In der Gegenwart angesiedelt hat dagegen Siegfried Stang seinen Kriminalroman mit psychologischen Hintergründen „Der Pferdemörder – Eine absonderliche Geschichte aus Mecklenburg“.
Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Und da hat die Literatur schon immer ein gewichtiges Wort mitzureden und heute erst recht. In dem heute vorgestellten Buch schauen wir ein paar Jahrzehnte zurück und nach Afrika. Es geht um den antikolonialen Befreiungskampf in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts und möglicherweise entdecken wir beim Lesen Hinweise darauf, weshalb sich heute viele Afrikaner auf den geradezu lebensgefährlichen Weg ins vermeintliche Paradies Europa machen, das sich ihnen jedoch eher als „Festung Europa“ präsentiert. Das Buch ist ein ebenso spannender wie aufrüttelnder Beitrag zum Thema Menschlichkeit – für alle Menschen, egal welcher Hautfarbe. Die Erde ist für alle da.
Erstmals 1988 veröffentlichte Dietmar Beetz im Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik Berlin seinen Roman „Attentat in Rutoma“: Immer wieder unterbricht an jenem Dezembertag des Jahres 1972 Radio Sao Pedro seine Sendungen mit der mysteriösen Mitteilung: Atencao – aufgemerkt! Heute Abend um sechs spricht Ino Gali, der berüchtigte Bandit, der seinen ehemaligen Kumpanen etwas sagen will. Also, nicht vergessen: heute Abend um sechs auf dieser Welle – Ino Gali! In den Bairros, den Blech- und Brettervierteln am Rand von Sao Pedro, in den Grashütten der Guerrilleros im Busch, in den Baracken ihrer Führung in Kindia, überall schlägt die Nachricht ein wie ein Blitz …
Doch Ino Gali wird über den Sender der Portugiesen nicht zu seinen Landsleuten sprechen. Die Ankündigung ist eine Farce, ausgedacht, um Verwirrung zu stiften. Ino Galis Bewacher haben ihrem prominenten Gefangenen eine besondere Rolle zugedacht. Ob ihr Plan gelingt? Wie in einem Kriminalroman verfolgt der Leser das spannende, frei nach Tatsachen gestaltete Geschehen, das in einem politischen Mord gipfelt. Dabei verbindet der Autor Abenteuerliches und Exotisches mit erschütternden Realitäten, die Einblick geben in Verhältnisse, wie sie auch heute noch vielfach in Afrika anzutreffen sind. Hier der Beginn des zweiten Kapitels, in dem wir noch nicht so ganz genau wissen, wer welche Rolle spielt:
„Die Ankündigung hört auch Inocencio Flombo Gali.
Er kennt diesen Text; er kannte ihn schon, bevor er das erste Mal gesendet wurde.
Das jetzt, weiß er, ist die letzte Wiederholung.
Übrigens erreichen die Worte Ino Gali aus einem Gerät, das sich in einem Cockpit befindet, und er sitzt gleichfalls im Passagierraum eines Flugzeugs; die Stimme des Ansagers übertönt den Lärm, den die zweimotorige Maschine macht.
„Tres horas … – Drei Stunden, nur drei Stunden noch, dann spricht Inocencio Flombo Gali, der berüchtigte Bandit, der seinen ehemaligen Kumpanen etwas mitzuteilen hat. In drei Stunden also, Punkt sechs – Ino Gali!“
Der Name klingt wie ein Kriegsruf – ein Eindruck, der von der Begleitmusik, einem portugiesischen Militärmarsch, unterstrichen wird.
Triumph der Tugas, denkt Inocencio.
Er spürt, wie seine Hände – Hände in Handschellen – zucken.
„Na, Gali“, brüllt Luis Gomes, „wie fühlt man sich so als Berühmtheit?“ Er rammt dabei dem Gefangenen einen Ellenbogen in die Seite.
Inocencio verzieht das Gesicht. „Nicht berühmt – !“, erwidert er in gleicher Lautstärke.
Nun grinst auch der andere Bewacher, von dem Inocencio nur weiß, dass er Abdulai heißt.
Es ist ein einfältiges, beinah treuherziges Grinsen, und Inocencio empfindet so etwas wie Mitleid mit diesem Abdulai. Ein toter Mann, denkt er, und er ist sich im Klaren, dass man dasselbe auch ihm prophezeien kann – vorausgesetzt, sein Plan geht schief und das Komplott der Tugas gelingt.
Inocencio streift die Maschinenpistolen, die seine Wächter zwischen den Knien halten, mit einem Blick. Bloß nicht nervös werden! sagt er sich. Es wird schon, es muss einfach klappen. Hauptsache, Nandenga ist da.
Etwas schiebt sich wie eine Glaswand vor seine Gedanken. Dahinter – Nandenga, die Frau, der er verdankt, dass er noch lebt, dass er nicht Hand an sich gelegt hat, und die trotzdem unerreichbar bleibt, abgeschirmt und im Visier wie damals, bei ihrem gespenstischen Wiedersehen.
Das Flugzeug dröhnt und vibriert. Manchmal sackt es weg und wird kurz darauf wie ein Boot von einer Welle gehoben. Vor Inocencio und seinen Bewachern, den einzigen Passagieren, zittert ein Sonnenstrahl, der schräg hereinfällt.
Die Maschine fliegt seit ihrem Start vor gut einer halben Stunde südostwärts. Ihr Ziel ist Sao Pedro, der Militärflugplatz am Rand der Kolonialzentrale. Von dort sollen der Gefangene und seine Wächter – so der offizielle Befehl – zum Sendegebäude am anderen Ende der Stadt gebracht werden.
Vielleicht versammeln sich jetzt schon vor dem Rundfunkgeländejournalisten, und wahrscheinlich haben sich an den Straßen, die von der Einmündung der Chaussee durch die Stadt führen, längst Neugierige postiert, darunter mit Sicherheit Kundschafter der FRELITBA.
Sie alle werden vergebens warten.
Ino Gali wird nie bei Radio Sao Pedro ankommen.
Unterwegs zum Sender soll die Aktion, die bereits läuft, in ihre zweite, höchst brisante Phase treten.
Bis dahin bleibt noch ein wenig Zeit – eine Frist, von der Inocencio weiß, dass er sie zur Sammlung, zur Konzentration nutzen müsste. Er fliegt nach Sao Pedro, fliegt einer Entscheidung entgegen, einer Gelegenheit, auf die er Jahre gehofft, an die er sich geklammert hat, und fühlt sich nun, so kurz vor dem Ziel, unschlüssig, zerrissen.
Wird der Plan gelingen? – Sein Plan, nicht das Komplott dieser Folterknechte und Bestien! Die glauben, ihn gekauft zu haben, geködert, gebrochen, dressiert …
Die Brust wird ihm eng, und er holt tief Luft; zwischen den Schulterblättern, wo sie glühende Zigaretten auf die nackte Haut gedrückt haben, schmerzen die Brandnarben.
