Nachdem die USA und Australien und dann Österreich Widerstand gegen den Migrationspakt angekündigt hatten, folgten weitere Länder: Ungarn, Tschechien, Estland, Bulgarien, Polen, Slowakei und Italien. Auch Israel und die Schweiz bleiben dem Treffen in Marokko fern, Kroatien und Slowenien haben noch keine Entscheidung getroffen. In Belgien provoziert die Unterzeichnung gerade eine Regierungskrise in der Koalition aus (linken) Liberalen und der (konservativen) N-VA. Im Land von Manneken Pis entstand übrigens die Idee, die Adressen der Wahlkreisbüros und der Privatwohnungen derjenigen Politiker und anderer Personen des öffentlichen Lebens, die weiterhin die Position „Refugees Welcome“ vertreten, auf Handzetteln an obdachlose Flüchtlinge zu verteilen. Die Begründung: Wenn sich Politiker oder Vertreter des öffentlichen Lebens trotz der offensichtlichen Probleme weiterhin für Massenimmigration nach Belgien einsetzen, dann sollen sie selbst mit gutem Beispiel vorangehen und illegale Migranten bei sich zu Hause aufnehmen.
Bei den ungeklärten Problemen im Zusammenhang mit dem Migrationspakt stechen zwei Punkte hervor: (1) die Frage der juristischen Verbindlichkeit und (2) die Frage von Gewissens-, Meinungs- und Informationsfreiheit.
(1) Dieser Migrationspakt ist verbindlich.
Einmal unterschrieben, bleibt unterschrieben. Es gibt keine Austrittsklausel. Der Migrationspakt baut auf einem rechtlich unverbindlichen Dokument auf, nämlich der Entschließung A/RES/70/1 vom 25. September 2015 der Generalversammlung der Vereinten Nationen mit dem Titel „Transformation unserer Welt: die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung“ mit ihren 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung. In den Paragraphen 23 und 29 finden sich die Grundideen des heutigen Migrationspakts. Ziel 10.7. fordert konkret, „eine geordnete, sichere, reguläre und verantwortungsvolle Migration und Mobilität von Menschen (zu) erleichtern, unter anderem durch die Anwendung einer planvollen und gut gesteuerten Migrationspolitik“. Diese Agenda war, wie gesagt, nur eine unverbindliche Handlungsempfehlung an die Völkergemeinschaft ohne Rechtsgrundlage. Trotzdem liegt bereits drei Jahre später der Migrationspakt aus Ziel 10.7 vor.
Der Migrationspakt gehört in die Kategorie des „Soft Law“, also des „weichen Rechts“. Er umfasst 23 Ziele inklusive Handlungsempfehlungen für deren Umsetzung und Überprüfung. „Jedes Ziel enthält eine Verpflichtung, gefolgt von einer Reihe von Maßnahmen, die als relevante Politikinstrumente und bewährte Verfahren angesehen werden.“ In den 54 Paragraphen des Migrationspakts kommt das Wort „Verpflichtung“ bzw. die Formulierung „Wir verpflichten uns“ über achtzig Mal vor. Ein „Überprüfungsforum Internationale Migration“ soll ab 2022 alle vier Jahre die Fortschritte der Unterzeichnerstaaten bei der Umsetzung aller Aspekte des Migrationspakts unter Beteiligung aller relevanten Interessenträger bewerten und Handlungsempfehlungen zur Umsetzung der Verpflichtungen verabschieden. Hier wird die rechtliche Unverbindlichkeit von der moralischen und politischen Verpflichtung bestimmt und befristet beiseite geschoben. Paragraph 41 bestätigt die Verbindlichkeit: „Wir verpflichten uns, die im Globalen Pakt niedergelegten Ziele und Verpflichtungen im Einklang mit unserer Vision und unseren Leitprinzipien zu erfüllen und zu diesem Zweck auf allen Ebenen wirksame Maßnahmen zu ergreifen, um in allen Phasen eine sichere, geordnete und reguläre Migration zu ermöglichen“ – der Sprachgebrauch nutzt alle typischen Merkmale eines verbindlichen Vertrags. Bereits vor Ablauf der kommenden Legislaturperiode des EU-Parlaments 2024 kann dieser Pakt zum Völkergewohnheitsrecht werden, denn es reicht dafür aus, dass die Völkergemeinschaft damit einverstanden ist. Das ist die übliche „Soft Law Prozedur“: juristisch nicht verbindliche Empfehlungen bzw. Absprachen werden durch ihre Umsetzung zu Recht ohne Parlamentsbeschluss.
