Beispielhaft für die immer erneute Weltschöpfung durch die beiden Geschlechter sind Überlieferungen des Hinduismus, der den Geschlechtsakt nicht als individuellen, sondern als sakralen Vollzug versteht. Vor allem in den Tantras aus dem Shivaismus erscheint das geschlechtliche Zweierprinzip, „zur fruchtbaren Selbstspiegelung polarisiert“[1]. Shiva, Weltschöpfer und zugleich Weltzertrümmerer, umarmt seine Gemahlin Shakti, auf dem Lotosthron sitzend, während unter ihnen häufig der Stier als seine Zeugungskraft und der Löwe als die aktive Stärke seiner Gattin kauern. Denn erstaunlicherweise bildet der Gott die Mitte einer unstörbaren Ruhe, gleichsam den passiven, ewigkeitsgefüllten Aspekt, während die Göttin schon in ihrem Namen – Shakti heißt Energie – die fruchtbare, alles verändernde Zeit, den aktiven Aspekt verkörpert: Sie setzt in Bewegung, sie dynamisiert den Gott zum Tun. Die Ehe ist von daher im selben Sinne Welt schöpfend und Welt stabilisierend: in der Vermählung von Ewigkeit und Zeit.
Keineswegs ist damit ein reines Ausleben des Triebes gemeint, vielmehr bedarf es einer „Zügelung“, im Sanskrit yam (als Verbum), und eines yantra (als Substantiv), welches meint: ein Hilfsmittel der Anschauung des Göttlichen, „ein Instrument zur Zügelung der psychischen Kräfte durch ihre Konzentration auf ein Modell“[2]. So eigentümlich abgezogen vom unmittelbar Erotischen die Darstellungen sind – während die indische Kunst sich ja nicht scheut, den geschlechtlichen Akt auch als solchen darzustellen -, so sehr wirkt dabei offensichtlich das Bestreben, aus dem rein Lustvoll-Triebhaften des Geschlechts überzuleiten in eine tiefe sakrale Bedeutung: in das „Bauprinzip“ des Universums. Eben damit wird das Geschlecht überhöht und aus dem nur individuellen Vorgang in eine sakrale Ebene überführt, so daß das Shri-Yantra ein Gegenstand der Meditation und nicht der geschlechtlichen Animation wird. Das bedeutet, daß auch der Einsiedler, der Mönch, die Witwe das Yantra meditieren können und damit in das Innerste des Universums eindringen: in Pol und Gegenpol, in die unendlichen Paradoxa von Ruhe und Bewegung, Ewigkeit und Zeit.
Andersheit als Rätsel: Die Frau als Aufgabe, der Mann als Löser
Auch in den Geschlechtermythen unterschiedlichster Kulturen gilt vorwiegend ein polares Gegenüber von Mann und Frau. Beispiel China in der klassischen Formulierung von Lao‑tse im Tao Te King: „Das Männliche liebt das Weibliche. Yin umarmt Yang, und zehntausend Dinge leben in Harmonie durch die Verbindung dieser Kräfte.“[3] Doch sind diese Kräfte ebenso gleichgewichtig wie deutlich unterschieden und getrennten Aufgaben zugeordnet. Ein chinesischer Mythos kennzeichnet die Aufgaben von Kaiser und Kaiserin folgendermaßen: Die Welt des Kaisers ist der Tag; er herrscht von 6 Uhr morgens bis 6 Uhr abends. In dieser Sonnenzeit nimmt er die Truppenschau ab, spricht Recht, erläßt Gesetze, unternimmt Verteidigung oder Angriff, läßt Kanäle bauen ‑ mit einem Wort, er ist zuständig für Handlung im Sinne von Veränderung. Mit Sonnenuntergang beginnt das Reich der Kaiserin: Ihre wesentliche Aufgabe läßt sich überhaupt nicht bestimmen. In der ihr zugehörigen Nacht kann sie schlafen, dichten, musizieren, mit einem Wort: Sie hat nur dazusein im Sinne von lebendiger Richtigkeit. Ist sie nicht „richtig da“, dann allerdings kommt es zu elementaren Katastrophen: Es regnet nicht oder zuviel, die Pflanzen sterben, die Frauen bleiben unfruchtbar, die Feinde brechen über die Grenzen, die Jahreszeiten geraten durcheinander. Ihre Zuständigkeit ist der Kosmos, dessen Gesetze sie durch ihr Dasein in Ordnung hält; die Zuständigkeit des Kaisers ist das Leben im Detail, das der Entscheidungen bedarf, aber nicht an die kosmische Selbstverständlichkeit heranreicht. In dieser Gegenüberstellung ist die Welt immer noch primär durch die Frau im Lot; dennoch hat die Erfahrung gezeigt, daß aus beiden Hälften, dem jeweilig Handelnden und der reinen Stimmigkeit des Daseins, das ganze Leben besteht.