Beim Ausatmen – noch immer diese verdammte Beklemmung!
„Hast du Schiss, Gali?“, fragt Luis Gomes brüllend.
Abdulai fällt in das Gelächter ein.
„Nicht mehr Schiss als ihr“, stößt Inocencio hervor, und plötzlich hat er den irren Wunsch, die Maschine, die gerade wieder in ein Luftloch rutscht, müsste abstürzen, mit ihm, dem Piloten und diesen zwei Wachhunden auf das Wasser klatschen, bersten und in die Tiefe sinken, in Dämmer und Dunkel, das alle und alles verschluckt.
Dann hat sich das Flugzeug gefangen, und zum rechten Fenster scheint wieder blendend die Sonne herein. Unten, nur ein paar Hundert Meter tiefer, gleißt der Atlantik – gleißt wie manchmal vom Appellplatz aus, wenn in der Ferne, hinter Wachtürmen, Elektrozaun und verkarsteten Klippen Licht auf den Fluten lag wie eine Goldspur in die Freiheit.
Inocencio schaut weg. Kein Gold, denkt er, aber die Freiheit! Die Freiheit und ein neuer Anfang – irgendwo – mit Nandenga …
Wieder ist die Glaswand da, die Unsicherheit, Unschlüssigkeit, und zugleich taucht Nandenga auf, sieht Inocencio sie vor sich, wie er sie zuletzt gesehen hat, vor Wochen erst – für ihn die qualvollste aller Torturen.
Als schon feststand, dass sie kommen würde, als auch dieser Teil des Komplotts ausgeheckt worden war, hatte Ino Gali ein Gespräch mit Coronel Onório dos Santos.
Coronel dos Santos – Oberst der Sicherheitspolizei, der portugiesischen Gestapo, die seit geraumer Zeit einen neuen Namen trug, im Volk jedoch nach ihren alten, blutigen Initialien weiterhin PIDE hieß.
Coronel dos Santos – rechte Hand des Gouverneurs von Balamaland, des obersten Beamten der Kolonie, offiziell im Rahmen einer Routinekontrolle, in Wahrheit aber wohl extra für dieses Gespräch auf die KZ-Insel im Atlantik geflogen.“
Und damit zur ausführlicheren Vorstellung der anderen Angebote dieses Newsletters.
Erstmals 2010 erschien im Dorise-Verlag Burg der Roman „Im Schatten der Milchstraße“ von Siegfried Maaß: Vom Standesamt führt sie ihr Weg direkt zum Kleinen Franzosen, in dessen Fotoatelier. Als das junge Brautpaar dieses wieder verlässt, hat es einen echten Freund gewonnen, in dessen Haus es unerwartet seine Unterkunft findet. Susanne und Steffen sind glücklich. Der Autor erzählt von der Liebe zweier Menschen unter den Bedingungen der noch jungen DDR. Ihr gemeinsamer Lebensweg wird von dem bestimmt, was sie Staatsmacht nennen. Die Familie der besten Freundin ist über Nacht „abgehauen“, der beste Freund meldet sich freiwillig zur Volksarmee, weil ihm dafür ein Studienplatz versprochen wird. Dann trifft ein Brief aus dem Westen ein und bald darauf erscheint der darin angekündigte Besuch, der Ärger mit der Staatsmacht bedeutet. Von nun an wird vieles anders. Episoden, die Lebensgeschichten aus einer scheinbar vergessenen Zeit vermitteln. Zu Beginn des Buches erfahren wir etwas über das erwähnte Fotoatelier und über schöne Frauen aus den Filmen der Goldenen Zwanzigern und was diese mit Susi zu tun haben oder eben auch nicht:
„1. Kapitel
Das Fotoatelier befand sich im Erdgeschoss eines dreistöckigen Hauses, das sich in einer Biegung der Straße unmittelbar an den Bahnsteig schmiegte. Wie Geisterarme ragten die Signalmasten der Bahnstrecke über das Dach. Der darüber aufsteigende Dampf einer haltenden Lokomotive ließ den Gedanken an einen Brand aufkommen. Ruß stiebte herab wie aufgewirbelter schwarzer Schnee. Der Eingang des Hauses neben dem großen Schaufenster war so unauffällig, dass man vorübergehen konnte, ohne ihn zu bemerken. Doch die im Fenster ausgestellten Aufnahmen, in Farbe ebenso wie in Schwarz-Weiß, zogen die Aufmerksamkeit auf sich. Oft drängten sich Schaulustige davor, als wählten sie heimlich das schönste der abgelichteten Brautpaare aus oder begutachteten die Babys, die bäuchlings auf einem dicken weißen Schaffell lagen und sich mit staunenden Blicken dem Betrachter zuwandten. Einige hielten die kurzen Beine zu Haken aufrecht gestellt, während die meisten sie jedoch lang ausgestreckt hatten. Auch Susi war davor stehengeblieben, als wollte sie sich die Bildergalerie in Ruhe ansehen. Stellte sie womöglich neidvoll einen Vergleich der festlich gekleideten Paare mit uns beiden an? Im Gegensatz zu den abgelichteten Bräuten in weißen Kleidern sowie Kranz und Schleier wirkte sie selbst äußerst bescheiden. In ihrem einfachen schwarzen Kleid mit seinem großen weißen Kragen konnte sie zwar in diesem Wettbewerb nicht bestehen, dafür war sie aber in ihrer Natürlichkeit viel hübscher als jene, denen man auf den ersten Blick die aufgetragene Schminke und Tusche ansah. Oder den Retuschestift des Fotografen.
Auch auf unserem Hochzeitsbild würde Susi viel schöner und frischer als diese anderen Bräute aussehen. Dafür wollte ich sorgen, indem ich dem Meister zuvor erklären würde, dass er bei unserer Aufnahme nicht nachzuhelfen brauche. Mir nahm er es bestimmt nicht übel, wenn ich ihm in sein Handwerk hineinredete, denn wir kannten uns lange genug, um einander gut zu verstehen.
In diesem Augenblick empfand ich die Tatsache, dass wir kein Geld für Schminke und Cremes sowie anderen Luxus besaßen, zum ersten Mal nicht als nachteilig oder gar bedrückend. Vielleicht hätte Susi sonst der Verlockung nicht widerstehen können und sich ebenfalls ihre Natürlichkeit und Frische weggeschminkt, um diese künstliche „Hübschheit“ zu erreichen? Dann wäre sie eine wie die anderen gewesen und hätte sich kaum von ihnen unterschieden.
