„Die Liebe und der Tod“ – unter diesem Titel erschienen erstmals 1999 im Verlag Janos Stekowics in Halle (Saale) Gedichte von Erik Neutsch: In diesem Band sind die ersten Gedichte des Autors aus den 1940ern bis 1950er Jahren enthalten, vor allem jugendlich schwärmerische Liebesgedichte, die aber schon die Zukunft eines großen Literaten erahnen lassen. Der zweite Teil aus den 1990er Jahren sind reife Gedichte, die vor allem seiner Frau, ihrer tapfer ertragenen Krankheit, dem Tod und dem Abschied gewidmet sind. Sie sind sehr persönlich und lassen die tiefen Gefühle des Autors erahnen. Dieser Newsletter bringt zu Beginn drei der frühen Gedichte von Erik Neutsch. Auf Wunsch des Autors wurde der Band nicht auf neue Rechtschreibung umgestellt.
NÄCHTLICHE GEDANKEN
Ich habe an dich gedacht,
als der Mond in die Wolken stieg.
Ich sah in der Sterne Pracht
dein Bild vor mir und schwieg.
Es krallte sich um mein Herz
eines Riesen gewaltge Hand.
Sie preßte gehemmten Schmerz
in die Augen mir und entschwand.
In Tränen vernahm ich bald
einen Schrei aus geliebtem Mund.
Du riefest mich. Schaurig verhallt
noch der Schrei mir im Herzens Grund.
Ich wollte mit dir dann fliehn,
dich zu retten, doch höhnend hielt
die Faust mich, ich sank dahin,
hab dem Himmel mein Los gebrüllt.
Ich habe an dich gedacht,
als der Mond in die Wolken stieg.
Ich habe gebangt die Nacht
und gebetet um unser Glück.
(17. 8. 48)
ICH BLEIBE
Du fürchtest, ich könnte gehen
und niemals mehr wiederkehren.
Du irrst. Wenn auch ungesehen,
ich würde dich hören, hören.
Wie könnte ich von dir scheiden,
wenn ich deinen Schrei vernähme?
Es würde der Mensch nie leiden,
dem dann keine Reue käme.
Der wäre im Mutterleibe
ein Stein schon, ein Barren Eisen,
der seinem geliebten Weibe
die Treue nicht könnt beweisen.
Ich bleibe. Denn beim Verlassen
schon wäre dein Schrei zu hören.
Ich bleibe…
Und sollte sich auch im Hassen
die Welt gegen uns verschwören.
(14. 11. 48)
KEIN TRAUM
Ich habe geträumt über Nacht,
wir hätten uns wieder geküßt.
Du sagtest, du hättst nicht bedacht,
wie quälend Liebesleid frißt.
Ich sah dir ins liebe Gesicht
und habe mich glücklich gefühlt.
Du sprachst, du vergäßest mich nicht.
So hast du mein Sehnen gestillt.
Wer hat sich da meiner erbarmt?
Kein Traum war’s, nicht morphische List.
Du hast mich wahrhaftig umarmt
und zärtlich den Mund mir geküßt.
(10. 2. 49)
Erstmals 1972 erschien beim Kinderbuchverlag Berlin das Buch „Doppelzweier“ von Hans-Ulrich Lüdemann: Es gibt Tage, da sollte einer gar nicht das Bett verlassen müssen. Im Bad erkennt man auf Anhieb, dass Zahnpasta nicht ausreichend vorhanden ist; beim Frühstück ist das Ei steinhart gekocht, obwohl stets vier bis fünf Minuten vorgegeben sind; auf dem Weg zur Schule fällt einem ein, dass eine Hausaufgabe in Mathe vergessen wurde; die Bio-Tante – sprich Lehrerin für Biologie – kennt an diesem Tage wohl nur den einen Schüler, und der von ihr andauend mit Fragen traktiert, obwohl dieser Schüler so gut wie gar nicht vorbereitet ist oder gerade deswegen? Am Nachmittag eines solchen Tages atmet Klas Miggelsen auf, als er die ersten Schläge auf dem Flüsschen Ryck durchzieht und sein Skiff pfeilschnell durchs Wasser von dannen zieht. Und dann? Ja, dann sieht er die am Ufer nebenher radelnde Rieke Habedank! Und der erfolgreichste Skuller des RC Poseidon kann nicht anders als die Schlagzahl zu erhöhen, um dem Mädchen zu zeigen, was für ein Kerl er ist und dass Rieke auf dem Fahrrad gegen ihn keinen Stich sieht.
