Sensation in Syrakus oder alle Zeitreisenden-Bücher von Hardy Manthey im Monat Juli sowie weitere vier E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis

Dieser Newsletter verspricht ein Highlight – und zwar ein Highlight für den gesamten Monat Juli. Denn so lange ist die Gesamtausgabe der insgesamt 16 Teile umfassenden „Zeitreisenden“-Reihe von Hardy Manthey, die zu den Bestsellern der EDITION digital gehört, im E-Book-Shop www.edition-digital.de zum Sonderpreis zu haben. Jeweils eine Woche lang (Freitag, 13.07.18 – Freitag, 20.07.18) können weitere vier Deals der Woche im E-Book-Shop www.edition-digital.de zu ebenfalls günstigen Konditionen erworben werden:

Zu einer Reise nach Italien lädt Waltraud Lewin in ihrem Buch „Katakomben und Erdbeeren“ ein, in dem sie unter anderem das Wunder der italienischen Art, die Straße zu überqueren, erklärt.

Auf eine ganz andere Reise begibt sich Karl Röske – und zwar nicht ganz freiwillig, sondern auf Aufforderung „von oben“, vom Bezirk. Und diese Reise krempelt nicht nur sein Leben um. Nachzulesen in „Jenseits des Stroms“ von Heinz Kruschel.

Vom Leben eines Kindes in Nordirland, Anfang der 1970er Jahre, erzählt Walter Kaufmann in seinem spannenden Kinderbuch „Patrick“.

Bilder von Johannes Helm und Gedichte zu diesen, seinen Bildern versammelt der Band mit dem im besten Sinne des Wortes merkwürdigen Titel „Seh ich Raben, ruf ich, Brüder“. Dazu ein ebenfalls bemerkenswertes und sehr lesenswertes Vorwort von Werner Stockfisch.

Den Anfang aber machen wir heute wie schon angekündigt mit der Gesamtausgabe der zwischen 2011 und 2017 bei der EDITION digital erschienenen insgesamt 16 Teile der „Zeitreisenden“-Reihe von Hardy MantheyEin Leben zwischen Tod und Unsterblichkeit“, die es nur als E-Books zu kaufen gibt, nicht als gedruckte Ausgabe: Eine junge, auffallend schöne Frau reist durch Raum und Zeit. Die Schwedin Maria Lindström, die in München erfolgreich Medizin studiert hat, verliebt sich in einen Mann und erlebt die Abenteuer ihres Lebens. Ein Flug zum Pluto endet in einer Katastrophe. Sie ist die einzige Überlebende und stürzt aus dem 22. Jahrhundert in die Antike, um 150 vor unserer Zeit. Im Karthago vor dem 3. Punischen Krieg muss sie, nunmehr eine Sklavin, in einem Freudenhaus arbeiten, bis sie eine reiche und mächtige Frau, schließlich eine Priesterin, in Sizilien wird. Vor dem Tod bei einem Sklavenaufstand flieht sie in eine parallele Welt auf den Planet der Frauen. Weitere Zeitreisen führen Sie zu den Unsterblichen im 4. Jahrtausend, in den Harem eines ägyptischen Pharaos, in die Wiege der Menschheit in der Urzeit, in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts, zu den Maya im 9. Jahrhundert, und, und, und …

Immer wieder spürt Maria oder Aphrodite, wie sie sich meist nennt, die Unterdrückung der Frau und gerät in sehr gefährliche Situationen, in denen sie ihr Leben nur mit großer List oder mit Hilfe der Herren der Zeit retten kann. Ihre geistige Überlegenheit und ihre Medizinkenntnisse schaden ihr in den vergangenen Zeiten mehr als dass sie ihr helfen. Aber kurz nach dem Beginn des ersten Bandes ist zunächst gar nicht von Maria Lindström oder Aphrodite die Rede, sondern von einem gewissen Professor …

Vom 22. Jahrhundert zurück in das antike Karthago
Teil 1
Das Unwetter

Völlig zerschlagen von der unruhigen Nacht, versucht Giorgio Marotti, unter der Dusche irgendwie doch noch halbwegs munter zu werden. Die ganze Nacht tobte ein mächtiges Gewitter. Für diese Jahreszeit kam es mit ungewöhnlicher Heftigkeit. Am Frühstückstisch knabbert er lustlos an einem Apfel herum. Nebenbei aktiviert er über seinen Multiplex den Fernseher. Auf seinem Wandbildschirm verfolgt er eher beiläufig die Nachrichten.

Es ist der 28. August 2107 um 07.35 Uhr. In den Nachrichten wird von schweren Schäden vor allem an Straßen und Brücken auf ganz Sizilien berichtet. Aber immer noch mit seinen Gedanken abwesend, hört er den Nachrichten zu. Denn es ist jetzt schon der dritte Morgen ohne seine Frau Messina. Seit Messina erfolgreich esoterische Bücher verkauft, ist das gemeinsame Frühstück ein seltenes Ereignis. Dementsprechend ist heute sein Stimmungspegel ganz unten. Beethovens Neunte erklingt schrill und Marotti dreht sich zum Wandbildschirm um, der ihm den Anrufer zeigt. Sein holländischer Assistent Peter van der Delft erscheint fast in Lebensgröße auf dem Bildschirm und sieht wie ein begossener Pudel aus. „Professor Marotti, guten Morgen, Sie müssen sofort kommen! Eine Sensation! Unglaublich ist das. Das Unwetter hat vermutlich an der neuen Umgehungsstraße Reste einer antiken Tempelanlage freigelegt. Lassen Sie alles stehen und liegen, kommen Sie bitte sofort! Es ist unglaublich“, sprudelt es aus Peter van der Delft nur so heraus und er atmet dabei sichtlich schwer. Wie vom Blitz getroffen, lässt Marotti den Apfel fallen und den gerade fertig gewordenen Cappuccino rührt er nicht mehr an. Er greift nur noch nach seinem alten Strohhut und rennt hinaus.

Ein warmer Wind begrüßt ihn. Er hat keinen Blick für das Farbenfeuerwerk, das die Morgensonne mit den Resten der Gewitterfront auf dem Meer veranstaltet. In der ersten Sekunde will Marotti sich eines der fahrerlosen, automatischen Taxen rufen lassen, doch dann denkt er an die mahnenden Worte seiner Frau: „Tu etwas für deine Gesundheit!“

Nervös entsichert er das Schloss an seinem Sportrad. Fast elegant springt er auf das Fahrrad und tritt in die Pedalen. Das Rad war ein Geschenk seiner Frau zum Hochzeitstag und ist ihre Mahnung, gesünder zu leben. Am gleichen Tag, an ihrem ersten Hochzeitstag, machte er damals die archäologische Entdeckung seines Lebens. Bei einem Tauchgang hier in der Bucht fand er eine gut erhaltene, lebensgroße Marmorstatue. Nach seiner Auffassung ist es die Göttin Aphrodite oder die Verherrlichung der Venus. Er datierte die Statue damals auf die Zeit um zweihundert vor unserer Zeitrechnung. Es war die Sensation, die ihn damals auf einen Schlag berühmt machte.