Doch ausgerechnet diesen Unterschied mochte ich am meisten an ihr. Wasser und Seife genügten, um ihre natürliche Frische zu bewahren. Dabei kam es dann auf Äußerlichkeiten wie ein Kleid nicht an. Auch zu unserer Hochzeit nicht.
In ihrem Aussehen und ihrer gesamten Erscheinung verglich ich sie gern mit einem Filmstar aus den zwanziger Jahren, dessen Foto zu der Sammlung von Filmbildern gehörte, die mir meine Mutter vor ihrem Umzug überlassen hatte. Es waren Beilagen aus Zigarettenpackungen früherer Jahre, denn in seiner Jugend und auch danach als junger Ehemann hatte mein Vater geraucht. Soviel ich weiß, hatte ihn jedoch nicht allein wirtschaftliche Not veranlasst, bald damit aufzuhören. Meine Mutter jedenfalls rechnete es sich als das Verdienst ihrer Ausdauer und Beharrlichkeit an, dass er es schließlich aufgab. Auch mich stimmte sie frühzeitig darauf ein, es nicht erst zu beginnen, mich nicht von „irgendwelchen Leuten“ verleiten zu lassen. Ich bin auch froh, niemals ernsthaft damit begonnen zu haben. Lediglich bei bestimmten Gelegenheiten wie der Feier nach bestandenem Berufsabschluss hatte ich es einige Male versucht. Als gehörte es zum Beginn des neuen Lebensabschnitts. Zum Glück hatte es mich nicht verlockt, daraus eine Gewohnheit werden zu lassen. Übelkeit, Magenbeschwerden sowie Hustenreiz, der kein Ende nehmen wollte und mich am Sprechen hinderte, hatten ihren nachhaltigen Eindruck hinterlassen.
Die Starfotos der Filmdiven hatte meine Mutter sorgfältig aufbewahrt und später in das jeweils dazugehörige Album geklebt. Die Ruhe dafür brachte mein Vater offenbar nicht auf. Oder diese Beigabe seines ehemaligen Lasters hat ihn niemals interessiert. Soviel ich weiß, hat er damals sehr gern Skat gespielt und war dazu jeden Donnerstagabend in seine Kneipe gegangen. Das Bier neben ihm war dann schal geworden, weil er sich nicht mehr als zwei leisten konnte. Meine Mutter hatte mir einmal gestanden, dass sie diese Abende nicht mochte, weil anschließend ihre Wohnung stundenlang nach „Kneipe“ stank – nach abgestandenem Bier und vor allem nach kaltem Zigarettenqualm.
Schon als Kind hatte es mir gefallen, diese Alben heimlich aufzuschlagen und mir die hübschen Menschen anzusehen. Dann war ich mir wie in einem Kino vorgekommen, in das ich mich eingeschmuggelt hatte, denn es handelte sich oft um Szenen aus Filmen, die nicht jugendfrei waren. Besonders gern betrachtete ich eine kesse Blonde mit kurzem Haar, wozu meine Mutter „Pagenschnitt“ sagte. Jedenfalls hatte sie dieses Wort gebraucht, nachdem wir einmal einer jungen Frau mit dieser Frisur begegnet waren. Meine Mutter hatte sich dabei empört gezeigt, als wäre die Fremde nackt umhergelaufen und ich begriff sofort, dass diese Bezeichnung weder Lob noch Bewunderung bedeutete.
Ich jedoch bewunderte die Hübsche auf dem Foto. Sie saß, ein Bein über das andere geschlagen, sodass mein Blick weit daran emporschweifen konnte, auf einem Hocker, hielt stolz den Kopf aufrecht und in der ausgestreckten Hand eine lange Zigarettenspitze. Man erkannte, dass die Zigarette nicht angezündet war, und ich stellte mir vor, dass im nächsten Augenblick ein gut gekleideter, sportlicher junger Mann in die Szene springen würde, um der pagenköpfigen Schönheit Feuer für ihre Zigarette zu reichen. Jedes Mal bedauerte ich es, dass er sich damit so viel Zeit ließ, denn bald hörte ich meine Mutter, die vom Einkauf zurückkehrte, sodass ich das heimlich aus seinem Versteck hervorgeholte Album wieder schnell dorthin zurücklegte, bevor ich endlich einmal erleben konnte, wie der Unbekannte sein Feuerzeug aufschnipsen ließ.
Ich weiß nicht, weshalb mir ausgerechnet diese Aufnahme so gut gefiel, dass ich am liebsten jeden Tag diese Seite des Albums aufgeschlagen hätte. Wozu sich aber leider selten die Möglichkeit bot. Sollte mich bereits damals jener Typ Frau so sehr gebannt haben? Darüber habe ich erst nachzudenken begonnen, nachdem ich Susi kennengelernt hatte. Aber statt in einem ausgewählt hübschen Kleid wie der Filmstar steckte Susi an jenem Tag in einem blauen langärmeligen Kittel, vor den sie eine knöchellange weiße Gummischürze gebunden hatte und auf diese Weise ihre Rolle als „Milchmädchen“ spielte. Nicht in einem Film, sondern im Leben. Als Tochter eines Milchhändlers.“
Soeben ist als Eigenproduktion der EDITION digital der Kriminalroman „Der Pferdemörder – Eine absonderliche Geschichte aus Mecklenburg“ von Siegfried Stang erschienen – und zwar sowohl als gedruckte Ausgabe wie auch als E-Book: Eine Serie grausamer Pferdemorde im Landkreis Mecklenburgische Seenplatte sorgt bundesweit für Abscheu und Entsetzen. Die Polizei tappt jedoch zunächst im Dunkeln und gerät immer stärker unter Druck. Den spürt auch Kriminalhauptkommissar Tim Asfeld, der verantwortliche Ermittler. Und plötzlich geht es nicht mehr nur um die Pferde. Auch Menschen geraten in akute Lebensgefahr. Die junge Theologiestudentin Pia, die im Herbst allein in einer verlassenen Bungalowsiedlung wohnt, wird mehr und mehr in den Strudel der Ereignisse hineingezogen. Sie ist seltsamen, aggressiven Handlungen ausgesetzt, über deren Grund und Urheber sie rätselt. Dann überschlagen sich die Ereignisse. Und mehrere Menschen sterben. Autor Siegfried Stang hat seine jahrzehntelangen Erfahrungen als Kriminalist in eine spannende und erst nach und nach verstehbare Geschichte einfließen lassen. So kann der Roman mit einer wirklichkeitsgetreuen Darstellung überzeugen. Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen wären allerdings dennoch rein zufällig. Dem Verfasser des Buches gelingt es, die psychologischen Hintergründe der Verbrechen plausibel und nachvollziehbar zu schildern. Die Kriminalisten und der Leser erfahren erst Stück für Stück, warum alles so kommt, wie es gekommen ist – scheinbar zwangsläufig. Anfangs scheint noch alles in Ordnung. Aber es scheint eben nur so:
„Trügerische Idylle
Donnerstag, 2. August
Die eingezäunte Wiese grenzte an ein Waldgebiet und befand sich mehrere Kilometer vom nächsten Dorf entfernt. Nur ein Rappe graste dort. Den abgelegenen Ort hatte der Mann mit Bedacht ausgesucht. Er war durch den Wald gekommen. Seinen Wagen ließ er am Ende des Waldweges stehen, wo er von Bäumen und Gebüschen verdeckt war. Dann nahm er einen Gehstock, eine prall gefüllte Plastiktasche und einen Werkzeugkoffer aus dem Fahrzeug und ging los. Als er aus dem Wald ins Freie trat, hielt er einen Moment inne. Er erfreute sich an einem Anblick, wie ihn mancher Tourist jetzt im Hochsommer in der Seenplatte suchen mochte. Eine riesige Wiesenfläche war bunt betupft mit Blumen in verschiedenen Farben, an zwei Seiten eingerahmt von einem Wald. Hier und da wies das Gras wegen der Trockenheit schon Ockertöne auf. In der Luft lag das Summen von Insekten wie eine Hintergrundmusik.