Jeder Fischkopp, also die, die in der Nähe des Rycks wohnen, kennt die so genannten Mäander, ein Laie würde sagen, etliche Flusskrümmungen hintereinander, und weiß daher um die Gefährlichkeit für alle Ruderer. Rieke Habedank – ade! Klas, auch Krischan gerufen, hört mit Entsetzen das Reißen der Bespannung am Skiff. Irgend so ein Landei hatte mit Stacheldraht seinen Angelkahn im Schilf vertäut. So oder ähnlich beginnt an jenem Tag ein lange anhaltender Ärger des Supertalents Klas Miggelsen. So einfach ist es nämlich nicht um eine Reparatur bestellt. Während Zühlow wegen der fehlenden Folie nicht helfen kann, nutzt Jochen Breiting die Situation, um einen im Bootshaus unter der Decke herumhängenden Doppelzweier ins Spiel zu bringen. Dem Pädagogik-Studenten Breiting ist das Getue um den Super-Skuller Klas Miggelsen schon längst ein Ärgernis. Er fürchtet um Schaden für dessen Charakter. Deshalb ist er willens, seinen Bestmann mit dem Zugereisten Heiner Kruse in ein Boot zu setzen …
Krischan soll sich also in diesem kleinen Kollektiv bewähren, was dem Betroffenen überhaupt nicht einleuchtet. Mit dem Anfänger Kruse wird es nämlich keine Medaillen mehr geben, keine lobenden Worte vor versammelter Schülerschar durch den Direktor, keine Delegierung zu überregionalen Ausscheidungsrennen im Einer! Zu allem Übel scheint sich Rieke Habedank auch für die magere Latte aus Sachsen zu interessieren. Neue Auseinandersetzungen gilt es zu bestehen: als Klas aus der Werft eine Folienrolle mitgehen lässt, um Käptn Zühlow zur Reparatur des Skiffs zu bewegen, da hat er den Bogen überspannt. Fortan geht für Klas Miggelsen alles schief. Das Zerwürfnis zwischen den beiden scheint unlösbar. Die Frage kommt auf, inwieweit der Leistungssport in der Lage ist, lautere Charaktere herauszubilden, die sich durch Willenskraft, Fleiß und Hilfsbereitschaft auszeichnen. Ist der Kampf um Medaillen mehr oder weniger Drill, welche Methoden sind erlaubt und welche sind zum Vorteil der jungen Sportler abzulehnen? Wie groß ist die Gefahr, dass Leistungssportler statt eines Gehirns nur einen Muskel im Kopf haben?