Ein anderes, offenbar gegenteiliges Beispiel: Im Schachspiel kämpft die Dame, der König bleibt fast untätig, ja er wird vom Einsatz der Dame geschützt. Strukturell handelt es sich um dasselbe polare Empfinden zweier Hälften, die in Spannung zueinander sich zum Einen des Lebens ergänzen. So entsprechen in den Abenteuern der Griechen, Germanen oder des Nordens nicht nur Helden, sondern auch Heldinnen notwendig der Herausforderung des Schicksals. Nausikaa, Penelope, Brunhilde, Ariadne, Isolde stellen unterschiedlichste Gestalten vor, die ihren Helden gleichwertig gegenübertreten und einen Gegenpol zum Mann bilden. Auch in der Artusrunde herrscht diese eigenartige Verflechtung der Geschlechter: aufeinander angewiesen, kämpfen sie doch um die Macht. Sir Gawan hat auf Tod und Leben das Rätsel zu lösen, was den Frauen das Allerliebste auf der Welt sei. Wieder nur mit List erschleicht er sich die Lösung von Dame Ragnell: „Was wir vor allem anderen von Männern wünschen, das ist: sie zu beherrschen.“[4] Überhaupt das Rätsel: Auf Tod und Leben fragt die Sphinx Ödipus, fragt Turandot ihre Freier. Wer die Antwort nicht findet, hat verloren: das Leben und die Frau, beides ist ihm bestimmt, beides steht aber nicht einfach zur Verfügung, im Gegenteil, dem Mythos gemäß ist es nur durch List zu lösen. Und dennoch: Wird es nicht gelöst, ist das eigene Dasein verscherzt. Die Frau als Rätsel und Verheißung des Mannes ‑ eine unentwirrbare, ebenso bedrohliche wie beseligende Erfahrung, die erst in den späten Märchen gut ausgeht. Frühe Mythen, etwa das Nibelungenlied oder auch die Geschichte der Turandot, enden mit der Bluthochzeit: dem Sichfinden im Untergang, auf dem „Scheiterhaufen“, manchmal im „Verbrechen“. Brunhilde läßt den Leichnam Siegfrieds ‑ ermordet durch ihren Willen ‑ auf den Scheiterhaufen legen und steigt zu ihm ins „Brautbett“. Der Ehebruch ist eines jener Verbrechen, so bei Lancelot und Ginevra, durch den die Liebenden zusammengeschmiedet werden, aber notwendig aufgrund des Verbrechens sterben. Kampf und Erlösung, beides gegenseitig gemeint, bleiben offen für Sieger oder Siegerin: Die Geschlechterbeziehung kennt Beispiele für beide Möglichkeiten.