Konkrete Beispiele aus der Vergangenheit mögen als Warnung dienen. Man erinnere sich an die Umsetzung der Handlungsempfehlungen im Aktionsplan der Frauenkonferenz von Peking 1995 und die damit verbundene Einführung von „Gender“ und „Gendermainstreaming“. Nicht durch Bundesrat und Bundestag, sondern durch einen Kabinettsbeschluss der Bundesregierung am 23. Juni 1999 wurde Gender Mainstreaming am Parlament vorbei eingeführt. Heute gibt es Genderlehrstühle, Frühsexualisierung an Grundschulen und den „Regenbogenschlüssel“ für schwul-lesbisch zertifizierte Altersheime. Bei der UNO wurde ein Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau (CEDAW) eingerichtet, dort müssen heute die Mitgliedsstaaten antreten, um über die Umsetzung der unverbindlichen UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau zu berichten. In diesem Gremium erklären Vertreter von Nichtregierungsorganisationen den demokratisch gewählten Regierungen, wie die Gender-Ideologie umgesetzt werden soll. Misstrauen ist alsdann in Erinnerung an den Soft-Law-Prozess der Yogyakarta-Prinzipen angebracht. Die 29 Yogyakarta-Prinzipien wurden von einer Handvoll LGBT-Aktivisten als „globaler Standard zur Anwendung von internationalen Menschenrechten in Bezug auf sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität“ zusammengetragen. Für jedes der 29 Prinzipien gibt es genaue Empfehlungen zur Umsetzung durch staatliche Institutionen. Die Bundesregierung hat diese Prinzipien nie ausdrücklich abgelehnt, wie aus der Bundestags-Drucksache 16/7658 (27.12.2007) hervorgeht, obwohl es sich um nichts anderes als ein Schreibwerk von Aktivisten handelt. Doch Ideen ziehen Konsequenzen nach sich. Heute gibt es LGBTQI-Sonderberichterstatter bei den Vereinten Nationen, Handreichungen des Flüchtlingswerks zum sensiblen Umgang mit Flüchtlingen ohne klare eigene Geschlechtsidentität, den Asylgrund „sexuelle Orientierung“ (ohne jedoch die Verpflichtung zur genauen Überprüfung). Und in der EU gibt es jetzt einen „EU-Fahrplan zur Bekämpfung von Homophobie und Diskriminierung aus Gründen der sexuellen Orientierung und der Geschlechtsidentität“. Alles aufgrund von unverbindlichen Selbstverpflichtungen. Der Chefredakteur der Yogyakarta-Gruppe, Michael O’Flaherty, leitet heute übrigens als Direktor die EU-Grundrechte-Agentur in Wien.
In Brüssel und Straßburg ist man mit dem Migrationspakt ganz und gar einverstanden. Das EU-Parlament verabschiedete bereits am 18. April 2018 seine Entschließung zu den globalen Pakten der Vereinten Nationen für eine sichere, geordnete und reguläre Migration und für Flüchtlinge (2018/2642(RSP)). Der Entschließungsantrag durchlief keineswegs die ordentliche Prozedur in einem Fachausschuss unter den Augen der Öffentlichkeit, sondern wurde zwischen Fraktionen verhandelt (sog. Hinterzimmer-Prozedur). Daran beteiligt waren für die CDU David McAllister und Elmar Brok, für die SPD Knut Fleckenstein, Norbert Neuser und Birgit Sippel, sowie Cornelia Ernst und Helmut Schulz für die Linke. In Paragraph 33 empfiehlt das EU-Parlament ausdrücklich, „die Verabschiedung detaillierter nationaler oder subnationaler Aktionspläne in Erwägung zu ziehen, durch die das alle Bereiche einbeziehende Handeln zur Umsetzung der Empfehlungen des Pakts gefördert wird, um sich mit den verschiedenen Dimensionen von Migration, einschließlich Entwicklung, Menschenrechte, Sicherheit, soziale Aspekte, Alter und Geschlecht, zu befassen, und bei denen die politischen Auswirkungen auf Gesundheit, Bildung, Kinderschutz, Wohnraum, soziale Teilnahme, Justiz, Beschäftigung und Sozialschutz berücksichtigt werden“. Das EU-Parlament unterstreicht also den Anspruch auf Verbindlichkeit des Migrationspakts. In der namentlichen Schlussabstimmung stimmten alle Europa-Abgeordneten der im Bundestag vertretenen Parteien dafür, mit Ausnahme von Daniel Caspary (CDU) und Jörg Meuthen (AfD). Die EU-Kommission ihrerseits wird diesen Pakt im Rahmen der gemeinsamen Migrationspolitik Punkt für Punkt umsetzen. So viel zur Unverbindlichkeit.