Nach dem spannenden Buch wurde 1976 für das DDR-Fernsehen der Film „Dann steig ich eben aus“ gedreht. Und so passiert Klas Miggelsen das Unglück:
„Und – Zug! Und – Zug! Plötzlich hatte Pinne am Ufer Rieke Habedank mit ihrem Bruder gesehen. Die beiden radelten immer ein Stück auf dem Weg voraus und lachten über den einsamen Skuller auf dem Fluss. Klas hatte da die Blätter ins Wasser gehackt, als ginge es um Olympisches Gold. Er wollte der schwarzhaarigen Rieke beweisen, dass sie zwar in der Klasse 7b einiges zu sagen hatte, aber in einem Wettkampf ihm unterliegen musste. Wie ein Pfeil war das Skiff durch das Brackwasser geschossen. Über die Heckfahne, die das Emblem des RC Poseidon trug, peilte Klas die Richtung an. Rudern mit dem Rücken in Fahrtrichtung – auch das muss ein Skuller erst lernen. Rieke und ihr Bruder Robert, Pinne kannte ihn von den Pausen auf dem Schulhof, hatten anfangs Schwierigkeiten gehabt, mitzuhalten. Aber da Pinne mehrmals den Flusswindungen steuerbords und backbords folgen musste, war es für den Skuller ein aussichtsloses Rennen. Pinne wollte es nicht wahrhaben. Von Rieke ließ er sich nicht unterkriegen! Er kämpfte immer so lange, bis er glaubte, alles gegeben zu haben.
Und – Zug! Plötzlich stimmte die Peilung über die Heckfahne zur alten Mühle nicht mehr. Zu spät zog Pinne das rechte Skull stärker durch das Wasser – er kam zu weit nach backbord. Ins Schilf! Und irgendjemand hatte dort seinen Angelkahn festgemacht. Mit einer auseinandergezogenen Rolle Stacheldraht, die vom Kahn weg durch das Schilf zum flachen Wiesenufer führte. Pinne war bleich an Land gestakst, die beiden Skulls unter den rechten Arm. Mit dem linken zog er das zerfetzte Skiff hinter sich her. Den Schaden brauchte er sich nicht genauer anzusehen. Das kratzige Geräusch, das der Stacheldraht verursachte, hatte genügt. Pinne spürte, wie sich in ihm etwas zusammenzog. Für einen kurzen Augenblick nur. In Gedanken sah er sich in Oma Pegelows Zimmer, die gar nicht seine Großmutter war, um ihn herum große und kleine Scherben, dazwischen zappelten Fische – sie schnellten hoch und schnappten nach Luft. Ja, dort war ihm ähnlich zumute gewesen. Als er das Aquarium der alten Frau umsetzen wollte und er gestolpert war über den aufgeschlagenen Teppichrand. Oma Pegelow hatte nicht mit ihm geschimpft; sie hatte ihm geholfen, die Scherben beiseite zu schaffen, so wie er ihr seit einem Jahr half. Heimlich, nur seine Mutter wusste davon. Pinne mochte keine Belobigungen, in diesem Falle nicht. Dieses seltsame Gefühl zwischen Wut, Trauer und Angst verschwand so plötzlich, wie es gekommen war. An die beiden Habedanks dachte er nicht mehr. Pinne schulterte kurz entschlossen die Skulls, auf die andere Seite hievte er den Einer. Zu Fuß machte er sich auf den Weg zum Bootshaus. Unterwegs wünschte ihm einer von den Stippern am Uferrand freundlich und dabei schadenfroh grienend: Ski Heil! Tatsächlich, wenn die kurzen Hosen und die nackten Füße nicht gewesen wären, hätte man Pinne für einen Abfahrtsläufer halten können, der den Hang emporsteigt, die Bretter auf den Schultern.