Viel Ärger mit den Berufskollegen gab es später, denn mit seiner These von der blonden Aphrodite konnte sich keiner anfreunden. Laboruntersuchungen hatten bewiesen, dass die Haare der Statue vergoldet waren. Die Fachwelt protestierte damals lautstark bei dieser gewagten These. Die Frau war auch für antike Verhältnisse sehr freizügig dargestellt worden. Andere Experten gingen von einer ganz vergoldeten Statue aus, obwohl Farbreste etwas anderes belegten. Danach war auf archäologischem Gebiet zumindest aus der antiken Zeit nicht mehr viel los. Nur kleine Keramikreste und Münzen konnte er seitdem hier in Syrakus noch ausgraben.

Im Zusammenhang mit Wohnungsrückbau und Sanierung der Innenstadt, von Europa großzügig gefördert, wurden umfangreiche archäologische Ausgrabungen möglich, aber meistens blieb man bei den Schichten des frühen Mittelalters stehen. Um an antike Schichten heranzukommen, hätten jüngere Siedlungsreste zerstört werden müssen. Sehr zum Leidwesen von Marotti. Nun aber könnte dieser Zufall seiner Arbeit neuen Auftrieb bringen. Etwas kommt er doch aus der Puste, als er den Berg hoch radelt. Aber er kann schon die Schlammlawine und zum Teil ganze Erdverschiebungen von Weitem gut erkennen. Sogar Marmorplatten sind von hier aus zu sehen. Aufgeregt strebt er seiner neuen Aufgabe zu.

Angekommen, lässt er das Fahrrad einfach in den Dreck fallen. An den Polizisten vorbeigehend, steht er schon nach wenigen Schritten auf den freigelegten Fundamenten dieses unbekannten antiken Bauwerks. Dass hier ein antikes Bauwerk freigelegt wurde, daran gibt es für ihn keinen Zweifel. Denn sofort fallen ihm die wuchtigen Quader aus Sandstein auf. Alles erinnert ihn allerdings eher an ägyptische Tempelbauten als an bekannte griechische Baustile. Die freigelegten Steine zeigen an den Seiten eingemeißelte Symbole und Figuren. Sie könnten Motive der Göttin Venus oder der Aphrodite darstellen.

Als sein Assistent Peter van der Delft ihm auf die Schulter klopft, dreht er sich widerstrebend um. In Gedanken malt er sich gerade aus, wie dieser Tempel einmal ausgesehen haben könnte. Peter van der Delft zeigt nur mit der Hand auf die Straße. Mürrisch erkennt Marotti eine Pressemeute und sagt zu seinem Assistenten: „Peter, geh bitte hinunter, fang sie ab. Erzähl ihnen irgendeinen Unsinn, damit wir sie loswerden. Ich kann diese Leute nicht ausstehen. Danach rufe alle zusammen. Wir wollen sofort mit der Ausgrabung beginnen!“

Peter van der Delft folgt den Anweisungen nur widerwillig. An der Absperrung erklärt er der Presse lautstark: „Meine Damen und Herren, nach ersten vorsichtigen Erkenntnissen handelt es sich, überraschend für die Fachwelt, um einen bisher hier nicht vermuteten Aphrodite- beziehungsweise Venustempel. Überraschend deshalb, weil bisher nur Tempel, die Zeus, Jupiter, Hera oder Athene verehren, in Syrakus bekannt sind. Aber erst umfangreiche Ausgrabungsarbeiten werden eine klare Antwort darauf bringen. Ich danke für Ihr Verständnis. Guten Tag.“

Prompt macht Peter van der Delft auf dem Hacken kehrt und ignoriert die Fragen der Journalisten, die jetzt laut fluchen. Peter weiß, dass er sich mit dieser Erklärung sehr weit aus dem Fenster gewagt hat. Doch die Symbole an den Quadern lassen nach seinen ersten Erkenntnissen keinen anderen Schluss zu. Auch nur so, glaubt er, die Pressemeute zu befriedigen. Die Presseleute schlucken den Köder und nach ein paar Fotos verziehen sie sich schimpfend wieder.

Der Professor klettert immer noch auf den freigelegten Steinen herum, als van der Delft mit ansehen muss, wie ein tonnenschwerer Stein am Abhang einige Zentimeter wegrutscht. Darum ruft er hastig: „Professor, schnell herunter von den Steinen! Der erste Stein ist schon leicht weggerutscht!“

Erschrocken springt Marotti von den Steinen und betrachtet mit Abstand das Desaster. Tatsächlich hat sich einer der riesigen Blöcke deutlich bewegt. Das fängt ja gut an, denkt Marotti. Jetzt muss ich das ganze Gelände weiträumig absperren lassen. Die Ausgrabung ist sonst zu gefährlich für alle. Das kostet Geld und vor allem Zeit.“

Erstmals 1977 erschien im Verlag Neues Leben Berlin „Katakomben und Erdbeeren. Notizen einer italienischen Reise“ von Waldtraut Lewin: Reisen in Italien – Versuch der Annäherung an ein Land, das zum Handlungsort bekannter Romane der Autorin wurde. Die erste Reise führt nach Rom, Venedig und Mailand, zu den Weinbauern der Campagna, aber ebenfalls nach Pompeji. Faszination der Historie, beeindruckende Gegenwart – Altes und Neues durchdringen einander. Begleiten wir die Autorin bei einem Spaziergang durch Rom:

Zu Fuß durch die Ewige Stadt
Zu Fuß, wie denn sonst. Nur so lernt man eine Stadt kennen. Außerdem gibt es einen Kurzstreik der Busfahrer. Man verlässt sich wirklich am besten auf sich selbst. Zunächst muss ich mich mit der italienischen Art, die Straße zu überqueren, vertraut machen. Die ist leicht beschrieben: Man geht einfach los. Wozu allerdings für ein zu Disziplin erzogenes Wesen ebenso viel Selbstüberwindung wie Mut gehört. Zuerst traue ich mich nicht allein, sondern warte, bis sich ein paar Leute am Straßenrand zusammengefunden haben und hänge mich dran. Nach und nach begreife ich das Wunder: Dass einem nämlich als Fußgänger hier viel weniger passiert, als wenn man in einem Wagen sitzt. Die Römer fahren zwar mit südlicher Aggressivität und, wie mir scheint, völlig regellos, aber offenbar steckt in jedem Auto ein Mensch. So sieht man immer wieder durch den sechsspurigen Verkehrsstrom wie auf Wogen einen Fußgänger dahintreiben, der nun mal partout auf die andere Seite will, vertrauend auf seinen guten Stern und die Reaktionsschnelligkeit der Fahrer. Auch Autobusse stoppen, und Hupen oder Schimpfen habe ich nur erlebt, wenn irgendein anderer Wagen nicht schnell genug in eine Lücke einbog.