Im mythischen Geschlechterspiel gibt es weder Unter‑ noch Überordnung, eben deswegen auch noch keine Wertigkeit der beiden Hälften, sondern die Notwendigkeit der Spannung des Daseins zwischen zwei Polen. Schweigen und Reden, hell und dunkel, aktiv und passiv sind zwar getrennte, aber nur miteinander verständliche Erfahrungen. Die Entscheidung nur zu einer Seite würde mythisch das Eingeholtwerden von der anderen Seite bedeuten: Ödipus, der seinem Schicksal entläuft, läuft geradewegs darauf zu. Die späte Formel Martin Bubers: „Am Du gewinnt sich das Ich“[5], kann auch auf die unauflösliche und unbewertbare Balance der Geschlechter hin gelesen werden.
Was in Kampf und Bezogenheit von Mann und Frau auf der „Erde“ aufscheint, kennt seine Analogie im „Himmel“ oder in der „Unterwelt“. Das Gleichgewicht von Göttern und Göttinnen in den griechischen oder germanischen Theomythen wiederholt spiegelbildlich die beschriebene anthropologische Erfahrung. Auch im göttlichen Bereich herrscht polare Ordnung: In der Ilias entscheidet das Schlachtenglück nicht nur zwischen Griechen und Trojanern, sondern entsprechend zwischen Göttern und Göttinnen verschiedener Parteien. Gut und Böse, Leben und Tod, Zeus und Hera, aber auch Zeus und Pluto sind gleich stark, ein spannungsreiches Ganzes.
Und was ist das Rätsel der Frau? Adam nennt es und löst es damit: Sie ist das Leben, Chawwa oder Eva: das Fruchtende, die Frau, die Leben gibt – wozu sie der Mann lösen muß. „Dornröschen schläft den langen Schlaf, Schneewittchen schläft, ihre mythische Schwester Brünhild schlummert flammenumhegt; geschlossenen Auges atmen sie ihrer Bestimmung entgegen, der Wirklichkeit, die sie aus dem Schein des Todes in das wahre Leben ruft.“[6] So gibt der Mann der Frau das Leben aus dem „Bann verwunschenen Schattendaseins“, aber die Frau erst vollendet es in der Geburt zu neuem Leben.
Nicht-Identität im Zwiespalt von Trieb und Geist
Warum dann, in denselben alten Mythen, auch ein Kampf der Geschlechter, sogar auf Leben und Tod? Genauer: Liebe und Tod stehen in unmittelbarer Nähe zueinander. Dazu sei ein Bild aufgerufen: Unmittelbar nach der paradiesischen Grundausstattung setzt die biblische Genesis einen Fluch. Er verändert, trübt die Ausstattung; genauer: er bestätigt die Veränderung, welche die beiden ersten Menschen vorgenommen hatten. Der Fluch unterscheidet die beiden Geschlechter in Lasten und Schmerzen, während der Segen nicht unterschieden hatte. So sind nicht nur das gemeinsame Ergehen in einem Garten verschwunden, auch das gegenseitige Verhältnis der beiden ist verstört – verstört bis zur Möglichkeit des Tierischen. Die Welt des Geschlechtes ist höchst fragwürdig dem Animalischen nahe. Das immer neue Ärgernis der menschlichen Natur lautet: daß das Ganze unseres Daseins tief irritiert ist. „Nichts ist unnatürlicher als die Natur“, um Nietzsche zu zitieren, der die Wahrheiten des Christentums jagte und dabei verschiedentlich einholte. Von dieser Irritation ist gerade das Geschlecht betroffen, verstört, gerade sofern der Leib dieses zweideutige Leben trägt. Statt Ehe erfolgt Paarung, statt der Ewigkeit des fraglosen Gehörens kommt die bange Frage: Noch oder schon nicht mehr oder noch nie: mein? Und wo der Andere nicht mein ist, es nicht sein will, bin ich dann mein – oder auf meinen Unterleib – verkürzt, vielleicht noch auf meine seelischen Halte- und Tragekräfte, auf „Brauchbares“, das sich aber auch an anderen findet? Du und kein anderer sollst mein Du sein – darin liegt die Seligkeit, aber: … viele andere sind auch noch mein Du – darin liegt die Bitterkeit des Geschlechts. Neben der Lust der Engel wartet die Lust der Tiere, wie Thomas von Aquin formulierte.