Klas schwor allen Anglern ewige Feindschaft! Nur eine Ausnahme wollte er gelten lassen: Käptn Zühlow, dessen Hände noch immer über den zerfetzten Bootskörper fuhren, als könnte er dadurch die Wunden heilen, die der Stacheldraht gerissen hatte. Für Käptn Zühlow waren Boote lebendig. Wenn er sie ausbesserte, sprach er zu ihnen. Es war nicht von ungefähr, dass die Studenten, die hier ihre Ruderausbildung absolvierten, ihn den Bootsdoktor nannten. Käptn Zühlow tat so, als ginge dieser Name ihm gegen den Strich. Dann tauchte er überall auf, mäkelte beim ins Wasser bringen der Boote herum, holte einen Ruderer aus dem Umkleideraum, der die Skulls am falschen Ort abgestellt hatte oder bei dem er in den Drehdollen Fett von der Belederung der Skulls entdeckte. Die Jungen unter sich nannten ihn ehrfurchtsvoll Käptn, was dem alten Segelmacher viel besser gefiel.“
Und schon sind wir in einer ganz anderen Zeit und an einem ganz anderen Ort – in Dresden, Anfang des 19. Jahrhunderts. 1998 veröffentlichte Wolfgang Licht im Tauchaer Verlag „Leibarzt am sächsischen Königshaus“: Im Jahre 1827 wird Carl Gustav Carus, Arzt, Maler und Naturforscher, überraschend zum Leibarzt am sächsischen Königshaus berufen. Vier Jahrzehnte lang liegt die Gesundheit der königlichen Familie in seinen Händen. Ein faszinierender Einblick in die Erlebnisse des „geheymen Medicinalraths«“ und seinen Dienst bei Hofe unter den Königen Anton, Friedrich August II. und Johann. In einem kleinen Ausschnitt aus dem Buch erleben wir die Ernennung des neuen Leibarztes mit:
„Am 31. Mai 1827 starb in Dresden Friedrich August I. (geb. 1750) „der Gerechte“, seit 1806 König von Sachsen. Sein nur wenig jüngerer Bruder Anton (1755-1836) wurde neuer Herrscher. Zur gleichen Zeit hatten zwei Leibärzte ihr Amt aufgegeben. An einem Septemberabend dieses Jahres fand Carl Gustav Carus auf dem Schreibtisch seines Arbeitszimmers in der Klinik einen Brief seines älteren Kollegen Friedrich Ludwig Kreysig vor. Der Professor schrieb ihm, dass er beauftragt sei, Carus eine der frei gewordenen Leibarztstellen anzutragen; die zweite sei für Kreysigs Neffen Leopold Francke, ebenfalls Professor an der Akademie, vorgesehen. Carus fuhr sich mit einer Hand ins Haar. Er war höchst überrascht, voller Freude. Er trat ans Fenster, blickte auf die jetzt dunstverhangene Elbe. Er war unsicher. Angetan vom Beweis eines großen Vertrauens der höchsten Personen des königlichen Hauses kamen ihm auch Zweifel, Bedenklichkeiten, ob er einem solchen Amte vorstehen sollte. Schon eine längere Zeit hatte er erwogen, seine Professur für Geburtshilfe an der Akademie und die Direktion des Entbindungsinstituts niederzulegen.
Er hatte diese Arbeit zunehmend als Bürde empfunden, war ihrer überdrüssig geworden. Nun wurde ihm eine erfreuliche Zukunft vorgestellt. Würden ihm aber die strengen Regeln am Hofe, die Zeremonien, die vielfältigen Beschwernisse der Leibärzte, von denen er hatte reden hören, nicht neue Beschränkungen auferlegen? Er dachte an Goethe, mit dem er Briefe wechselte, wissenschaftliche Arbeiten austauschte, der ihn auch als Künstler schätzte. Goethe – ein Vor- und Leitbild seiner eigenen Lebensgestaltung. Auch er hatte diese Entscheidung einst treffen müssen: „ob nach Hof oder nicht nach Hof“, und hatte lange das Für und Wider erwogen. Carus konnte sich heute nicht entscheiden. Am nächsten Tage bat er Kreysig um eine Unterredung. Dem hoferfahrenen Leibarzt gelang es schließlich in einem langen Gespräch, die Bedenken von Carus zu zerstreuen. Das strenge Zeremoniell und die allzu steife Etikette hielte man unter Anton nicht mehr aufrecht, und weitere Veränderungen zum Guten stünden bevor. Carus nahm das Amt an.