Auch Ampeln werden hier anders als bei uns verstanden. Startete man erst bei Grün, käme man nie vom Fleck. Das Rot der Gegenrichtung gilt als Zeichen für die Abfahrt, so einfach ist das. Was ich allerdings nicht begriffen habe, ist die Funktion von Verkehrspolizisten. Sie dienen wohl hauptsächlich dazu, den Touristen den Weg zu sagen. Deshalb tragen sie so wunderschöne Operettenuniformen in Dunkelblau mit Rot und weißem Lederzeug. Meistens halten sie sich raus, da sie sonst sofort von den Autofahrern einmütig beschimpft werden. Sie stehen während ihres Dienstes am Straßenrand, rauchen eine Zigarette und gucken zu, wie die Römer sich selbst den Verkehr regeln.

Straßenverkehr in Rom ist ein Chaos, aber eins, das durch Herz und wachen Verstand erträglich wird. Übrigens habe ich nie erlebt, dass ein Autobus nicht nochmals anhielt, wenn noch ein Fahrgast gelaufen kam, und manchmal stoppten sie sogar zwanzig Meter von der Haltestelle entfernt noch einmal, wenn jemand wild gestikulierend am Straßenrand auftauchte. Junge Mädchen fahren Moped in Stiefeln mit Zehnzentimeterabsätzen, dazu tragen sie Hosen. Denn ohne Hosen würden sie nur auf einem Soziussitz Platz nehmen, und zwar, versteht sich, im Damensitz. Und wenn auf der Via del’ Corso zwei Schöne ihr Maschinchen anschieben müssen, dann schlagen alle rücksichtsvoll einen großen Bogen um sie – auf Kosten des wild hupenden Gegenverkehrs.

Für uns, die wir in der Kindheit von zerstörten Städten umgeben waren, eine Ungeheuerlichkeit: stilistisch einheitliche, kilometerlange, völlig intakte Fassaden. Riesige Straßenzüge. Die Massen des verbauten Steins. Nichts gequält, nichts aufgesetzt, alles organisch gewachsen. Angesichts dieser weit ausgedehnten Stadt begreift man auf einmal, dass wir irgendwie immer nur nördliche Barbaren geblieben sind. Welche Maße an Raum und Zeit. Sie machen sogar die Cola-Büchsen in der Ecke der Ausgrabungen verständlich. Man weiß wohl, dass sie vergehen, „zuwachsen“. Solche Größe produziert Fatalismus.

Und ich werde mich bis zuletzt in Rom verlaufen. Die spröde Schöne lässt sich nicht bezwingen. Wenn man meint, sie zu kennen, zeigt sie einem die kalte Schulter und bedroht einen mit ein paar Kilometer Straßenfront mehr, darauf kommt es ihr nicht an. Meine Abfahrt ein paar Tage später ist eine Kapitulation.

Keine Wand, die nicht genutzt wird. Zunächst einmal für Reklame, am grandiosesten die für Jeans, die sowieso von aller Welt getragen werden. Es gibt zum Beispiel Jesus-Jeans, gepflegt und glatt, oder Judas-Jeans, zusammengesetzt aus lauter Flicken. Dann eine Mauer voller Plakate, auf denen jeweils ein junges Mädchen oder ein junger Mann verschiedener Hautfarbe mit gekreuzten Jeans-Beinen hockt und ein Stück Brot knabbert. Unterschrift nach antikem Vorbild: Pane e Jeans. Brot und Jeans. Oder nur bezaubernde Popos in Jeans. – Jede Richtung ist vertreten, Religion, Konsumverzicht, Porno …, wie man wünscht.

Daneben die roten oder weißen Sgraffiti der verschiedensten politischen Richtungen. Nachts ist die herabgelassene Jalousie eines Ladens im Nu neu beschriftet, so sorgfältig der Besitzer die Parolen auch am frühen Morgen abgewaschen oder abgekratzt haben mag. Neben „Hoch lebe die Sowjetunion!“ und einem Streikaufruf der KPI die Aufforderung „Tod den Roten!“ oder „Es lebe der Papst!“. Der politische Kampf ist wild, der Wirrwarr unbeschreiblich. An den Pfeilern der Tiberbrücke allerdings steht in riesigen weißen Lettern: „Ama vivi al ringrazio amore“ (Liebe, du lebst dank der Liebe). Wobei auch das mehr politische Losung ist, als man zunächst denkt.

Alle Frauen rauchen auf der Straße. Die jungen Mädchen tragen alle die obligatorischen Jeans, lange offene Haare und große Ohrringe. Sie sind schlank wie Rehe, erst in der Ehe werden sie rundlich, weil sie sich dann keinen Zwang mehr antun müssen – die Versorgung scheint ja gesichert.

Bevor ich anfangen kann, die Stadt systematisch zu entdecken, habe ich vielerlei schon en passant gefunden: die blumen- und studentenübersäte Spanische Treppe; den Pincio; den Corso; die Fontana di Trevi, in die ich gehorsam über die Schulter jene Münze werfe, die mir die Rückkehr nach Rom sichern soll; die elegante Via Veneto mit ihren Juwelierläden, den Luxusklubs und Luxushuren. Die berühmten Brunnen, sagt man, seien das Wahrzeichen Roms. Aber mehr als die gestalteten Wasserkünste gefallen mir die einfachen gebogenen Metallhähne, die allüberall ihr Nass ausspucken, es verschwenderisch im Rinnstein versickern lassen.

Auf der Oberseite haben diese Wasserhähne ein kleines Loch. Ist man durstig, legt man einfach den Daumen auf die Brunnenöffnung und hält den Mund über dies kleine Spundloch, und der Strahl kühlen, reinen, mineralisch schmeckenden Wassers ergießt sich direkt auf die Zunge. Sowohl auf gusseisernen Kanaldeckeln als auch auf den Schildern, die das Blumenpflücken im Park untersagen, zeichnet der römische Magistrat stolz mit SPQR: Senatus Populusque Romanus. Senat und Volk von Rom. Wenn das kein Traditionsbewusstsein ist!“