Die Sonne stand hoch an einem wolkenlosen Himmel. Eine Wiese wie aus dem Bilderbuch, dachte er. Idylle pur. Ruhe und Abgeschiedenheit, genau das Richtige …. Hierher verirrt sich kaum jemand. Sein Gesicht zeigte den Anflug eines traurigen Lächelns, wurde dann wieder ausdruckslos. Man sah ihm den seelischen Druck, der sich schon seit einiger Zeit in ihm aufgestaut hatte, äußerlich nicht an. Auch nicht die Gefühle, die ihn quälten: Weder den Hass noch die unterschwellig in ihm brodelnde Wut; all das, was sein Denken und Fühlen vergiftet hatte. Nun trieb ihn ein tiefes Bedürfnis an – nach Erleichterung von dem, was ihn bedrückte. Er sah vorsichtshalber ein weiteres Mal in die Runde. Dann gab er sich einen Ruck und ging auf den eingezäunten Bereich zu. Dem Werkzeugkasten entnahm er eine Zange und kappte die drei übereinander angeordneten Stacheldrähte des Zaunsegments an einer Stelle, die nicht weit vom Wald entfernt war. Jetzt war der Weg auf die Wiese frei. Er betrat den eingezäunten Bereich und ging direkt auf das grasende Pferd zu, wobei er jede ruckartige oder hastige Bewegung vermied.
Der Hengst befand sich in einer Entfernung von etwa dreißig Metern und hob den Kopf, als er die menschliche Gestalt wahrnahm. Es war ein kräftiges, groß gewachsenes Tier mit glänzendem schwarzen Fell. Neugierig, jedoch vorsichtig und zögerlich bewegte es sich auf den Mann zu. Der griff in die Plastiktüte und nahm daraus etwas frisches Heu, das er mit langsamen Bewegungen in der Luft herumschwenkte, um das Tier anzulocken. Der Rappe kam nun zutraulich zu ihm heran, und er sprach beruhigend auf ihn ein. Dann kippte er den gesamten Inhalt der Plastiktüte auf den Boden und machte einen Schritt zurück. Der Hengst begann, das Heu geräuschvoll zu fressen. Aus dem Werkzeugkoffer lugte seitlich ein Stiel heraus. Er gehörte zu einem kurzstieligen Vorschlaghammer. Der Mann öffnete den Koffer und nahm den Hammer heraus, hielt ihn einen Moment mit beiden Händen und visierte den gesenkten Kopf des Rappen an, als wolle er ihn sich als Ziel einprägen. Er stand nun fast seitlich zum Pferdekopf, holte plötzlich mit einer blitzschnellen, kreisenden Bewegung aus und ließ das Gewicht des Hammers mit großer Wucht auf ihn niedersausen. Der Hammer traf das Pferd genau zwischen den Augen. Man hörte das Geräusch zerberstender Knochen. Das Gesicht des Mannes verzog sich, als ob er selbst den Schmerz spüren würde. Der Hengst stand einen Moment reglos, als wäre er zu Eis geworden. Dann verdrehte er die Augen, knickte mit den Vorderbeinen ein und kippte – wie in Zeitlupe verlangsamt – seitlich zu Boden. Zwischen den Augen hatte sich ein blutiger Fleck gebildet. Die Zunge hing dem Tier aus dem Maul, Speichelfäden befanden sich daran. Es lag reglos und betäubt auf der Seite.
Der Mann nahm den hölzernen Gehstock und zog an dem mit Schnitzereien verzierten Griff. Schaft und Griff lösten sich voneinander und nun war zu erkennen, dass der Stock die Scheide für eine Klinge von etwa sechzig Zentimetern Länge darstellte. Es handelte sich um einen kurzen Stockdegen. In diesem Moment schien unversehens wieder Leben in den Rappen zu kommen. Er rollte sich mit weit aufgerissenen, hervorquellenden Augen auf den Rücken und schlug mit den Hufen in die Luft. Der Mann wartete, bis das Tier wieder bewegungslos auf der Seite lag und stieß dann mit dem Stockdegen zu, in den Bereich des Pferdekörpers, wo er das Herz vermutete. Er hatte die Absicht, das Tier schnell zu töten. Denn er wollte nicht, dass es lange litt, obwohl er Pferde nicht mochte. Jetzt war es für ihn nur Mittel zum Zweck. Die nadelspitze Klinge drang tief ein, fast bis zum Anschlag. Schnell zog er sie wieder aus dem Fleisch. Das Tier zuckte, rollte wiederum auf den Rücken, und der Mann sprang mit einem Satz vorsichtshalber zurück, um nicht von einem der Hufe getroffen zu werden. Das schwer verletzte Pferd zappelte kurz, dann lag es im Todeskampf erneut auf der Seite. Nun trieb der Mann zum zweiten Mal die Klinge in den Tierkörper hinein, wieder in den Bereich, wo er den Sitz des Herzens annahm. Aber als Reaktion gab es diesmal nur ein Zucken auf der Haut des Hengstes, mehr nicht. Er kann sich schon nicht mehr wehren. Gleich ist er tot.
Der Mann riss den Degen aus dem Tierkörper heraus und stach nun wahllos immer wieder zu.
Die Wut, die er in sich trug, sowie die anderen lange Zeit unterdrückten Gefühle begannen, sich zu entladen. Bilder tauchten plötzlich vor seinem geistigen Auge auf. Von Herabsetzungen, Zurückweisungen, von unbedachten Frotzeleien, Spott und Hohn. Mit jedem Stich rächte er sich dafür. Sein gesamtes Empfinden bestand nun aus rasendem Zorn und dem Gefühl unbeschränkter Macht.