Am 22. September, es war ein sonniger, fast windstiller Tag, wurden er und Francke mit Kreysig und dessen Frau in einer Kutsche an das linksseitige Elbufer nach Zschachwitz gefahren. Am Ufer hielt eine Gondel, in der sechs Ruderer in gelber und blauer Fischerlivree sich anschickten, die Ankömmlinge über den Fluss zu bringen. Als Carus, etwas steif vom Sitzen, die Kutsche verließ und die ankernde Gondel gewahrte, überkam ihn plötzlich wieder das Gefühl, sich in eine neue Abhängigkeit zu begeben. In einer gewissen Beklommenheit erlebte er die Überfahrt. Die Gondel hatte die baum- und strauchbewachsene Insel passiert und näherte sich nun dem Wasserpalais mit seinen geschweiften, an chinesische Bauweise anklingenden Dächern. Nachdem das Schiff angelegt hatte, betraten sie die anmutig geschwungene Freitreppe. Ein Höfling begrüßte die Ankommenden und geleitete sie in das behaglich eingerichtete Zimmer der Leibärzte. Schließlich erschien Graf von Vitzthum, sächsischer Minister und Geheimer Hofrat, dessen Familie zu Carus Patienten zählte, und führte ihn und Francke von Zimmer zu Zimmer, wo er sie den anwesenden Herrschaften vorstellte. Bemerkenswert fand Carus den Bruder des Königs, Prinz Maximilian, Vater der Prinzen Friedrich August und Johann. Der Hochbetagte war ein passionierter Musikliebhaber, der auch selbst immer noch musizierte. Ferner beeindruckte Carus die einäugige Gemahlin Antons, Königin Therese, eine Tochter Kaiser Leopolds, die er für eine ziemlich klar sehende Frau hielt. Anton selbst gab sich ungekünstelt. Er hoffe, sagte er in humorigem Ton, den „Doctores“ nicht viel zu tun zu geben. Und so waren sie nach einer halben Stunde entlassen …
Carl Gustav Carus stand inmitten des mit stilvollen Möbeln eingerichteten Zimmers der Leibärzte. Er betrachtete die Intarsien an den Flügeltüren eines Schrankes. Sie zeigten geometrisch angeordnete pflanzliche und tierische Gebilde in seltsamer Verschlingung; helles in dunklem Holze. Er zog sich den Chippendale-Stuhl ans Fenster, um den Blick auf die Elbe zu haben, hoffte, in Betrachtung der besonnten Landschaft zur Ruhe zu kommen. Unerwartet hatte sein Leben eine jähe Wendung genommen. Seine neue Stellung war ehrenvoller. Er hatte das Perpetuum mobile einer Entbindungsanstalt nicht mehr am Hause, und die Plage, zum zwanzigsten und dreißigsten Mal die Anfangsgründe der Hebammenkunst vorzutragen, war vorbei. Für seine ausgedehnte Praxis, die er ja behielt, und vor allem für seine wissenschaftlichen und künstlerischen Arbeiten hoffte er, nun mehr Zeit zur Verfügung zu haben.“
Ebenfalls von Wolfgang Licht stammt der zwanzig Jahre vor dem „Leibarzt“ zuerst im Aufbau-Verlag Berlin und Weimar erschienene Titel „Bilanz mit Vierunddreißig oder Die Ehe der Claudia M.“ Und auch hier geht es um Mediziner – allerdings in der DDR: Die Ehe der Claudia M. war eine Liebesheirat. Aber die Erlebnisse des Anfangs sind undeutlich geworden. Claudia erinnert sich nur an einzelne Bilder. Martin wurde Internist, sie Gynäkologin. In ihrer Arbeit hatten sie Erfolg, waren angesehen. Nun ist er Chefarzt in einer medizinischen Klinik. Ein guter Platz auch für seine wissenschaftlichen Pläne. So kann er weitermachen von Ziel zu Ziel. Claudia hat sich ihre Zukunft anders vorgestellt Auch ihr Leben verläuft weitgehend von den Regeln des Berufs bestimmt. Aber der Dienst im Operationssaal und an den Patientenbetten genügt ihr nicht. Sie braucht Anregungen von draußen Die Abende mit Martin sind eine Sache für sich. Es gibt kaum Gespräche, gemeinsame Erlebnisse sind rar geworden. Claudia versucht schließlich aus dieser Ehe auszubrechen. Doch die erhoffte Erfüllung stellt sich nicht ein. Folgen wir Claudia M. auf ihrem Nachhauseweg:
„In der Mozartstraße
1. Kapitel
Ich habe mich heute rasch verabschiedet von Dr. Anna Kerst, Oberarzt Fahrner, Dagmar und den anderen Schwestern, plötzlich beunruhigt, es könnte mich etwas zum Bleiben zwingen: eine regelwidrige Geburt, eine Blutung. Ich habe ihnen entschieden die Hand gedrückt und mich sofort umgedreht.