So gibt es die Frau, die den Mann zum Lustknecht dressiert: Aristoteles auf allen Vieren wird geritten von Phyllis, die die Peitsche über ihm schwingt. Und umgekehrt zeichnet Dürer die klagende junge Frau, vom wilden Wassermann unaufhaltsam in die Tiefe gezogen – ihr Vater, händeringend am Ufer stehend, kann nicht mehr helfen. Läßt sich dieser Kampf dennoch bestehen, die Nicht-Identität zumindest bändigen? „Ja und Nein zusammen ist eine schlechte Theologie“, räsonniert König Lear bei Shakespeare. Und tatsächlich ist Gott nicht Ja und Nein, vielmehr das pure Ja, wie Paulus betont (2 Kor 1, 19f). Aber: Ja und Nein zusammen ist eine gute Anthropologie. Beide zusammen geben die stimmige, spannungsvolle Sicht auf den Menschen, die nicht ein harmonisches, sondern ein ausgerenktes Wesen zum Gegenstand hat, ein exzentrisches und ekstatisches, das mehr möchte als es kann. Heilmittel dafür wäre, eine Mitte für das Ausgerenkte zu finden. Die Mitte liegt aber nicht in uns. Wir sind nicht als Autisten, sondern als Liebende geschaffen: Unsere Mitte liegt in einem Du und kehrt von dort zum Ich zurück. So sind wir dem Du auch überantwortet, im Heilen wie im Verwunden. „Du bist mein, und nun ist das Meine meiner als jemals.“[7] Noch einmal: Die Bindung der zwei ist das schönste Symbol für das Göttliche und wird – natürlich – am scheußlichsten mißbraucht. Vielleicht laufen in jeder geschlechtlichen Bindung das Göttliche und sein Mißbrauch mit. Die Unzucht reizt nur als Abglanz der Liebe.
Auch dem, der in geschlechtlicher Bindung lebt, wird auf die Länge des Lebens ein Sich-Verlassen abgefordert. Sich verlassen heißt trauen und von sich weggehen. Was tun, wenn das nahe Du schuldhaft wird, wenn man dadurch von sich weggerissen wird, umgestülpt wie ein Handschuh? Ehe ist eine unpathetische Lehrstätte, aber durchaus mit einem gewissen Pathos, sprich Leiden ausgestattet. Sexualität zerstört die Beziehung, wenn sie nur die Selbststeigerung sucht, wenn der Trieb das Getriebenwerden zelebriert. Aber Sexualität baut die Beziehung auf, wenn sie den Anderen sucht, wenn der Trieb sich in das Du einfügt. Daher werden Eros und Fruchtbarkeit in den Bereich des Heiligen gestellt: nicht nur als ursprünglich paradiesische Gaben (Gen 1,27f), sondern „nach dem Fall“ eben im Sakrament. Nie wird nur primitive Natur durch das Christentum verherrlicht: Sie ist vielmehr in den Raum des Göttlichen zu heben und heilend zu bearbeiten.
Die Sprache des Leibes: Die nicht manipulierbare Andersheit
Personsein meint antworten auf einen Anruf; dies gelingt am dichtesten in der Liebe. Sie läßt den Menschen in sich gründen, treibt ihn aber mehr noch über sich hinaus: dem anderen zu. Geschieht dies im Geschlecht, so kommt es sogar zu einer Fleischwerdung im anderen. Hier kommt das andere Geschlecht entscheidend ins Spiel. Das Hinausgehen aus sich ist unvergleichlich fordernder, wenn es nicht nur auf ein anderes Ich, sondern auf einen anderen Leib trifft – auf unergründliche Andersheit, unergründliche Entzogenheit, manifest bis ins Leibliche, Psychische, Geistige hinein. Diese Differenz auszuhalten, vielmehr sich in sie hineinzubegeben und hineinzuverlieren, erfordert mehr Mut als sich dem gleichen Geschlecht auszusetzen. Vielleicht ist wirklich nur die Liebe im Sinne von Tollkühnheit fähig, sich überhaupt einzulassen auf die Andersheit des anderen Geschlechtes und sich nicht nur narzißtisch selbst zu begegnen. Wieviel Angst steckt in der Verweigerung der Andersheit? Oder auch wieviel Entzug von Vater und Mutter, die dem Kind zur Ausbildung seiner Geschlechtsidentität nötig gewesen wären?