Erstmals 1964 konnten die Leser des beim Mitteldeutschen Verlag Halle/Saale erschienenen Buches „Jenseits des Stromes“ von Heinz Kruschel die Bekanntschaft eines bemerkenswerten Menschen machen: Der Rinderzüchter Karl Röske wird Mitte der 1960er Jahre in eine LPG im Norden geschickt, in der die Feldbaubrigadierin, alleinstehende Mutter von zwei Kindern, gerade mal 180 Mark im Monat nach Hause bringt. Erst beobachtet er nur, doch dann mischt er sich mit klugen Ratschlägen ein. Die Genossenschaftsbauern sehen sofort an ihrem Geldbeutel, dass sich gute Arbeit auch auszahlt. Er findet Freunde, Mitstreiter, aber auch hasserfüllten Klatsch. Eigentlich sollte Röske nur einige Monate bleiben, höchstens ein Jahr. Als aber der Vorsitzende der Genossenschaft und der Bürgermeister vom Kreis seine Abberufung verlangen, damit ihr geordnetes, ruhiges Leben nicht gefährdet ist, sträubt sich Röske. Das spannend geschriebene Buch gibt einen interessanten Einblick in eine vergangene Zeit, als die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften das Leben im Dorf der DDR bestimmten. Und als erstes treffen wir Röske, Karl Röske, in der Eisenbahn auf dem Wege nach Norden:

1. Kapitel
Nach Norden kroch ein Zug auf der eingleisigen Strecke, immer am Ufer des großen Flusses entlang, tauchte in niedrige Kiefernwälder unter und zog die fünf Wagen mühsam hügelan. Dreißig Kilometer weit brachte er die Reisenden in der Stunde, schüttelte sie unsanft gegen die harten Rückenlehnen und schnaufte in eintönigem Rhythmus: Nicht schlafen, wir sind gleich da, nicht schlafen, nicht schlafen …

In jedem Abteil empfahl ein Reklameschild den Abschluss der Lebensversicherung. Hohe Öfen mit eisernem Schutzgitter träumten von vergangenen Zeiten und auch von künftigen, denn im Winter werden sie wieder gebraucht – wie vor einem halben Jahrhundert, als man die Strecke einweihte. Gusseiserne Öfen sind dauerhaft. Karl Röske döste vor sich hin. Zwei schwerhörige Frauen, schwarze Tücher um verrunzelte Köpfe, unterhielten sich. Über eine verstorbene Nachbarin, die – man will zwar nicht schlecht reden – doch die Nase recht hoch getragen habe, weil der Sohn auf Arzt studiert in Berlin. Über den Doktor in der Kreisstadt, der den eigenen Mann immer auf Ischias behandelt habe, und nun sei es was an der Wirbelsäule, er müsse punktiert werden, und das komme doch gleich nach dem Kaiserschnitt. Und über den großen Seehund, der Gott weiß wie in die Havel gekommen sei und den Fährmann Pigorsch gefangen habe …

Eigentlich konnte Karl Röske bei jeder Gelegenheit schlafen, im Stehen wie im Sitzen, aber heute störte ihn das schrille Gerede der beiden Alten. Oder bildete er sich das nur ein? War es vielleicht das Gespräch beim Rat des Bezirkes, das Wiedersehen mit Fritz Theek, die neue Aufgabe? Früher hatte ihm ein Auftrag nichts ausgemacht. War es die Angst, dass er es mit seinen fünfundfünfzig Jahren nicht mehr schaffen würde? Dass er nicht lache. Fünfundfünfzig ist kein Alter. Er brauchte doch keine Bange zu haben.

Wenn sie ihn nach Weißlose schickten, meinten sie auch, dass er, Karl Röske, es schaffen wird. Natürlich meinten sie das. Recht hatten sie, und er sollte stolz darauf sein. Es gab ein Aber, verdammt noch mal, denn in der Genossenschaft steckte ein Stück eigenes Leben, und da waren Freunde, die man länger als ein Jahrzehnt kannte. Und nun: Adieu. Beim Bezirk hatten sie gesagt, es sollte nur auf einige Monate sein, bis zum Abschluss der Getreideernte vielleicht, allerhöchstens ein Jahr. Aber er kannte solche Versprechungen. Dann hieß es: Sie brauchen dich doch, Genosse Röske, du kannst sie nicht enttäuschen, das ist auch eine Frage des Bewusstseins. Vertrauen haben sie zu dir, das ist viel. Ja. Das ist viel. Er ist der letzte, der das nicht einsieht. Aber schwer ist es, aus einem Ort wegzugehen, in dem man ständig das Wachsen der eigenen Arbeit gesehen hat, die Wirkung seiner Gedanken, Pläne und Taten. Eine andere Genossenschaft, ein anderer Ort, ein anderer Kreis. Und ein Mann, unverheiratet, der verpflanzt wird in einen anderen Boden. Zum Teufel mit diesen Grübeleien.

Der Zug hielt. Eine Station wurde ausgerufen: Scharlibbe. Eigenartiger Name. Und Röske erinnerte sich daran, vor Kurzem in der Zeitung einen Artikel über die slawischen Ortsnamen der Umgebung gelesen zu haben, von einem Russischlehrer geschrieben. Scharlibbe soll von „Skoroljube" abzuleiten sein, ins Deutsche übersetzt so viel wie „Einer, der sich schnell verliebt". Karl Röske rieb sich die Stoppelwangen. Es muss dreißig Jahre her sein, dachte er, vielleicht auch schon einiges drüber, dass ich mir in diesem Ort ein Mädchen, von dem ich nicht mal mehr den Vornamen weiß, mit den Fäusten erobert habe, gegen einen braun gekleideten in schwarzen Stiefeln und mit hakligem Kreuz auf der Binde. Ein Mädchen im Frühling und einer, der sich schnell verliebt. So war er gewesen. Es hatte viele Frauen in seinem Leben gegeben, aber keine, die bei ihm geblieben war. Oder konnte er es bei keiner aushalten? Heute denkt man nicht mehr an solche Geschichten, wenn man den Herbst im Blute hat und einen krummen, runden Rücken und Hornhaut an Zehen und Händen. Schön war die Jugend. Nein. Nein, sie war nicht schön, es blieb einem gar nichts weiter übrig, als heute jung zu sein.

Die alten Frauen hangelten sich vorsichtig vom Trittbrett hinab, Röske schob ihnen die Weidenkörbe nach, in denen es jiepte und schilpte. Im Nachbarwagen wurde die Tür zugeschlagen, und die kleine Lokomotive tat einen neuen ersten Schnaufer. Noch dreißig Minuten Fahrt bis Sandau, dann endete diese Strecke wie abgeschnitten, und dabei fehlten noch gute zwanzig Kilometer bis zu der Berliner Bahn, die von Wittenberge über Glöwen nach Nauen führte. Weiß der Teufel, was sich damals die kurzsichtigen Honoratioren gedacht haben, den Weg nach Norden zu vernageln. Sorgten sie sich um das beschauliche Anglerparadies im Elb-Havel-Winkel?