In der Bahn suche ich einen Haltegriff, blicke über die Gesichter hinweg durch die Scheiben. Am Borchertplatz steige ich aus. Vor der Brücke gehe ich langsamer, beobachte die vorbeifahrenden Autos. Martins Wagen würde ich sofort erkennen, obwohl ich das Kennzeichen oft falsch ansage wie damals auf der VP-Meldestelle, als ihn jemand „ungerechtfertigt benutzt“ und an einen Prellstein gefahren hatte. Ich kenne Martins Auto so gut wie seine Stimme am Telefon. Martins Stimme. Martins Auto. Martins Sachen. Ja, das ist seins, könnte ich sagen, auch von dem ältesten abgelegten Stück, das ich fände. Nach zwölf Ehejahren ergibt sich das so.
Ich blicke hinab in den Fluss neben der Straße. Sein Wasser ist violett und riecht stark, auch der Stadtwald ist voll von dem Geruch. In diesen Straßen sind nur noch vereinzelt Autos, wie Spritzer einer Flut. Auf den Fahrbahnen kreiseln Kinder. Ich biege ein in die Mozartstraße. Das Jugendstilwohnhaus liegt wie hinter Palisaden. An dem hohen Kunstschmiedegitter ein übergroßes Emailschild. Dunkelblau. Darauf die Zahl vierzehn, weiß.
Im Treppenhaus höre ich meine eigenen Schritte. Hinter einer Flurtür brennt Licht. Eine Männerstimme tönt laut, aber was sie sagt, ist nicht verständlich. Als ich vorbeigehe, erlöscht das Licht, und eine Tür schlägt. Mir kommt das blonde Fräulein Grabner aus dem dritten Stock entgegen. Sie hält ihr langes Kleid unter dem hellen Mantel. Wir grüßen beide gleichzeitig und sehen uns freundlich an. Unwillkürlich horche ich auf das Zuschlagen der Haustür. Eine Weile noch gehe ich durch Parfümhauch.
In der Diele neben dem Spiegel der Fleck an der Tapete. Die schmutzgefüllten Risse im Parkett. Der Garderobenhaken, immer noch abgebrochen. Ich hebe die Zeitungen vom Fußboden auf, stecke sie in den Ständer. Eine Ansichtskarte aus Strbske Pleso. Berge, Schnee auf dem Gipfel, der glatte See: Ferienfarben hinter Glanzschicht. Sind sie wirklich? Die Luft hier ist abgestanden. Vielleicht riecht es auch bloß nach nichts. Oder wie gestern und alle Tage.
Ich öffne das Wohnzimmerfenster und beuge mich hinaus, unruhig auf Martin. Die Bewohner in den gegenüberliegenden Häusern bewegen sich hinter ihren Fenstern, als bereiteten sie etwas vor. Aber ich weiß, alles, von dem ich denke, es seien Vorbereitungen, ist bereits das Ziel. Ich nehme den Staublappen aus dem Fach und beginne zu wischen. Obwohl fast kein Staub liegt auf den Flächen, den Stuhlrändern. Vielmehr, an meinen prüfenden Fingern, der gleiche Staub danach wie vorher.