Langsam geriet er in Ekstase. Nun blitzten andere Gedanken wie glänzende Bruchstücke in seiner Vorstellung auf, widerwärtige Erinnerungen an längst Vergangenes. Ihn erfasste eine Welle des Ekels, gemischt mit blinder Lust und Scham, die zu einer rasenden Wut wurde. Die Stiche erfolgten in schneller Folge. Dabei steigerte er sich in einen regelrechten Blutrausch hinein.“
Erstmals 1976 veröffentlichte Erich-Günther Sasse im Mitteldeutschen Verlag Halle/Saale eine Reihe von Erzählungen unter dem Titel „Und hinter der Tür eine Kette“: Der Pilot des Agrarflugzeuges glaubt seinen Augen nicht zu trauen, als er Ursel im Spitzenkleid über den Acker kommen sieht. Er ahnt nicht, was in ihr vorgeht. Endlich würde sich ihr Wunsch, einmal wie ein Vogel über die Erde zu fliegen, erfüllen. Doch ihre Illusion währt nur kurz: Ölflecke verderben ihr Kleid; und die Vogelperspektive zwingt sie, einiges deutlicher zu sehen, als ihr lieb ist. Auch in den anderen Erzählungen spürt Sasse Ungewöhnliches und Alltägliches auf. Da kommt nach vielen Jahren endlich wieder einmal der Zirkus nach Zorndorf. Aber die große Erwartung schlägt schnell in Enttäuschung um, als der armselige Wagen des Schaustellers über die Dorfstraße holpert. Dem zehnjährigen Peter erscheint jedoch alles wie ein Märchen …
Neben heiteren, locker erzählten Geschichten, die sich durch genaue Beobachtung des dörflichen Alltags auszeichnen, finden wir auch besinnliche Erzählungen, durch die der Autor nachdenklich stimmt und neugierig macht, wie in der Geschichte von der alten Frau, die stets die Kette hinter der Tür sorgfältig einhakt, um sicher zu sein vor jedem Fremdling – eines Tages jedoch lässt sich die Tür mühelos öffnen …
Und wir präsentieren hier den Anfang einer anderen Erzählung von Erich-Günther Sasse und zwar:
„Eine Liebesgeschichte
In dieser Geschichte wird sie Ulrike genannt. Ihr wirklicher Name ist anders.
An den Litfaßsäulen hängen die Plakate noch feucht, es hat gerade aufgehört zu regnen, als sie durch die Stadt hastet. Es ist Sonntagabend.
Auf dem nassen Asphalt der breiten Straße jagen die Autos einander, dazwischen ein paar Motorräder. Erste Neonlichter flackern auf, zaghaft noch.
Ulrike schiebt sich zwischen den Menschen durch, sie wird geschoben. Sie weicht den Pfützen auf dem Fußweg aus. Die Schuhe sollen nicht schmutzig werden, das hätte ihr gerade noch gefehlt.
Ulrike ist jung, noch jung genug, sich über etwas zu wundern.
Vor einem Schaufenster, in dem Sommermäntel über langweiligen Puppen hängen, sie braucht einen neuen, will sie stehenbleiben. Eine stramme Frau schiebt Ulrike weg. Das ist nichts Besonderes, sie geht langsam weiter. Eine Amsel fliegt an den Straßenrand, dort scheint sie etwas Fressbares entdeckt zu haben.
Ulrike geht jetzt langsam, sie hat den Kopf gesenkt. Man könnte sie fast für eine harmlose Spaziergängerin halten, eine, die Luft schnappen will, Großstadtluft, mit Benzingestank gemischt, Sonntagabendluft, die Sonne schien den ganzen Tag nicht, jetzt ist ein Streifen Himmel dort, über den hohen Häusern, rot. Morgen wird das Wetter gut sein. Was interessiert Ulrike das Wetter. Das sieht sie nicht. Ihre Augen sehen nichts, obwohl sie weit geöffnet sind. Ulrike will vergessen. Was gestern war, vorgestern. Während der letzten zwei Jahre. Nicht alle Tage, aber eine ziemliche Menge davon. Deshalb ihr Hasten, deshalb das Rot auf ihren Lippen, deshalb der Minirock. Sie trägt sonntags immer Mini. Noch ist Ulrike jung, noch hat sie eine schlanke Figur, weshalb sollte sie sich da nicht wenigstens sonntags so kleiden, wie es ihr gefällt.
Ulrike lebt auf der Erde, und ein Tag folgt dem anderen, es wird dunkel, es wird Nacht, und morgen wird Montag sein.
Dann steht sie wieder die ganze Woche im weißen Dederonkittel hinter dem Ladentisch und verkauft Milch und Käse, eingepackt in Dederon steht sie dort, sonntags wenigstens will sie sich zeigen.
Sie hat geschickt blondiertes Haar, es sieht echt aus und reicht bis zu den Schultern. Das passt gut zu dem kleinen Gesicht. Ein Kindergesicht, obwohl Ulrike schon fast einundzwanzig Jahre alt ist.
Sie geht wieder schneller. Wenn sie jetzt einer fragen würde, wer bist du, du heißt Ulrike, aber wer bist du, sie wüsste keine Antwort.
Ja, was soll ich da sagen, würde sie sagen, und ihre umschatteten Augen würden ratlos gucken, sie finge an, mit den Zähnen auf den Lippen herumzubeißen. Gott sei Dank stellt ihr keiner eine solche Frage. Womöglich würde sie anfangen, vor Verlegenheit zu grinsen, das wäre schlimm. Oder gar zu schwitzen, das wäre noch peinlicher. Nicht auszudenken.
Ulrike schiebt sich zwischen den vielen Menschen durch, sie weicht ihnen aus, aber sie kennt keinen der Menschen. Über ein Hochhaus aus Glas und Beton gucken die grauen Spitzen des gotischen Domes. Ulrike war noch nicht drin. Sie hat immer mal reingehen wollen, es kam aber stets etwas dazwischen.
Sie hat hübsche Augen. Die sind mal grün, mal grau, je nachdem, wie das Licht darauffällt und in welcher Stimmung sie sich befindet.
Jetzt will sie weg, deshalb geht sie schneller.
Sie haben sich nicht gestritten, nicht einmal gestritten haben sie sich, und doch will Ulrike weg.
Wie eine Dame sieht sie nicht aus, sie wird wohl auch nie eine werden, wenn sie älter ist. Damen blondieren nicht dauernd die Haare. Dazu passt auch nicht ihr Gang. Der ist nervös. Damen haben keinen nervösen Gang. Sie sind nie nervös, und wenn doch mal, zeigen sie es nicht.