Karl Röske trat zum Fenster, das im Takt des Zuges im Rahmen schepperte, und blickte hinaus. Die Sonne schien, und es regnete. Da laufen die Kinder hinaus, weil sie schneller wachsen möchten, da reiben sich die Bauern die Hände und nicken sich zu, denn Sonnenregen verspricht Schönwetter für die nächsten Tage. Und das könnten sie schon gebrauchen.“

Mit den blutigen Kämpfen im Nordirland des 20. Jahrhunderts und ihren Auswirkungen auf die dort lebenden Menschen setzte sich Walter Kaufmann in seinem für Kinder ab neun Jahren geschriebenen und von Angela Brunner illustrierten Buch „Patrick“ auseinander, das er erstmals 1977 im Verlag Junge Welt Berlin veröffentlichte: Belfast, Anfang der 1970er Jahren. Dort lebt der zwölfjährige Patrick. Er ist ein kleiner Junge, der vielleicht manchmal etwas sanft wirkt, sich aber trotzdem durchzusetzen versteht – wenn es hart auf hart kommt. Überall in Belfast gib es auch in der Gegend, wohin die Familie von Patrick vor zwei Jahren gezogen war, Lücken, viele Lücken, wo verfallene Häuser abgerissen und keine neuen gebaut worden sind. Auch eine ganze Menge Mauern sind in letzter Zeit zerschossen oder weggebombt worden. Sie sind das Ergebnis von Auseinandersetzungen, regelrechten Straßenschlachten zwischen Katholiken und Protestanten. Selbst Kinder sind nicht sicher. Gewohnheitsmäßig geht Patrick den Streifen britischer Soldaten aus dem Weg, auch wenn er sich an den Anblick der Streifen mit Maschinenpistolen im Anschlag längst gewöhnt hat. Aber man weiß nie, was die Soldaten von einem wollen. Und dann muss Patrick miterleben, wie sein bester Freund Cathal Haughey von einem Soldaten in einem Jeep erschossen wurde, weil er nicht auf seinen Befehl reagierte, stehen zu bleiben. Zur Einstimmung präsentieren wir hier diesmal gleich die ersten drei Kapitel dieses spannenden Buches, von denen das zweite ziemlich kurz ist:

1. Kapitel
Zugegeben, ich bin ziemlich klein, manchmal kriege ich auch zu hören, dass ich mit meinem weichen dunklen Haar, den grünbraunen Augen und meiner leisen Art zu sprechen etwas sanft wirke – ist mir egal, ich weiß mich schon durchzusetzen, wenn’s hart auf hart geht. Nie hat mir einer nachsagen können, ich sei schreckhaft oder feige. Und so abergläubisch bin ich auch nicht, dass ich gleich kehrtmachen würde, wenn mir mal eine schwarze Katze über den Weg läuft. Sonst wäre ich nämlich an diesem Sonntagmorgen zu Hause geblieben, als mir das streunende Tier von links nach rechts über die Füße sprang. Es war eine pechschwarze Katze, die plötzlich vor mir auftauchte und dann mit einem Satz über Finnagans Zaun verschwand. Jetzt möchte ich fast glauben, dass das ein böses Zeichen war, denn der Tag endete böse! Damals aber beachtete ich das Tier fast gar nicht. Ich hatte was vor, und daran hielt ich mich. Es war ausgemacht, dass ich gleich nach dem Kirchgang den Maler Sean O’Connor abholen sollte, der nicht weit von uns in der Jamaica Street wohnt. Wir wollten zusammen von Hazelwood aus den Berg Cave Hill besteigen, um von da oben Bilder zu malen. Einen schöneren Ausblick über Belfast, die Bucht und das Meer als von diesem Berg gibt es nirgends sonst.

Ich freute mich auf den Ausflug. Als ich dann aber an die Tür von O’Connors kleinem Ziegelhäuschen klopfte und keiner antwortete, wurde ich schon ein bisschen unruhig. War Sean etwa ohne mich losgezogen? Ich wartete, klopfte noch mal und stieß schließlich heftig gegen die Tür. Diese gab nach. Ich trat ein und rief nach Sean, und als immer noch alles still blieb, stieg ich einfach die Treppe hoch bis ins Atelier unterm Dach. Im hellen Licht, das durch das schräge Dachfenster fiel, sah ich ihn vor seiner Staffelei stehen. Er war dabei, mit düsteren Farben das Bild einer Berglandschaft zu übermalen. Mir gefiel überhaupt nicht, was er da machte, und darum störte mich auch, dass er sich nicht einmal zu mir umsah. Es war, als hätte es gar keine Verabredung zwischen uns gegeben. Mit der Zeit verlor ich die Geduld und ließ meinen Malkasten, den ich an einem Riemen über der Schulter trug, polternd auf den Boden fallen. Da erst unterbrach er seine Arbeit, schob seine Nickelbrille auf die Stirn und drehte sich zu mir um. Sein stoppliges, unrasiertes Gesicht sah noch blasser aus als sonst. Er leidet unter einer Blutkrankheit, die schwer zu heilen sein soll; seine Augen blickten müde. Er wirkte nachdenklich und irgendwie traurig.

„Vorher gefiel mir das Bild besser“, sagte ich. „Ich hätt’s gelassen, wie’s war.“ „Das sind die Gewitterwolken von Golgatha“, antwortete er leise, „die unseren Himmel bedrohen und jetzt tief über den Bergen von Sperrin und Carntogher hängen.“ Was er damit sagen wollte, begriff ich erst, als er von dem Feuer am Grab von Daniel Devin anfing und mich fragte, ob denn der Pfarrer in der Kirche nichts davon erwähnt hätte. Ich nickte, denn ich hatte die zornigen Worte von Pfarrer Nugent noch im Ohr, wusste, was gestern passiert war, und ahnte gleich, wer dahinterstecken könnte. Mich wunderte nur, dass Sean O’Connor schon davon gehört hatte, denn der geht doch nie zur Kirche. „Der Rauch der brennenden Papierblumen soll bis weit in die Falls Road zu sehen gewesen sein“, sagte er. „Doch niemand tat was. Die Polizei griff nicht ein, obwohl sie eine Wache gleich beim Friedhof haben, und kein britischer Soldat ließ sich sehen – war ja nur das Grab von einem kleinen Jungen armer Leute!“ Ich sagte nichts, weil ich wusste, dass Daniel Devin schon mit sieben Jahren an derselben Krankheit gestorben war, an der auch Sean leidet – vielleicht stellte er sich vor, was eines Tages an seinem eigenen Grab geschehen könnte. Ich musste an Molly Macnamara denken, die bestimmt die Papierblumen für die Kränze gebastelt hatte – sie ist nämlich weit und breit dafür bekannt, und ihre Papierlilien zum Beispiel sind auf den ersten Blick von richtigen Lilien kaum zu unterscheiden. Weil mir klar geworden war, dass aus dem Ausflug zum Cave Hill nichts mehr werden würde, beschloss ich, Molly aufzusuchen.

