollten wir deshalb unseren Blick stärker als bislang auf die Insekten lenken", schließt Prof. Josef Settele, Mitautor der Studie, aus diesem Ergebnis. Dabei denkt der Agrarökologe und Schmetterlings-Spezialist, der an UFZ und iDiv forscht, nicht nur an Tagfalter, sondern auch an andere, häufig unscheinbarere Arten wie Mücken, Ameisen oder die vielen Bodeninsekten, die in der Natur ebenfalls zentrale Rollen einnehmen.
Untersucht haben die Forscher allerdings nur die Auswirkungen der Natura 2000-Schutzgebiete auf Vögel und Tagfalter. "Von diesen beiden Gruppen gibt es die allermeisten Beobachtungsreihen über viele Jahre", begründet Josef Settele diese Auswahl. Ausgewertet wurden die Daten, die einige Tausend Freiwillige auf über 9.500 Flächen für Vögel und über 2.000 Flächen für Tagfalter langfristig erhoben haben.
In diesen Gebieten sind die ehrenamtlichen wie auch hauptberuflichen Ornithologen und Schmetterlings-Begeisterten regelmäßig unterwegs, um zu zählen, wie viele Tiere der untersuchten Arten sich dort gerade aufhalten. So laufen 318 Freiwillige in Deutschland 460 Probestrecken von Anfang April bis Ende September meist einmal in der Woche ab und zählen dort Tagfalter. Nur wenn das Wetter nicht mitspielt und zum Beispiel starke Winde die allermeisten Schmetterlinge am Fliegen hindern, pausieren auch die Beobachter. Zwischen den Jahren 2005 und 2018 zählten die Freiwilligen so allein in Deutschland 3,3 Millionen Schmetterlinge.
Auch die Ornithologen sammelten extrem viele Daten, die Vincent Pellissier von der Sorbonne-Universität in Paris, der Hauptautor der Studie, und seine Kollegen jetzt ausgewertet haben. Bei solchen Untersuchungen haben sich die meisten Forscher bisher auf die Artenvielfalt konzentriert und dabei in den Natura 2000-Gebieten oft mehr Arten als außerhalb gezählt.
Dabei zielt Natura 2000 sehr erfolgreich auf ausgewählte Lebensräume und Arten, die von hohem Interesse für den Naturschutz in der Europäischen Union sind. So stehen zum Beispiel im Wald oft Fledermaus-Arten auf der Agenda, die in weiten Teilen der EU in Schwierigkeiten sind. In der offenen Landschaft stehen oftmals trockene und nährstoffarme Wiesen im Fokus, die Lebensraum für seltene Arten wie den Thymian-Ameisenbläuling sind. Mit Blick auf solche Lebensräume und Arten schützen bereits seit 2013 in der Europäischen Union 27.700 dieser Natura 2000-Gebiete rund 18 Prozent der Landfläche und etwa sieben Prozent der Meeresgebiete – und machten das Netzwerk zu einer der weltweit erfolgreichsten Naturschutzinitiativen.
In der Natur spielen aber nicht nur diese ausgewählten, sondern auch viele andere Arten eine wichtige Rolle, von denen man annimmt, dass sie von der Einrichtung der Natura 2000-Gebiete gleichermaßen profitieren. Schwinden ihre Bestände, können Nahrungsnetze zerreißen und sich ökologische Muster mit manchmal enormen Auswirkungen auf die Natur stark verändern. Der Blick auf diese weniger beachteten Arten ist daher durchaus wichtig – und zeichnet zwischen Vögeln und Tagfaltern ein sehr unterschiedliches Bild.