Ulrike kann nicht verbergen, was sie fühlt. Sie will es auch nicht. Weg will sie. Von dem alten Haus, in dessen viertem Stock sie wohnt. Dort, in der Wohnung der Schwiegereltern. Was heißt hier wohnt, sie haben ein Zimmer. Und in dem Zimmer steht ein Sofa und ein Schrank. Mehr passt nicht rein.
Die Wände sind düster und kalt, findet Ulrike, obwohl Sommer ist, und zwar ein sehr warmer Sommer, sind die Wände kalt. Ulrike will auch weg von dem harten Poltern des Schwiegervaters, das sie mal lustig fand, von seinen neugierigen Augen. Ulrike findet seine Augen neugierig wie sie das Gesicht der Schwiegermutter kümmerlich findet, sie will weg davon. Weg will sie auch von Thomas, der ihr Mann ist, dem Trauschein nach seit nahezu zwei Jahren. Er war es schon ein Jahr vorher. Sie liebten sich, weil er gesagt hatte, ich kaufe keine Katze im Sack. Ulrike wollte übrigens auch keinen Kater im Sack kaufen. Vor zwei Jahren heirateten sie. Es war ein Sommertag wie heute, manchmal kleine, warme Schauer dazwischen. Sie liebten sich, und die Liebe war nicht rissig, sondern fest, und es sah aus, als werde sie lange halten. Jung gefreit, und so weiter. Sie waren sehr jung. Ulrike trug stolz ihr langes, weißes Brautkleid und einen Strauß elfenbeinfarbener Rosen auf dem Arm.
Aber die Zeit vergeht, die Erde dreht sich, und ein Tag folgt dem nächsten, und nicht alle Tage sind gleich.
Drei Musiker mühten sich, den Hochzeitsmarsch aus Lohengrin abzuspielen. Sie hatten die Nacht vorher durchgemacht, nun waren sie müde. Sie spielten schnell, um in ihre Betten zu kommen, und falsche Töne schlichen sich dazwischen.
Das merkte Thomas nicht, und Ulrike auch nicht, sie kannten die Musik nicht. Sie gefiel ihnen, sie ging ihnen unter die Haut. Sie jagte ihnen fast Nässe in die Augen, fast. Da standen sie vor der Frau im schwarzen Kostüm, die ihrer Stimme einen gewollt feierlichen Klang gab, so feierlich, dass es schon nicht mehr feierlich war. Da standen sie, und Thomas schwitzte in seinem schwarzen Anzug, der ihn beengte, vor Verlegenheit, als er Ulrike den Trauring an den Finger steckte. Da standen sie und waren nun Mann und Frau.
Eine Wohnung hatten sie nicht, und Möbel hatten sie nicht. Nur ihre Liebe hatten sie. Und ihre Jugend. Darauf bauten sie. Ein bisschen wenig, wie sich zeigte. Sie leben auf der Erde und ein Tag verjagt den nächsten, und die Tage verjagen die Jugend schnell und oft genug auch die Liebe.
Es fängt wieder leicht an zu regnen. Die Menschen verschwinden von der Straße. Die Straße leert sich. Ulrike spannt den Schirm auf. Die Locken dürfen nicht verregnen.
Es wird schon mal mit einer Wohnung klappen, sagten sie sich und zogen in die kleine Stube, die ihnen die Schwiegereltern ausräumten. Sie hofften, sie warteten, sie waren geduldig, zwei Jahre warten sie schon, bis heute hat es nicht geklappt.
Ulrike läuft an einem der piekfeinen Lokale der Stadt vorbei. Auf dem Platz davor stehen Taxis, die Fahrer dösen vor sich hin oder lesen in der Zeitung. Die Frau in dem Zeitungskiosk wartet auf Kunden, sie wird wohl nicht mehr viel Glück haben, aber sie wird ja bald schließen.
Die Fassade der Gaststätte ist glatt. Dahinter haben Ulrike und Thomas ihre Hochzeit gefeiert. In dem Haus war es warm. Sie hatten einen kleinen Saal gemietet. Keiner wollte sich lumpen lassen, Thomas Eltern nicht und ihre Eltern auch nicht.
Es war eine laute Hochzeit, mit viel Gelächter und Gerede, mit viel Musik und Getanze.
Ulrike und Thomas tanzten. Ich will weg hier, flüsterte sie ihm ins Ohr. Hier sind zu viele Leute. Das dauert mir zu lange, lass uns weggehen. Eine ungeheure, fast diebische Freude hätte es ihr gemacht, die ganze Hochzeitsgesellschaft sitzenzulassen.
Bist du verrückt, flüsterte Thomas zurück, es geht nicht, wir müssen hierbleiben. Sie haben sich alle so viel Mühe gegeben, das müssen wir anerkennen. Wir werden den Rest schon noch durchstehen, flüsterte er und zog sie an sich.
Thomas ist ein guter Tänzer. Und Ulrike tanzt auch gern.