(2) Der Migrationspakt stellt das Grundrecht auf Meinungs- und Informationsfreiheit in Frage. Die EU-Kommission bezahlt bereits jetzt für positive Berichterstattung über Migration. In Paragraph 10 heißt es: „Wir müssen außerdem allen unseren Bürgerinnen und Bürgern objektive, faktengestützte und klare Informationen über die Vorteile und Herausforderungen der Migration vermitteln, um irreführende Narrative, die zu einer negativen Wahrnehmung von Migranten führen, auszuräumen.“ Paragraph 8 definiert das verbindliche Narrativ des Migrationspakts: Migration als Quelle des Wohlstands, der Innovation und der nachhaltigen Entwicklung. Die Probleme im Zusammenhang mit Migration, oft lebensbedrohend und tödlich für die Aufnahmegesellschaft, werden ausgeblendet. Der Migrationspakt legt von vornherein fest, was gute und was schlechte Informationen sind. Negative Wahrnehmung von Migration soll ausgeräumt werden. Das ist nichts Anderes als politische Zensur und die Einschränkung der Informationsfreiheit. Die soll mittels Ziel 1 d statistisch so unterlegt werden, dass nur Daten zu den Vorteilen der Migration erhoben werden. Nicht jedoch zu den Nachteilen. Auch die wissenschaftliche Forschung soll positiv zugunsten von Migration beeinflusst werden (Ziele 1 d und k). Ziel 16 soll „Polarisierung vermeiden und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Migrationspolitik und die mit Migration befassten Institutionen stärken“. Die Informationsfreiheit soll in Schulen nicht mehr gelten, Ziel 17 fordert „einen öffentlichen Diskurs zu fördern, der zu einer realistischeren, humaneren und konstruktiveren Wahrnehmung von Migration und Migranten führt“. Doch wer definiert nachweisbare Fakten, deren Verbreitung und Interpretation?
Ziel 17 c bringt den Willen nach Manipulation der öffentlichen Meinung auf den Punkt: Aufklärung von Medienschaffenden hinsichtlich von Migrationsfragen und -begriffen, und Einstellung der öffentlichen Finanzierung oder materiellen Unterstützung von Medien, die systematisch Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und andere Formen der Diskriminierung gegenüber Migranten fördern“. Hier soll journalistische Freiheit gesteuert werden. Dazu gehören gewiss immer zwei Parteien, der Steuernde und der Gesteuerte, doch das Prinzip der journalistischen Freiheit akzeptiert der Migrationspakt nicht. Sofort drängt sich die Frage auf, ob zukünftig nur noch migrationsbejahende Medien öffentliche Gelder bekommen sollen oder ob beispielsweise die Haltung zu Migration Einfluss auf die Besetzung der Rundfunkräte haben wird. Ziel 17 f etwa sieht vor, Aufklärungskampagnen zu fördern, um die öffentliche Wahrnehmung des positiven Beitrags von Migration zu gestalten und Rassismus, Fremdenhass und die Stigmatisierung aller Migranten zu beenden, außerdem soll in „ethische Standards der Berichterstattung und Werbung“ investiert werden.