Es ist phänomenal bemerkenswert, daß auch der homosexuelle Geschlechtsakt den heterosexuellen nachahmen muß, weil es anders gar nicht geht. Judith Butler hat dies – zum eigenen Leidwesen – bemerkt, versucht aber selbst diese unhintergehbare Tatsache zu hintergehen: „Die Reproduktion heterosexueller Konstrukte in nicht-heterosexuellen Zusammenhänge hebt den durch und durch konstruierten Status des sogenannten heterosexuellen ‚Originals’ hervor. Denn Schwulsein verhält sich zum Normalen nicht wie die Kopie zum Original, sondern eher wie die Kopie zur Kopie.“[8] Dann fragt sich nur, wenn alles Konstrukt ist, warum die heterosexuelle „Kopie“ nicht doch anders zu konstruieren ist und ein Partner zwingend das Gegengeschlecht darstellen muß. Überhaupt: von Kopien zu sprechen setzt implizit ein Original voraus. Schlichter und phänomenologisch: Durchgängig gelingt ein wirklicher ineinandergreifender Bezug nur in der Gestalt von Schloß und Schlüssel: Zwei Schlösser schließen nichts zu oder auf, zwei Schlüssel ebenso wenig.
Das andere Geschlecht ist nicht zu vereinnahmen, nicht auf sich selbst zurückzuspiegeln: Frau ist bleibendes Geheimnis für den Mann und umgekehrt.[9] Der Mann wird nur an der Frau zum Vater, die Frau nur am Mann zur Mutter. Wer diesem zutiefst Anderen ausweicht, weicht dem eigenen Leben aus: der eigenen Kraft zum elterlichen Dasein. Aber auch weiter gedacht: Man weicht dem zukünftigen Leben als solchen aus, denn tatsächlich entsteht die neue Generation nur aus Mann und Frau. Wer den Leib zu einer „Zuschreibung“, zur Verdoppelung des eigenen Geschlechts, zum Suche nach dem Selbst im anderen macht – und was der Verkürzungen mehr sind -, unterbestimmt das Leben. Natürlich kann auch der Schritt in die Differenz mißglücken. Es macht die Not der Existenz aus, daß sie alle Lebensvollzüge degradieren kann. Es gibt die Zweckgemeinschaft Ehe, den Selbstgenuß im Sex, das frustrierte, leergewordene Zölibat, das erzwungene, lähmende Alleinsein, den Egoismus zu zweit. Aber das hindert nicht anzuerkennen, daß die Bipolarität der Geschlechter ein optimum virtutis, ein Äußerstes an Kraft herausfordert, demgegenüber andere geschlechtliche Vollzüge unterkomplex bleiben.
Aber auch kulturell gilt: Das Geschlecht ist unter allen sonstigen Unterscheidungen zwischen Menschen (Alter, Ethnie usw.) einzigartig, so daß es in keiner Kultur auf Dauer unterlaufen oder aufgehoben werden kann. Auch Gleichgeschlechtlichkeit benutzt ja die „Rollenmodelle“ männlich/weiblich: Das Schloß-Schlüssel-Modell ist nicht zu unterlaufen. Zwei Schlüssel schließen nichts auf, zwei Schlösser öffnen sich nicht gegenseitig. Darin zeigt sich eine durchgängige geschlechtlich differenzierte Leibbestimmtheit des Daseins[10].