Sie war in der Stimmung, allein wegzugehen, an ihrem Hochzeitstag. Aber sie blieb, damals blieb sie noch. Obwohl sie Thomas’ Blick sah, der bei seinen Eltern war, die vor allem hatten die große Hochzeit haben wollen und sie arrangiert, das lassen wir uns nicht nehmen. Ulrike hing wie Blei an Thomas’ Arm, während sie tanzten, und nachdem sie seinen Blick verfolgt hatte, war ihr bewusst geworden, dass sie Thomas wohl hatte, dem Namen nach, sie konnte sagen, mein Mann, aber was ist das schon, dem Namen nach, also nichts. Sie konnte sich an dem Tag nicht mehr freuen.“
Erst 1990 konnte Gabriele Herzog ihren bereits einige Jahre zuvor fertiggestellten Roman „Keine Zeit für Beifall“ im Verlag Neues Leben Berlin veröffentlichen: Es ist das Jahr 1968. Aufbruchstimmung in Europa. Der Prager Frühling, Studentenproteste in Paris und Polen, Demonstrationen in Westberlin: Walter Ulbricht und seine SED-Führungsriege versuchen alles, den auch in der DDR beginnenden Widerstand gegen das verknöcherte poststalinistische System im Keim zu ersticken. Lissy Berger, die Heldin des Romans, ist zu der Zeit gerade 19 Jahre und beginnt in Leipzig mit dem Studium der Theaterwissenschaften. Lissy glaubt an den Sozialismus als die bessere Gesellschaftsordnung und ist in ihrer jugendlichen Naivität felsenfest davon überzeugt, ihn mit demokratischen Mitteln reformieren zu können. Dann aber sickert in Leipzig durch, dass die historische Universitätskirche zu St. Pauli, deren Wurzeln bis ins 13. Jahrhundert reichen, abgerissen werden soll. Die Obrigkeit versucht, Macht zu demonstrieren, in dem sie die Überreste der Vergangenheit zugunsten einer sozialistischen Neugestaltung des Stadtzentrums beseitigen will. Wie viele Bewohner Leipzigs, sind auch Lissy und ihre Kommilitonen fassungslos. Es hagelt Proteste gegen die sinnlose Schändung der Kirche, die selbst die Bomben des Zweiten Weltkrieges überstanden hat. Die SED-Mächtigen geraten in Zugzwang. Sie manipulieren und bedrohen die gewählten Stadtverordneten und schaffen so die „demokratische Legitimation“ zur Sprengung der Kirche. Lissys Weltsicht gerät ins Wanken. Trotz aller Konsequenzen, die es für sie haben könnte, entscheidet sie sich dafür, diese Praktiken anzuprangern und gegen die Exmatrikulation ihrer Kommilitonen zu kämpfen, die durch einen Sitzstreik die Sprengung der Kirche verhindern wollten. Auch Lissys private Situation drängt auf eine Entscheidung. Bleibt sie bei ihrem zuverlässigen Schulfreund Mark oder stürzt sie sich in ein ungewisses, aber alle Sinne raubendes Abenteuer mit ihrem Kommilitonen Peter? Das Manuskript entstand im Jahr 1986. Die Brisanz des Themas jedoch verzögerte die Veröffentlichung. Erst im Herbst 1990 konnte der Roman erscheinen. Den DDR-Leser, dem das Buch Mut machen sollte, gab es zu dieser Zeit schon nicht mehr. Im folgenden Ausschnitt des Romans, in dem auf Wunsch der Autorin die alte Rechtschreibung beibehalten wurde, lernen wir ein paar Eigenschaften und Vorsichtsmaßnahmen der jungen Lissy kennen:
„Auf jeder Versammlung nahm ich mir vor zu fragen, ob es nicht für alle nützlicher sei, für uns Studenten, für die Hochschulen, letztlich auch für die Volkswirtschaft, wenn wir, statt im Sand rumzukriechen, unsere Hintern auf die Lehrbänke pflanzten. Aber ich hatte keinen Mut dazu. Nur bei Uwe erkundigte ich mich, ob er das alles auch für so idiotisch hielt. Uwe seufzte und sagte dann: „Ist ja bald vorbei!“
Nicht nur Valerie, auch andere Kommilitonen wunderten sich, daß ich mit meinen neunzehn Jahren schon Genosse war. Auch für mich selbst kam damals, in der Oberschulzeit, meine Beförderung in den Kandidatenstand überraschend. Ich fand gar keine Zeit, ernsthaft darüber nachzudenken und mich mit dieser Tatsache auseinanderzusetzen. Das ging viel zu schnell. Kurz nach meinem achtzehnten Geburtstag stand nämlich der zwanzigste Jahrestag der Vereinigung der beiden deutschen Arbeiterparteien bevor. Man hatte die Idee, anläßlich dieser Feierlichkeiten jungen Leuten das Parteibuch zu überreichen. Irgendwer mußte auch mich vorgeschlagen haben. Eigentlich fühlte ich mich für diesen Schritt noch nicht erwachsen genug. Aber da mir Mama und Papa zuredeten, sträubte ich mich nicht lange. Mit sechs Jahren wurde ich Junger Pionier, mit vierzehn trat ich in den Jugendverband ein und mit achtzehn eben in die Partei. Ich fand es fast folgerichtig für jemanden, der auch im künftigen Leben die Absicht hatte, sich um mehr als seinen Schrebergarten zu kümmern.
Zwei „Höhepunkte“ unserer Ausbildung waren mir in besonderer Erinnerung geblieben. Das war der Tag, an dem wir Theaterwissenschaftler Wache hatten. Wir sollten das Barackendorf bewachen, in dem wir wohnten. Vor wem, sagte uns niemand. Aber es mußten gefährliche Feinde sein, denn wir hätten sie gegebenenfalls mit Luftgewehren in Schach gehalten. Daß die Luftgewehre einen zugelöteten Lauf besaßen, konnte man nur bei näherer Untersuchung feststellen. Und näher wären unsere Widersacher nicht gekommen, denn eine Zweierstreife mit den besagten Gewehren über der Schulter, die tags alle vier und nachts alle zwei Stunden abgelöst werden sollte, patrouillierte pausenlos um das Gelände.
Und das war die letzte Nacht, in der die Abschlußübung stattfand. Unsere Aufgabe bestand darin, einen unschuldigen Hügel in der Umgebung im Sturmangriff zu nehmen. Anmarsch, anschleichen und – die gefährlichen Gewehre im Anschlag – die Eroberung mit Hurra-Gebrüll.
Die allergrößte Mühe hatten wir damit, ernst zu bleiben.
Auf dem Hügel gab es nur Kiefern und Blaubeersträucher zu erledigen!
Das Vehikel von Zug hatte sich inzwischen in Bewegung gesetzt. Langsam rückte mein Hochschulort näher.
Nach vier Wochen Kartoffelschlacht und vierzehn Tagen Geländespiel war ich dann endlich wieder für ein paar Tage zu Hause und in Marks Armen. Und es geschah fast ein kleines Wunder. Nach der langen Trennung verspürte ich eine solche Sehnsucht, daß ich nichts auf Marks Begrüßungsworte erwiderte, als er vor der Wohnungstür stand, sondern ihn nur stumm in die Wohnung, in mein Zimmer zog. Daß Mama nur einkaufen war, vergaß ich. Früher war es meist Mark gewesen, der zur Liebe gedrängt hatte, von mir aus kam selten der Impuls, mit ihm zu schlafen. Natürlich kostete es Mark keine Mühe, mit der für ihn neuen Situation fertig zu werden. Es gelang uns, die notwendigen Kleidungsstücke auszuziehen. Mehr nicht. Mich störten weder meine Strümpfe und Schuhe noch Rock und Pullover. Ich hatte nur eine ungeheure Angst, es würde aus irgendeinem Grunde nicht geschehen, etwas käme dazwischen.
Später sagte Mark: „Wenn ich dich heute noch fünfmal gehabt habe, bin ich wieder ein Mensch!“
Ich sah das genauso, und wir beschlossen, in Marks Mansardenzimmer umzuziehen. Dort, im Haus seiner Eltern, waren wir ungestörter. Und gestört wollten wir nicht werden, weder durch die eine noch durch die andere liebe Familie.
Wir zogen also los. Unterwegs kauften wir eine Flasche Wein. Die Leute, die uns auf diesem fünfzehnminutigen Weg begegneten, drehten sich alle nach uns um.
„Deinetwegen“, stellte Mark fest.
„Deinetwegen“, widersprach ich ihm. Schließlich einigten wir uns auf „unseretwegen“.