In Brüssel ist dies indes nichts neues. „Wahrnehmung gestalten“ heißt Denken steuern. Das macht die EU-Kommission bereits heute mit einer eigenen Haushaltslinie. Bis zum 1. März 2018 konnten sich nichtstaatliche Organisationen an der Ausschreibung AMIF‐2017‐AG‐INTE‐01 „Sensibilisierung für den gesellschaftlichen Beitrag von Migranten in der EU“ beteiligen. 380 Nichtregierungsorganisationen reichten ihre Vorschläge ein, sechs Konsortien wurden ausgewählt und werden mit fünf Millionen Euro gefördert. Das ergab die Durchsicht von parlamentarischen Anfragen (in diesem Falle die Anfrage E-003170-18 und die dazugehörige Antwort E-003170/2018 (ASW). Mit anderen Worten: die EU-Kommission bezahlt bereits jetzt für positive Berichterstattung über Migration. Doch das ist nicht alles: Weil die Juncker-Kommission angesichts der Informationsvielfalt die Deutungshoheit über ihre Politik verliert, will sie den Informationsfluss stärker kontrollieren: neben einem unabhängigen europäischen Netz von Faktenprüfern will die EU-Kommission den Qualitätsjournalismus für die Produktion und Verbreitung qualitativ hochwertiger Nachrichteninhalte über EU-Angelegenheiten auf der Grundlage datengesteuerter Nachrichtenmedien fördern. Nach dem Grundsatz „Wer zahlt, bestimmt“ wird hier in die Unabhängigkeit des Journalismus eingegriffen. Demokratie kann nur mit freien Medien funktionieren. Sind Medien noch frei, wenn sie von öffentlichen Haushalten bezahlt werden und beim Thema Migration zu einer vorab bestimmten Information angehalten werden?
Angesichts der Uneinigkeit zwischen den Mitgliedsstaaten und des Umstandes, dass mit Österreich ausgerechnet der mit der sechsmonatigen Leitung des Ministerrats beauftragte Mitgliedsstaat den Migrationspakt selbst nicht unterzeichnen will, verlangt das EU-Parlament nun einen eigenständigen Verhandlerstatus in Marrakesch. Das ist institutionell natürlich gar nicht möglich, schließlich verhandelt die Kommission die internationalen Verträge. Außerdem spricht schon die Zusammenstellung der Parlamentsdelegation Bände: beide Co-Präsidenten der Parlamentsdelegation kommen aus der sozialdemokratischen Fraktion und für die Christdemokraten fährt ausgerechnet Anna Maria Corazza Bildt mit, deren schwedische Heimatpartei ihr gerade einen Listenplatz bei den EU-Wahlen verweigerte, weil ihre politischen Positionen am Ende selbst für die fortschrittlichsten schwedischen Christdemokraten derart links und unhaltbar waren, dass sie abgesetzt wurde. Sie vertritt nun die größte Fraktion bei einem so sensiblen politischen Prozess wie den Migrationspakt.
Die Migrationspolitik verändert das EU-Parlament bereits jetzt von innen. Beispiel: die Abstimmung über die Entschließung zum Thema „Humanitäre Visa“ am 13. November 2018 in Straßburg. Die Vorlage aus dem Innenausschuss scheiterte bei der Schlussabstimmung an der Hürde der qualifizierten Mehrheit. Die innerparlamentarische Prozedur entsprach allen Regeln, die Abstimmung im Plenum auch. Angesichts des hohen Erfordernisses der qualifizierten Mehrheit fragte Sitzungsleiter Tajani sogar mehrfach nach, ob alle Mitglieder elektronisch abgestimmt hatten. Das war der Fall. Doch der Text viel durch. Das Abstimmungsergebnis (die Niederlage) missfiel den Grünen, den Kommunisten und den Sozialdemokraten. Sie machten innerhalb von 24 Stunden derart Druck, dass die Fraktionsvorsitzenden bereits am darauffolgenden Tage entschieden, die Abstimmung zu wiederholen. So wird also derselbe Text zugunsten von Humanitären Visa für alle ein zweites Mal abgestimmt und wahrscheinlich so lange, bis das Ergebnis der links-grünen Mehrheit im EU-Parlament genehm ist.
Man kann den Verantwortlichen nur mehr Besinnung wünschen, nicht nur für die Adventszeit.
Zur Erinnerung: Mehrfach wurden wir gebeten, die Identität des Briefeschreibers aus Brüssel preiszugeben. Es handelt sich um eine Gemeinschaftsarbeit von Informanten und Redaktion. Sie erinnert an die sogenannten Junius letters, in denen ein Pseudonym namens Junius in der Zeitschrift Public Advertiser in London vom 21. Januar 1769 bis zum 12. Mai 1772 Briefe über die Geschehnisse am Hofe und im Parlament veröffentlichte. Darin wurden die Machenschaften in der Königsfamilie, von Ministern, Richtern und Abgeordneten satirisch und mit Sachkenntnis der internen Vorgänge und Intrigen aufgespießt. Die Junius-letters gelten als erster Beleg des journalistischen Zeugnisverweigerungsrechts.
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