Raus aus den vier Wänden, raus aus den Gebäuden, weg von den Orten, an denen sich oft die Gedanken im Kreise drehen. Die richtigen Abstände halten, stützen und gestützt werden, sich an die Regeln halten, aufeinander und auf langsamere Radler Rücksicht nehmen, Vertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit gewinnen, den eigenen Körper neu kennen lernen, Spaß haben, Zusammenhalt in der Gemeinschaft erleben, Bewegung an der frischen Luft sowie nie geglaubte Ziele erreichen – um einige Effekte der dreitägigen Radtour für die Teilnehmer zu nennen.
Dank Radfahren Ängste überwinden – ganz ohne Pillen
"Die Bewegung und das generieren neuer Erfahrungen und Erlebnisse fördert in hohem Maße die Gesundung unseren jungen Patienten. Nicht ohne Grund kommen Patienten unserer Klinik weitestgehend ohne Psychopharmaka aus", erklärt Dr. med. Löble, Teilnehmer und Chefarzt der KJPP. "Wir setzen auf Psychotherapie und neue Erfahrungen und Erlebnisse in der Gruppe." Dieses Jahr war auch der 16-jährige Tobias [1] dabei. Er ist durch seine familiäre Situation belastet, möchte schon Wochen vorher nicht aufs Rad und schon gar nicht 160 Kilometer in die Pedale treten. Im Gegenteil, Tobias hatte große Angst überhaupt auch nur auf ein Fahrrad zu steigen. Er sei früher einmal gestürzt und nimmt daher beim ersten Versuch den Helm gleich wieder ab. Eigentlich will er in Ruhe gelassen werden, aber jetzt steht er da. Ende April draußen auf dem Hof, neben einem Mountain Bike mit dem er eigentlich gar nichts anzufangen weiß. Das Aufsteigen scheint kaum möglich, Hilfemöglichkeiten werden besprochen und dann zuerst im Parkhaus – geschützt vor den Blicken anderer – die ersten Meter geübt, einfach nur geradeaus. Die erste Kurve, Wiederholungen, Sicherheit bekommen und dann zwei Wochen später das erste Mal hinaus auf die Straße. Es folgt der erste Anstieg bis in den Park und Schalten lernen. Danach weiter mit dem gewachsenen Mut bis in eine andere Stadt. Wow, es geht auf einmal besser, er scheint "überm Berg" und nimmt an der Radtour teil.
Gut trainiert ist halb am Ziel
Zur Vorbereitung der 3-tägigen Bodensee-Radtour fanden ab April wöchentlich Radausflüge mit den Kindern- und Jugendlichen, zum Teil auch mit Angehörigen, statt. Die Route der Tour führte am ersten Tag nach Weilheim in die Eisdiele, bevor dann der Alpaufstieg wartete. Etliche Höhenmeter mussten bewältigt werden und danach machte sich erst einmal Erleichterung bei den Teilnehmern breit, "ist der anstrengendste Teil geschafft?". Das Verpflegungsteam "Foodfighters" bestehend aus zwei Mitarbeiterinnen brachte den Proviant mit dem Bus schon vor Ort. Gut gestärkt und ausgeruht ging es dann über die Alphochfläche weiter nach Münsingen. Abends wurde traditionell gegrillt und in Tipis übernachtet. Wer mochte legte sich mit seinem Schlafsack direkt auf die Wiese unter die Sterne. Der zweite Tag führte den Tross über 60 Kilometer nach Sigmaringen durch kleine Dörfer, Wälder, Wiesen und duftende Felder hinein ins Donautal.
Und dann ist er da, der See
Am dritten Tag ändert sich die Landschaft wieder, es wird mediterraner, irgendwie kann man den See jetzt schon riechen. Dann der letzte Anstieg: Der Ehrgeiz ist gewachsen, keiner will mehr absteigen und schieben. Man sieht den See bei der Abfahrt das erste Mal – ein Stück blau durch die Bäume hindurch. Unten angekommen herrscht Hochstimmung. Auch beim obligatorischen Zielfoto und beim Eis an der Uferpromenade geht es ausgelassen zu, bevor es dann endgültig zur letzten Unterkunft geht, in kleine Holzhütten mit eigenem kleinem Strand.
Tobias hat es geschafft
"Ich bin total fertig, ich habe noch nie so etwas Anstrengendes in meinem Leben gemacht. Aber es ist ein unbeschreibliches Gefühl nun hier zu sein, und ich habe neben einem Glücksgefühl auch den Eindruck meine Willenskraft gestärkt zu haben", erklärte ein überwältigter Tobias. Er ist über sich hinaus gewachsen und gemeinsam mit allen anderen angekommen. Er steht jetzt tatsächlich am See und springt gleich mit seinen Kleidern hinein. Erlebnispädagogik ermöglicht es, Ängste im Kopf in einen Realitätsabgleich zu bringen sowie die Erkenntnis, dass innere Grenzen nicht unumstößlich sind.
Die Durchführung einer solchen mehrtägigen Aktion sowie der mehrwöchigen Vorbereitungsphase, die auch einen Elternabend sowie Radeln mit den Angehörigen einschloss, fordert ein hohes Maß an Engagement vom ganzen Team, welches über das normale Arbeitspensum hinaus geht und keine Selbstverständlichkeit darstellt. "Dafür danken wir allen Mitarbeitern der Kinder- und Jugendpsychiatrie, die uns jedes Jahr beweisen, dass sich ihr Engagement für Patienten auszahlt und Grenzen überwindbar sind", erklärte Bernhard Wehde, Geschäftsführer des Klinikums Christophsbad.
[1] Aufgrund des Datenschutzes wurde der Name geändert.
Das Klinikum Christophsbad in Göppingen ist ein modernes Akutplankrankenhaus für Neurologie einschließlich regionaler Stroke Unit, Frührehabilitation und Schlaflabor, für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und für Kinder- und Jugendpsychiatrie mit einer über 165-jährigen Tradition. Es besteht, zusammen mit der geriatri-schen Rehabilitationsklinik in Göppingen und der orthopädischen Rehaklinik Bad Boll, aus 8 Kliniken mit ambulan-ten, teil- und vollstationären Bereichen.
Angegliedert an das Klinikum ist das Christophsheim, ein spezialisiertes Wohnheim für psychisch sowie neurolo-gisch kranke Erwachsene. Die vier Standorte des Unternehmens befinden sich in Göppingen, Geislingen und Bad Boll, sowie mit der Privat-Patienten-Klinik, dem Zentrum für psychische Gesundheit MentaCare, in Stuttgart. Die spezialisierte Klinikgruppe und das Christophsheim bilden mit über 960 Betten/Plätzen, das Dach für rund 1500 Mitarbeiter. Das Unternehmen ist nach KTQ (Kooperation für Transparenz und Qualität im Gesundheitswesen) zerti-fiziert.
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