Irgendwer von Marks Verwandten hatte anläßlich einer Familienfeier festgestellt, wir wären „ein schönes Paar“. Diese Bemerkung verursachte mir Übelkeit, ich fühlte mich wie in einem Dreißigerjahrefilm. Die Dame mit bodenlangem Gewand aus fließender Seide, der Herr im Smoking. Und dann diese geschraubte Redeweise. Gnädige Frau und so weiter. Abgesehen mal davon, daß „schönes Paar“ sehr stark nach Ehepaar klang. Und nach Heiraten stand mir nun wirklich nicht der Sinn.
Um zunächst unbemerkt ins Krügersche Anwesen zu gelangen, schlichen wir uns durch den Garten, in dem, wie stets in dieser Jahreszeit, Astern in vielen Farben blühten. Zum Glück fanden wir die Terrassentür unverschlossen und schlichen durch das Wohnzimmer in die Diele. In der Küche klapperte Geschirr, wir verständigten uns mit einem Blick, streiften die Schuhe ab und stiegen die Treppe hinauf, bis unters Dach. Die Treppe war aus Holz, ihr Geländer auffällig gedrechselt. Keine ihrer Stufen knarrte, das bewunderte ich immer wieder.
Zu unserem Erstaunen hatte sich die Mansarde in eine Baustelle verwandelt. Vater Krüger war also schon bei der Verwirklichung seines Planes, hier für uns eine Wohnung zu errichten. Zwei Zimmer, Küche, Dusche, Toilette. Einfach Wahnsinn. Wer bekam schon mit neunzehn eine Wohnung?
Noch sah es natürlich wüst aus. Aber das Durcheinander in Marks ehemaligem Bodenstübchen hinderte uns an gar nichts. Im Gegenteil. Wir kamen in eine Stimmung, in der wir Schutt, abgerissene Tapete, bereitgestelltes Material, Werkzeuge und die Kalk- und Zementsäcke, über die wir stolperten, ausgesprochen romantisch fanden. Marks gigantische Liege mußte als einziges Möbelstück den Umbau am Platze miterleben. Kein Mensch kriegte das Ding die sich nach oben hin verjüngende Treppe hinunter. Meine seit Jahren wiederholte Frage, wie der Apparat heraufgekommen wäre, konnte die Familie Krüger nicht beantworten.
Die Sache mit der Liege schien uns praktisch, mehr brauchten wir nicht. Das Regal oder der Schrank hätten weniger genützt. Den Wein tranken wir aus der Flasche.
Bald mußten wir uns eingestehen, daß sechsmal hintereinander kein Programm für Mitteleuropäer darstellt. Da half auch keine Ausnahmesituation wie die, in der wir uns befanden. Wer eine Woche nichts gegessen hat, kann nicht auf einmal ein ganzes Brot auffressen, obwohl er sich genau das vorstellt.
Und auch die nächsten Tage waren herrlich. Uns beschäftigte der Mansardenbau und die Liebe. Zum erstenmal hatte ich nicht ständig Furcht vor einer Schwangerschaft. Während der Schulzeit ein Kind zu bekommen, diese Vorstellung hatte mich tief erschreckt, das wollte ich um jeden Preis verhindern. Wir hatten die günstigsten Tage errechnet, chemische Substanzen zur Verhütung besorgt und für „danach“ Spülungen bereitgehalten. Und der Gummiüberzug war natürlich unvermeidlich. Diese umfangreichen Maßnahmen hatten dazu beigetragen, daß ich dem eigentlichen Vorgang nicht viel abgewinnen konnte. Was mir viel besser gefiel, waren Zärtlichkeiten und nochmals Zärtlichkeiten. Hätte ich es nicht besser gewußt, sie wären für mich der Höhepunkt gewesen.“
Und es wird spannend, wie es mit Lissy weitergeht, in der Liebe und im Leben. Spannend sind auch die von der Autorin gewährten Einblicke in eine wichtige Etappe der DDR-Geschichte. Und aus heutiger Sicht stellt sich natürlich die Frage, was wäre gewesen, wenn …
Viel später, als es wahrscheinlich schon zu spät war, da tauchte der Begriff vom „Sozialismus in den Farben der DDR“ auf. Vielleicht wäre die deutsche Geschichte anders verlaufen, hätte sich das Jahr 68 in der DDR anders abgespielt. Revolutionärer und sozialistischer …
Viel Spaß beim Lesen und beim Nachdenken über die Welt, einen schönen Frühling und bis demnächst. Ach und nicht vergessen, nächste Woche sollte eigentlich in Leipzig die diesjährige Buchmesse beginnen, die allerdings wegen der Gefahren durch das Coronavirus am Dienstag dieser Woche abgesagt wurde. Daher fährt auch EDITION digital in diesem Jahr nicht nach Leipzig: „Diese Entscheidung ist sehr bedauerlich und schmerzlich, aber nachvollziehbar. Die Gesundheit aller an dieser literarischen Großveranstaltung Beteiligten geht vor“, kommentierte Verlagschefin Gisela Pekrul die Absage. Und sie hat eine Idee: „Wenn wir uns in diesem Jahr leider nicht wie gewohnt in Leipzig treffen können, dann findet die Buchmesse eben auf der Homepage meines Verlages statt – www.edition-digital.de. Konkret bedeutet das, dass sich Interessenten dort über die aktuellen Neuerscheinungen informieren und in den entsprechenden Leseproben blättern können. E-Books können sofort gekauft und heruntergeladen werden. Gedruckte Bücher werden während der geplanten Messezeit vom 12. bis 15. März ebenfalls schnell und vor allem versandkostenfrei verschickt – so als hätte man sie auf der Leipziger Buchmesse erworben. Buchhändler, die während dieser ursprünglichen Messezeit auf der Homepage bestellen, erhalten einen zusätzlichen Rabatt von 5 Prozent. „Und natürlich freuen wir uns schon auf die nächste Leipziger Buchmesse, die nach Angaben der Veranstalter vom 18. bis zum 21. März 2021 stattfinden soll“, so Pekrul.
EDITION digital war vor 25 Jahren ursprünglich als Verlag für elektronische Publikationen gegründet worden. Inzwischen gibt der Verlag Krimis, historische Romane, Fantasy, Zeitzeugenberichte und Sachbücher sowie Kinderbücher gedruckt und als E-Book heraus. Ein weiterer Schwerpunkt sind Grafiken und Beschreibungen von historischen Handwerks- und Berufszeichen sowie Belletristik und Sachbücher über Mecklenburg-Vorpommern. Bücher ehemaliger DDR-Autoren werden als E-Book neu aufgelegt. Insgesamt umfasst das Verlagsangebot, das unter www.edition-digital.de nachzulesen ist, mehr als 1.000 Titel (Stand März 2020). Alle Bücher werden klimaneutral gedruckt.
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