2. Kapitel
Bis zu unserem Umzug von der Leeson Street nach Ardoyne vor zwei Jahren waren wir beide befreundet gewesen, sie ging in dieselbe Klasse wie ich, und erst als ich dahinterkam, dass ich Bilder malen kann, hatte ich mich für ihre Papierblumen nicht mehr so interessiert und aufgehört, ihr beim Basteln zu helfen. Jetzt dachte ich mir, dass sie mich brauchen könnte, wo das doch auf dem Friedhof passiert war, und froh sein würde, wenn ich ihr meine Hilfe anbot. Dabei wollte ich ihr nicht nur helfen, sie sollte auch spüren, dass ich ihre Sorge um Devin nie lächerlich gefunden und schon damals begriffen hatte, dass sie mitfühlend und immer bereit ist, sich für Schwächere einzusetzen.

Eine Weile sah ich noch Sean O’Connor zu, wie er aus seiner Berglandschaft ein immer düsteres Bild machte, mit schweren Wolken über den Kuppen und tiefschwarzen Schatten in den Tälern. Dann drehte ich mich wortlos um und kletterte die Treppe vom Atelier nach unten. Meinen Malkasten ließ ich liegen, weil ich ja wusste, dass ich ihn an diesem Tag nicht mehr brauchen würde.

3. Kapitel
Wie überall in Belfast gibt es auch in unserer Gegend viele Lücken, wo verfallene Häuser abgerissen und keine neuen gebaut worden sind. Auch eine ganze Menge Mauern sind in letzter Zeit zerschossen oder weggebombt worden.

Warum, das brauch’ ich wohl nicht zu sagen – ist ja bekannt, was sich bei uns abspielt! Ich meine die Unruhen, die regelrechten Straßenschlachten, wo’s auf Leben und Tod geht und sich die Arbeiter gegen Leute wehren müssen, denen man eingeredet hat, dass die Arbeitslosen ihnen die Arbeit wegnehmen wollen. Arbeitslose gibt es viel mehr unter der katholischen als unter der protestantischen Bevölkerung. So kommt es immer wieder zu Schlägereien und Schießereien, wobei nicht nur Häuser zerstört, sondern oft sogar Menschen getötet werden. Aber genug davon! Ich wollte doch nur erklären, warum in unserer Gegend eine Masse Ruinen sind und ich in ziemlich gerader Linie über Trümmerhaufen und Mauerreste zum Busbahnhof in der Ardoyne Road gelangen konnte.

Darauf hatte ich es angelegt, weil ich Brompton Park, die Straße, in der ich wohne, links liegen lassen und vermeiden wollte, dass sich mir meine beiden Schwestern an die Fersen hängen. Auch Cathy und Deirdre hatten Molly seit unserem Umzug nicht gesehen. Sie wären mir bestimmt nachgezottelt, wenn sie erfahren hätten, dass ich zu ihr wollte. Allein trauen sie sich nämlich nicht so weit weg, was ja zu verstehen ist! Zu Molly muss man nämlich durch ein Viertel, wo fast nur Protestanten wohnen, und da fliegen einem aus Ardoyne schnell mal ein paar gemeine Schimpfworte oder sogar was Härteres an den Kopf.

Also nichts für meine Schwestern und eigentlich auch nichts für mich. Darum überlegte ich mir auch nicht lange, ob ich laufen oder mit dem Bus fahren sollte. Der Bus schien mir sicherer. Als aber nach einer Stunde vergeblichen Wartens noch immer kein Bus auftauchte, begann ich zu fürchten, dass wieder mal einer in die Luft geflogen war. Das passiert bei uns hin und wieder, wenn Männer aus Wut über irgendwelche Maßnahmen der Britischen Armee Busse entführen und explodieren lassen. Die Armee stört das wenig, es stört nur die Leute, die die Busse benutzen. Die Soldaten lachen sich eins und sind zufrieden, dass solche Vorfälle ihnen den Vorwand geben, bis an die Zähne bewaffnet, mit Panzerwagen durch die Stadt zu rollen, wo sie dann mit Macht für Ruhe sorgen. Wie aber soll es ruhiger werden, wenn der Zwiespalt in der Bevölkerung immer größer wird und sich auch auf die Kinder überträgt, bis selbst auf Friedhöfen kein Friede ist und Kränze in Brand gesteckt werden?

Was den Bus anbelangt, hatte ich mir unnötig Sorgen gemacht, keiner war hochgegangen, es war nur der säumige Sonntagsfahrplan. Als ich schon drauf und dran war, es zu Fuß zu wagen, sah ich plötzlich den roten Doppeldecker aus der Woodvale Road in die Crumlin Road einbiegen und im Kreisverkehr auf das Depot zusteuern. Wo ich hockte, auf dem Stein in der Sonne, war keine Haltestelle. Das wusste ich. Aber ich wusste auch, dass die Fahrer hier gegen Mittag – und inzwischen war es soweit – immer eine kurze Pause machen. Und genauso kam es dann auch. Das gab mir die Gelegenheit, mit dem Mann zu sprechen.

„Alles läuft also noch“, sagte ich. „Ich hatte schon geglaubt, da lodert’s wo. Oder ’ne Straßensperre oder sonst was. Bestimmt fahren sie später zur Stadt zurück, nicht?“

„Wo willst du denn hin?“, fragte der Fahrer lachend. Ich ahnte, dass er schon spitzgekriegt hatte, warum ich hier am Depot und nicht an der Haltestelle in der Crumlin Road wartete. „Hast wohl Angst um deine paar Piepen?“

„Stimmt genau“, gab ich offen zu. „Ich will zur Falls Road, und wenn’s geht, umsonst. Die Fahrpreise, Sie wissen ja.“

Der Fahrer kratzte sich hinterm Ohr und seufzte, sagte aber schließlich: „Na, dann verkrümle dich mal irgendwo dahinten. Ich hab’ dich nicht gesehen.“

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Wie ein Wiesel war ich drin und dachte, hoffentlich hört er die Münzen nicht klappern, die ich in der Tasche habe und für die Rückfahrt brauche. – Denn in der Falls Road gibt’s kein Depot, wo man sich mit dem Fahrer verständigen kann. Ein paar Minuten später fuhr er endlich los. Er wendete und hielt vor der Haltestelle, wo er alle Hände voll zu tun hatte, von den Hereindrängenden das Fahrgeld zu kassieren. Mich aber ließ er in Ruhe, und ich rührte mich nicht mehr, bis ich am Ziel war.