Könnte über alle Morallehren hinweg, die doch nicht greifen, die alte Genesis-Vision erneuert werden, daß in der Zumutung und lockenden Fremdheit der beiden Geschlechter sich doch am Grund die Begegnung der göttlichen Dynamik abspielt, das unerhörte Leben des Schöpfers selber das Spiel der Geschlechter hervorruft, Er als Ur-Bild, das alle Bilder sprengt? Und daß von daher das Sich-Einlassen auf das fremde Geschlecht die göttliche Spannung ausdrückt? Daß das Spiel der Geschlechter als Bild für das alle Bilder Sprengende steht, für die innergöttliche Liebe? Erst im anderen Geschlecht ist wirkliche Andersheit, von mir nicht zu vereinnahmende, nicht mich selbst zurückspiegelnde Andersheit wahrzunehmen.
In der Regel unterschätzen wir den explosiven Beginn der Genesis (1,27): „Und Gott schuf den Menschen nach seinem Bild und Gleichnis. Als Mann und Frau schuf er sie.“ In der Zweigeschlechtlichkeit läßt sich El, der sonst Bildlose, sehen. Und dieser religiös ungewohnte Schritt unterstreicht das Götzenbilderverbot: keine Bilder Jahwes außer dem von ihm selbst gewollten – dem Menschen. Mann und Frau sind die Bildfreude Gottes. Damit eröffnet sich ein unerhörtes Beziehungsgeflecht: Wir selber sind theomorph, Gott fraulich oder männlich nachgestaltet. In dieser merkwürdigen Erkenntnis hat besonders die Tatsache Raum, daß sich jeder Mensch als geschlechtliches Wesen erfährt. Und das bedeutet sofort, daß er sich selbst nicht genügt, nach dem Fehlenden unterwegs ist. Dieser Mangel ist so stark, der Drang zur Ganzheit so zwingend, daß er außerhalb des jüdisch-christlichen Denkens von einem Gott verkörpert und nur von einem Gott geheilt werden kann: von Eros. Der Kugelmensch bei Platon, der sich „früher“ selbst genügte, Adam im Garten Eden, der Eva noch in sich trug, bevor sie sich „dann“ von ihm trennte zu einem „Gegenüber“ – wäre das nicht eigentlich das eine Abbild des einen Gottes gewesen? Die Trennung der Kugel aber, die die Griechen als Unglück empfinden, wird in der Genesis als Glück gezeichnet: Zwei Menschen erhalten das Ebenbild des Einen aufgeprägt, zwei sollen fruchtbar sein, zwei sollen herrschen – Gaben, die aus der Doppel-Ebenbildlichkeit folgen. Die Genesis zeichnet Mann und Frau, gerade weil sie zwei sind, als von Gott kommend, mit seiner Verwandtschaft geschmückt, als Doppelansicht des Unsichtbaren. Der tiefste anthropologische wie theologische Gedanke des Schöpfungsberichts ist wohl jener, daß die menschliche Liebesgemeinschaft von Mann und Frau eine Ahnung von der Liebesgemeinschaft in Gott selbst verleiht – ja, daß sich gerade an der Geschlechtlichkeit des Menschen, so geheimnisvoll sie für sich selbst schon ist, das eigentliche Geheimnis, nämlich das unvorstellbare schöpferische Füreinander und Ineinander des göttlichen Lebens ausdrückt.