Auf der hinteren Parkseite haben die Baumwipfel jetzt den Abendmond zwischen sich. Im Dunkeln tschilpen Spatzen. Eine Autotür schlägt. Sofort spüre ich mein Herz. Als sei eine Sperre behoben. Ich halte wieder alles für möglich, Verzicht unnötig. In der weit geöffneten Tür warte ich auf Martin. Er kommt, Stufen überspringend, mit vorgeschobenem Oberkörper, die Lippen voneinander. Er stellt seine Tasche ab. Du bist im Mantel?
Ich gehe zum Eisschrank, mache die Tür auf. Könnten wir nicht einmal essen gehen? Ich achte auf sein Gesicht. Bier ist auch alle, sage ich. Ich höre sein Taschenschloss klicken. Er hat Kleiderhaken gekauft. Da lese ich ihm vor, was sie im Schauspielhaus, in der Oper geben. Ich wollte die Haken eigentlich gleich anmachen. Aber wenn du große Lust hast?
Ach, ich sage es leichthin, es gibt nichts Gescheites. Längst geht mein Herz wieder seinen Gang. Warum sollte es sich beeilen? Ich schneide Brot, wasche Messer. Das Neonlicht brennt, die Kacheln blinken, die Küchenmaschine heult, das Wasser rumort in der Leitung. Ich halte meine Miene beieinander. Stirn, Lippen glatt. So glätte ich auch mein Empfinden. Zwinge es aufs Tischdecken. Platten garnieren, noch einmal die Gläser überputzen. Ich trage eine dunkelblaue Schürze mit weißem Rand. Martin hat sie für mich ausgesucht.
Als ich alles auf den Tisch im Wohnzimmer gebracht habe, ruft mich Martin in den Flur und zeigt mir die neuen Haken.“
„Besuchszeit“ von Dorothea Iser wurde erstmals 1991 im Verlag Neues Leben Berlin veröffentlicht: Bettina wollte ihre Schwester Jule nie wiedersehen. Sie kann nicht vergessen, dass Jule sie belogen und betrogen und ihr den Freund weggenommen hat. Auch vor der Begegnung mit Albert, der ihrer Schwester nicht hat widerstehen können, fürchtet sie sich. Und trotzdem fährt sie zu Jule, die mit lebensgefährlichen Verletzungen im Krankenhaus liegt.
Von ganz anderen Verletzungen ist im 2. Kapitel dieses Buches die Rede:
„Franziska Schönfeld wartete ungeduldig auf die Rückkehr ihrer Tochter. Sie bezog im Schlafzimmer das zweite Bett und dachte daran, wie sie erklären sollte, dass Hans in den Nächten nicht mehr neben ihr war. Manchmal griff sie noch schlaftrunken zu ihm rüber, griff ins Leere, was sie jedes Mal wieder schreckte und nicht schlafen ließ. Sie hatten sich was vorgemacht, weil sie sich die Leere, die zwischen ihnen war, nicht eingestehen wollten. Wie war es dazu gekommen? Einst hatten sie an dem singenden See gesessen. Hans erklärte ihr lächelnd das physikalische Gesetz, aber Franziska schüttelte den Kopf bei seinen Worten. Der See hat ein Geheimnis. Er ist wie ein Mensch. „Er ist wie eine Frau“, hatte Hans gesagt und ihr den Arm um die Schulter gelegt. Franziska sah ihn fragend an. „Er hat immer das letzte Wort“, fügte Hans leise hinzu. Sie lauschten verzaubert.