Früher hätte man mich in der Divis-Gegend im Kreise drehen und mit einer Binde vor den Augen losschicken können. Zur Leeson Street hätte ich mich schon durchgetastet oder wie ein kleiner Köter durchgeschnüffelt – Kneipen kann man riechen und Fischläden auch. Heute aber war Sonntag. Alles war zu. Wäre ich blind gewesen, ich hätte mich an Hindernissen grün und blau gestoßen, an diesen mit Stahlrohren verbundenen Zementfässern vor den Kneipen, den Stacheldrahtrollen vor der Polizeiwache, den Holzstapeln und Trümmerhaufen auf den Bürgersteigen. Seitengassen waren mit Brettern verschlagen und Kanalisationsgräben aufgerissen und nicht abgesichert. Überall sah es wüster aus, als ich es in Erinnerung hatte, richtig verwildert, und mir wurde klar, dass es hier noch schlimmere Straßenschlachten gegeben haben musste als in Ardoyne. Da mir ja niemand die Augen verbunden hatte, fand ich mich schon zurecht. Den Dunville Park gab es schließlich noch und hinter dem Park Querstraßen mit mir bekannten Namen wie Abyssinia, Theodore, Gibson, Merrion und Ward. Nur sahen die alle nicht mehr wie früher aus. Türen und Fenster so vieler Häuser waren zugemauert, dass mir ganz unheimlich wurde und ich mich fragte, wo denn all die Leute geblieben waren. Eine der Straßen war völlig tot und leer.

Nur noch ein Haus schien dort bewohnt zu sein. Davor spielte ein einsames rothaariges Mädchen mit einer Stoffpuppe in der Sonne. Einschusslöcher klafften in den Fassaden der Ruinen, und als ich immer wieder an den Wänden die großen weißen Pfeile sah, die kennzeichneten, hinter welchen Löchern sich Heckenschützen verborgen hatten, war ich froh, dass ich es geschafft hatte, meine Schwestern abzuhängen. Das war nun wirklich keine Gegend für sie. Vater wusste schon, was er tat, als wir nach Ardoyne umzogen. So trostlos wie hier ist es da nicht – noch nicht! Womit ich sagen will, dass auch in Ardoyne noch viel mehr passieren kann, als schon passiert ist.“

Erstmals 1996 erschien im damaligen Schweriner Verlag Stock & Stein ein Band mit 51 Bildern und Gedichten von Johannes Helm unter dem Aufmerksamkeit verlangenden Titel „Seh ich Raben, ruf ich, Brüder“. Erste Aufschlüsse über den doppelten Autor und seine beiden Künste liefert das ausführliche Vorwort des Schweriner Kunstwissenschaftlers und Journalisten Dr. Werner Stockfisch (cw), dessen Überschrift-Idee er sich bei einem berühmten Kollegen ausgeborgt hatte:

AN DEN ZÖGERNDEN KÄUFER
Als Robert Louis Stevenson seinem Roman „Die Schatzinsel“ 1883 ein Gedicht mit obigem Titel voranstellte, warb er seine Leser mit „Schiffen, Inseln, Abenteuerreisen, Ausgesetzten, Schätzen und Piraten, kurz, all dem Zauber alter Heldentaten“. Einer solchen Werbung ist heute bekanntlich jedermann Abend für Abend ausgeliefert, und sie wird nicht allein mit Werken der Weltliteratur eingelöst. Also, was können wir dem „zögernden Käufer“ dieses Buches anempfehlen?

Es ist ein ganz anderes, etwas, wonach sich viele Menschen insgeheim sehnen und wofür sie dennoch wenig tun. Es ist die Ruhe des Herzens. Diese hat mit Geruhsamkeit, mit Untätigkeit nichts zu tun. Im Gegenteil. Johannes Helm erzählt uns in seinen Bildern und Gedichten von einfachem und reichem Leben. Einfach heißt, dass er der Natur nahe ist und einer intellektuellen Zerrissenheit nicht bedarf, um Künstler zu sein, und mit reich ist Offenheit für die Wunder der Welt und viel Sinnlichkeit gemeint. So kam er zum Malen und zum Schreiben. „Der reiche Mensch ist zugleich der einer Totalität der menschlichen Lebensäußerung bedürftige Mensch“, schrieb ein heute nicht mehr soviel gelesener Philosoph im Jahre 1844.

Indem der Maler uns etwas vom Land um sein Haus im Mecklenburgischen zeigt, der Dichter den Morgen und den Abend besingt, erzählt er uns eigentlich von sich. Manchmal glaubt man ein Märchen zu sehen oder zu lesen, eins vom Fliegen beispielsweise, und manchmal sind Dinge beisammen, die in der Wirklichkeit auseinander sind. Gleichviel, dies ist mein Leben, sagt er, und das ist wohl auch eine Frage nach dem unseren.

Aha, so hört man beim Durchblättern unseres Buches ausrufen, naive Malerei. Ich glaube nicht, dass Johannes Helm ein naiver Maler ist. Gewiss erinnert manches in seinen frühen Bildern an Albert Ebert, den berühmten Hallenser Naiven, den er gekannt hat, aber unbekümmertes Drauflosmalen mit den von Kennern so geschätzten dicken behüteten Damen vor dem Spiegel oder im Gartencafé ist seine Sache nicht, von den in meinem Computer versteckten Synonymen zu naiv – von ahnungslos bis unbedarft – ganz zu schweigen. Ein Kriterium der Naiven trifft allerdings auf ihn zu: Helm ist Autodidakt. Doch was sagt das schon? Und ohne einen guten Rat bleibt keiner.

Johannes Helm ist lebenserfahren. Demzufolge ist er freundlich und nicht aufgeregt. Er kann zuhören und so erzählen, dass man ihm zuhört. Er war Professor für Klinische Psychologie und Leiter dieses Lehrstuhls an der Humboldt-Universität zu Berlin. Und er ist mit einer Schriftstellerin verheiratet. Sie leben in Neu Meteln zwanzig Autominuten von Schwerin, nutzen aber hin und wieder auch noch die kleine Berliner Wohnung. 1972 begann er zu malen. Es war eine nächtliche Szene am Fluss mit Mond und Laternen, und der weiße Gartentisch fehlte tatsächlich nicht. Seitdem sind mehr als 300 Bilder entstanden; es gab Ausstellungen und Verkäufe, und 1978 erschien im Berliner Aufbau-Verlag Johannes Helms Buch Malgründe, in welchem er ein bisschen über Absichten und Mittel erzählen, dem Bild etwas hinzufügen wollte und das mit kleinen Geschichten aus seinem Leben tat.

Der Horizont in Johannes Helms Bildern ist weiter geworden. Seine Landschaften sind jetzt großzügiger, klarer, freier. Der Maler bekennt sich zu ihren Strukturen mit durch Felder und Wege gegliederter Ebene, Waldesrand und hohem Himmel – mit Wolken, Sonne, Mond – ebenso wie zu deren unendlicher Vielfalt der Erscheinungen. Doch mehr noch: Der menschliche Gehalt der Bilder ist in dem Maße gewachsen, als dem Maler handwerkliche Mittel besser und besser zu Gebote stehen. Er benutzt sie. Die Farben und Formen sind zum Träger von Lebensgefühlen geworden.