Die Geschlechtlichkeit von Mann und Frau läßt bereits die Wahrheit anschaulich werden, daß Gott in sich selbst Liebe ist (1 Joh 4,16). Schon von der zweifachen Gestalt des Menschen her wäre klar, daß Gott nicht monolithisch, selbstgenügsam, schweigsam, verschlossen ist, vielmehr Hingabe, Gespräch, Beziehung – eben Liebe. Menschliche geschlechtliche Gemeinschaft als Abglanz der göttlichen Gemeinschaft – damit wäre der griechischen Trauer über die Zweiheit des Menschen eine unglaubliche Antwort gegeben: statt Trauer die Seligkeit, kraft der Trennung in Geschlechter Gottes innere Dynamik abzubilden. Und wie die menschliche Zweiheit auf Gottes Leben zurückweist, auf sein inneres „Spiel“ von Geben und Empfangen, Reichtum und Armut, Bedürfen und Stillen, Lieben und Sich-Lieben-Lassen, so gilt im vielfältigen Netz der Bezüge wiederum umgekehrt, daß Gottes Einssein auch unsere Zweiheit zu Einem fügt. Hildegard von Bingen (1098-1179) nennt Mann und Frau „ein Werk durch den anderen“, das in Wirklichkeit ein einziges gemeinsames Werk vorstelle.[11] Und dies ist nicht gemeint als Schreibtisch-Gedanke, sondern als höchste Anstrengung einer jüdisch-christlichen Fassung von Geschlechtlichkeit.
Diese Wahrheit ist lebensbestimmend: Wie tief in Gott der Ursprung alles Lebendigen, alles Menschlichen, des Eros zwischen den Geschlechtern, ja der unbeschreiblichen Freude der Mutterschaft und Vaterschaft zu verehren ist. Deswegen ja auch im Christentum die Fassung der Ehe als Sakrament: Gott als Weg von mir zu dir. Das letzte Konzil hat dankenswerterweise die verschiedenen Ehezwecke umgestellt und die gegenseitige Liebe in die erste Bedeutung gehoben. Nach wie vor freilich ermangeln Alltag wie Lehre einer christlichen Erotik, die auf der Genesis (und der paulinischen und johanneischen Theologie) gründet, die nicht modisch erfunden werden will, sondern als Schatz aus dem Acker gehoben gehört.
Professor Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz hatte bis 2011 den Lehrstuhl für vergleichende Religionsphilosophie an der Universität Dresden inne und leitet heute das Institut EUPHRat („Europäisches Institut für Philosophie und Religion“) an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Benedikt XVI. in Heiligenkreuz bei Wien. Unter ihren zahlreichen Büchern seien in diesem Zusammenhang erwähnt: Frau – Männin – Menschin. Zwischen Feminismus und Gender, Butzon & Bercker 2009; ISBN 978-3-7666-1313-4, und Eros, Glück, Tod und andere Versuche im Christlichen Denken, Resch-Verlag, Gräfelfing 2001, ISBN 3-935197-14-4
[1] Heinrich Zimmer, Indische Mythen und Symbole, Düsseldorf/Köln 1972, 153.
[2] Ebd., 158.
[3] Lao‑tse, Jenseits des Nennbaren. Sinnsprüche nach dem Tao Te King, Freiburg 1984, 98.
[4] Heinrich Zimmer, Fahrten und Abenteuer der Seele, Köln 1987, 101.
[5] Martin Buber, Ich und Du, Heidelberg 111983.
[6] H. Zimmer, op.cit. 216
[7] Johann Wolfgang von Goethe, Hermann und Dorothea. Urania, Aussicht, Frankfurt 1976, 116.
[8] Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt 1991, 39.
[9] Emmanuel Levinas, Die Zeit und der andere, Freiburg/München 1965, zählt den Tod, den Eros des Mannes zur Frau und den Sohn zu den drei großen „Passionen“ des Lebens – gerade weil sie uneinholbar, unbegriffen und alle Kraft fordernd bleiben.
[10] Ute Gahlings, Phänomenologie der weiblichen Leiberfahrungen, Freiburg/München 2006. Edith Stein, Die Frau. Fragestellungen und Reflexionen, Freiburg 32004. H.-B. Gerl-Falkovitz, Frau – Männin – Menschin. Zwischen Feminismus und Gender, Kevelaer 22016.
[11] Hildegard von Bingen, Heilkunde, hg. v. Heinrich Schipperges, Salzburg 1957, 37.
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