So ist die Häufigkeit bei fast der Hälfte der untersuchten 155 Vogelarten in Regionen mit vielen Natura 2000-Gebieten wesentlich höher, sehr viele davon sind typische Wald-Bewohner. Bei den Tagfaltern profitieren dagegen gerade einmal 27 der 104 untersuchten Arten von diesem Schutz. Und nur zwei dieser Schmetterlingsarten leben in Wäldern. Das überrascht zunächst einmal nicht allzu sehr, schließlich flattern die Tagfalter Europas viel häufiger über sonnige Wiesen als durch Wälder. Obendrein sind viele Forste hierzulande angepflanzt. "Dort wachsen Bäume gleichen Alters, deren Kronen ein dichtes Dach bilden, durch das kaum Sonnenstrahlen dringen", erklärt Martin Musche, ebenfalls Insektenforscher am UFZ und Mitautor der Studie. Am düsteren Waldboden aber finden die allermeisten Tagfalter keinen Lebensraum. "Aus der Sicht der Tagfalter bräuchten wir also erheblich mehr lichtdurchflutete Wälder", schließt der Biologe.
Aber auch außerhalb der Wälder scheint die Situation nicht allzu gut zu sein. Spezialisten für offene Landschaften wie der Zwergbläuling fliegen in den Natura 2000-Gebieten keineswegs öfter. "Die Gründe dafür haben wir noch nicht untersucht, wir haben aber einen dringenden Verdacht", erklärt Martin Musche: Anscheinend geht es dem Grünland und anderen offenen Lebensräumen in den Natura 2000-Gebieten nicht allzu gut. So werden trockene Wiesen mit wenig Nährstoffen vielerorts häufig von Büschen überwuchert – und die Spezialisten unter den Schmetterlingen verlieren ihre Lebensgrundlage.
Andere Wiesen werden zum Beispiel gedüngt und dann – statt ein- oder zweimal – häufiger im Jahr gemäht. Das aber verschlechtert die Bedingungen für viele Schmetterlinge enorm. "Anderen Insekten, die wir noch nicht untersucht haben, könnte es durchaus ähnlich gehen", erklärt Martin Musche. Werden neue Schutzgebiete ausgewiesen oder wird ein Managementplan für bestehende entwickelt, sollten daher die bisher vernachlässigten Insekten viel besser als bisher beachtet werden. Eine Forderung, die sowohl für die laufende Reform der europäischen Agrarpolitik (GAP) als auch die Formulierung von Zielen der Biodiversitätskonvention (CBD) für die Zeit nach 2020 von Bedeutung sind, um den anhaltenden Insektenschwund zu mildern.
Publikation:
V. Pellissier, R. Schmucki, G. Pe’er, A. Aunins, T.M. Brereton, L. Brotons, J. Carnicer, T. Chodkiewicz, P. Chylarecki, J.C. del Moral, V. Escandell, D. Evans, R. Foppen, A. Harpke, J. Heliölä, S. Herrando, M. Kuussaari, E. Kühn, A. Lehikoinen, Å. Lindström, C.M. Moshø, M. Musche, D. Noble, T.H. Oliver, J. Reif, D. Richard, D.B. Roy, O. Schweiger, J. Settele, C. Stefanescu, N. Teufelbauer, J. Touroult, S. Trautmann, A.J. van Strien, C.A.M. van Swaay, C. van Turnhout, Z. Vermouzek, P. Voříšek, F. Jiguet, R. Julliard: Effects of Natura 2000 on nontarget bird and butterfly species based on citizen science data, Conservation Biology https://doi.org/10.1111/cobi.13434
Im Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) erforschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Ursachen und Folgen der weit reichenden Veränderungen der Umwelt und erarbeiten Lösungsoptionen. In sechs Themenbereichen befassen sie sich mit Wasserressourcen, Ökosystemen der Zukunft, Umwelt- und Biotechnologien, Chemikalien in der Umwelt, Modellierung und sozialwissenschaftlichen Fragestellungen. Das UFZ beschäftigt an den Standorten Leipzig, Halle und Magdeburg circa 1.100 Mitarbeitende. Es wird vom Bund sowie von Sachsen und Sachsen-Anhalt finanziert.
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Die Helmholtz-Gemeinschaft identifiziert und bearbeitet große und vor allem drängende Fragen von Gesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft. Ihre Aufgabe ist es, langfristige Forschungsziele von Staat und Gesellschaft zu erreichen. Damit sollen die Lebensgrundlagen der Menschen erhalten und sogar verbessert werden. Helmholtz besteht aus 19 naturwissenschaftlich-technologischen und medizinisch-biologischen Forschungszentren.
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