Er hat es gelernt, Tricks anzuwenden. Zum Beispiel: Er fährt mit dem Fahrrad in die Natur, malt aber zu Hause. Es gibt nur ganz wenige Skizzen. So entsteht auf der Staffelei keine bestimmte, lokalisierbare Ansicht, sondern etwas, was der Maler vorher nicht im Kopf hatte – ein Stück in sich ruhender Welt. Es gibt einen weiteren Kunstgriff: Figuren, manchmal eine, manchmal mehrere, werden in die Landschaft gesetzt, imaginäre Spaziergänger auf Wegen der Fantasie. Und welche Wirkung hat doch im Bilde ein einziger roter Fleck, der ein Hut ist! Und dann schwarze Vögel – in Scharen, im geordneten Zug, Futter suchend oder nur zwei über einem Kornfeld. Sind es Krähen? Sind es Raben? Sind Krähen auch Raben?

Ich weiß es nicht. Jedenfalls sind sie die Freunde des Malers, und er möchte sich mit ihnen was erzählen. Mehr dazu in Meine fünf Sinne … Was aber die Art seiner Botschaft an uns betrifft, so glaube ich, es wäre zu wenig zu sagen, er wolle auf die Schönheit der Natur aufmerksam machen. Es geht wohl um mehr: eine Aneignung von Welt, ein Einverleiben dessen, was uns umgibt, in einem praktischen Prozess. Deshalb ist für Johannes Helm wie vielen anderen Künstlern das schwierige Hervorbringen das größte Abenteuer an der Kunst.

Er wird dafür belohnt. Gehe ich jetzt mal abends ans Wasser, sagt er, dann sehe ich vieles anders. Nicht nur, weil ich mehr auf dieses oder jenes achte, nein, ich sehe anders, wirklich. Vielleicht können wir als Betrachter ein bisschen an dieser Verwandlung teilnehmen. Indem wir unser Gegenüber ergreifen, geht es um uns selber. Johannes Helm: Was ich malen möchte, ist für mich wie meine andere Seite, eine Art Gegen-Teil, das auf sein Recht pocht. Nicht etwa körperlicher Ausgleich am Wochenende, auch nicht Entspannung und Erholung, Angeln gehen, über eine Wiese laufen. Auch nicht kulturelle Lücken schließen, lesen, Ausstellungen oder Theater besuchen. Die andere Seite ist das in mir, was oft zu kurz kommen muss, worauf ich nicht genug achten kann, wovor ich mich scheue oder wovon ich nicht genug weiß. Es ist der Lebenswert des Ganzheitlichen.

Helms Gedichte handeln von demselben, es ist ja derselbe Mensch. Aber sie sind anders. Die Bilder sind nicht Illustrationen zu seinen Gedichten, die Gedichte beschreiben nicht seine Bilder. Im Wort, auch im verdichteten Vers, liegen Bericht und Reflexion. So erzählt uns Johannes Helm, wie er den Sommer und den Winter, Wind und Regen, Pflanzen und Tiere erlebt, und von den Nachbarn, von Martha und Frieda und den Katzen, weiß er auch etwas.

Nein, seine Gedichte sind keine Beschreibungen fürs Schullesebuch. Sie entfalten die Ruhe des Herzens, die er gefunden hat und täglich neu finden muss: Stille (Der Morgen), Milde (Regenlob), Freundlichkeit (Tante Martha), Humor (Knöterich), unverstellt sein (Die Güte) und immer wieder eine unstillbare Erlebnisfähigkeit (Gartentage). Und noch manches mehr; wir können es nachlesen. Helms Gedichte bekennen sich wie seine Bilder zu einer einfachen und verständlichen Sprache; das ist alles andere als Einfalt. Sie verzichten nicht auf den Reim. Das bedeutet: Die Mitteilung erfolgt auf poetische Weise; es wird nicht einfach notiert, sondern an der Form gearbeitet, bis sie leichtfüßig daherkommt. Einige Gedichte handeln davon.

Und Tiere als Zeichen des Lebendigen, des Freien und des Schönen, wie in den Bildern. Ich zähle in den Gedichten dreizehn Vogelarten, es können sogar noch mehr sein. Und Farben: außer Grün, Gelb, Rot, Violett, Blau auch Kamillenfarben, Bleigefärbt, Gold und Silber, Weiß und Schwarz, Licht und Schatten.

Unsagbar bleibt so vieles, was ich sehe, spüre, so heißt ein Vers in dem Gedicht Sprachnot. Die Reihenfolge darin gefällt mir sehr: erst sehen, dann spüren, oder ohne die Abfolge: das Gesehene spüren. So nehmen wir von dem Dichter, dem Maler ein Angebot entgegen“, schrieb Dr. Werner Stockfisch 1996.

Und vielleicht hat sie dieses ausführliche Vorwort AN DEN ZÖGERNDEN KÄUFER überzeugt, sich die Bilder und Gedichte von Johannes Helm anzusehen und sich von beiden bezaubern und zur Feier der Schönheit des Lebens einladen zu lassen. Zögern Sie nicht, es lohnt sich.

Aber auch die anderen Angebote dieser Woche sowie das Highlight des Monats Juli sind das Ansehen wert, um mit ihnen auf höchst unterschiedliche Weise durch Raum und Zeit und Menschenlebensgeschichten zu reisen und bei dieser Gelegenheit auch über die eigene Lebensreise nachzudenken. Und vielleicht malen oder schreiben Sie sogar selbst ein bisschen? So kann man sich selbst beobachten und sogar ein wenig auf die Schliche kommen. Welche Überschrift würden Sie für Ihr bisheriges Leben wählen?

Viel Spaß beim Lesen und Nachdenken, viel Erfolg beim Suchen und Finden – ganz im Sinne des Malers und Dichters Johannes Helm – der „Ruhe des Herzens“, weiter einen schönen Sommer und bis demnächst.

Über die EDITION digital Pekrul & Sohn GbR

EDITION digital wurde 1994 gegründet und gibt neben E-Books (vorwiegend von ehemaligen DDR-Autoren) Kinderbücher, Krimis, historische Romane, Fantasy, Zeitzeugenberichte und Sachbücher (NVA-, DDR-Geschichte) heraus. Ein weiterer Schwerpunkt sind Grafiken und Beschreibungen von historischen Handwerks- und Berufszeichen sowie Belletristik und Sachbücher über Mecklenburg-Vorpommern. Insgesamt umfasst das Verlagsangebot, das unter www.edition-digital.de nachzulesen ist, derzeit mehr als 900 Titel (Stand Juli 2018).

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