Was ist mit uns geschehen, dachte Franziska. Wir können an unserm See sitzen, ohne diesen Zauber von einst zu spüren. Wir schweigen wie Fremde, die zufällig auf der gleichen Bank sitzen. Wenn wir reden, wiederholen wir, was andere gesagt, gedacht, gefühlt haben mögen. Ihr Aufbegehren. Die Angst, Fragen zu stellen, weil Hans antworten könnte: Franziska, wir kaufen uns ein anderes Auto. Er könnte auch sagen, wir richten uns das Wohnzimmer neu ein. Ihre Angst ist unbegründet. Es gibt nicht mal mehr solche Wünsche, über die sie reden. Seine Ausflüchte: Ich habe zu arbeiten. Sie wehrt sich auch mit Ausflüchten: Ich habe Kopfschmerzen. Sie weiß längst, wie alle anderen Versuche enden.
Hans legt ihr beim Kuss die Hand auf die Brust. Franziska weiß, wann sie abwärts wandert, weiß, was er ihr dabei zuflüstern wird, weiß, was sie antworten wird. Ihr ist elend zumute. Wir wollen uns lieben, aber wir tun es nur noch miteinander, dachte sie. Das muss ein Ende haben, bevor wir uns hassen. Die Vorwürfe, noch klangen sie harmlos. Ihrer: Du schnarchst. Seiner: Du stöhnst. Sie hatten sich getrennt, abgegrenzt voneinander mithilfe einer Zimmerwand. Den letzten Schritt wagten sie nicht zu tun. Hans und Franziska, Franziska und Hans, die Schönfelds eben, die gehörten zusammen, alles andere war unvorstellbar.
Franziska wünschte sich in der letzten Zeit oft, einfach auf und davon gehen zu können. Mit jedem Jahr wird es schwerer werden. Ich muss mit ihm darüber reden, dachte sie. Sobald wir wissen, was mit Jule ist. Sie wischte sich die Augen trocken und strich die Bettdecke glatt. Als sie sich aufrichtete, stand Hans vor ihr. Er kratzte sich unschlüssig am Hinterkopf.
„Wir sollten Bettina nichts davon sagen“, schlug er vor. Franziska glaubte, sich verhört zu haben. „Vielleicht wird alles gut.“ Er sagte es unsicher. „Wir lieben uns doch. Zugegeben. Es ist nicht mehr so aufregend. Aber schön war es immer.“ „Lüge.“ Hans vertrug das Wort nicht. Er fuhr auf. Sie wusste nur zu gut, was er dachte: Die Nachbarn. So endete ihr Ausbruch kläglich. „Ich möchte ja, dass alles gut wird“, sagte Franziska. „Wenn du mich umarmst, soll mein Herz schneller klopfen. Ich will Lust spüren. Ich spüre sie aber nicht. Ich kann mir das nicht befehlen.“ „Was soll ich denn tun? Dich in die Arme nehmen? Es hat uns immer geholfen.“ „Ja, dir. Das ist vorbei.“ „Du bist überreizt. Ich verstehe dich.“ „Ich werde gehen.“ Endlich war es heraus. Wenn sie bliebe, würde sie nie erfahren, ob noch etwas zwischen ihnen zu retten lohnte. Die Lüge, meine Lüge tötet, dachte Franziska. „Musst du jetzt damit anfangen. Wir haben Sorgen genug, es geht um das Leben unseres Kindes.“ Ich hätte eher reden müssen, dachte Franziska. Vielleicht wäre alles anders gekommen. Auch für Jule. Schweigen verschlimmert. Wann hatte das Schweigen begonnen? Franziska suchte nach einer Erinnerung.
Kinderzeit. Der Vater kommt von der Arbeit. Er steht in der Tür und verdunkelt den Flur, in dem die Tochter Franziska mit ihren drei Puppen Schule spielt. Vor Dunkelheit fürchtet sie sich. Die erinnert sie an den Keller. Dort hat sie der Vater eingeschlossen, weil sie zu laut weinte. Sie sieht an dem Vater hinauf. Der wartet, dass Franziska ihm in die Arme fliegt. Franziska senkt stumm den Kopf. Die Mutter huscht an ihr vorüber. Sie sagt mit gesenkter Stimme Worte, die das Kind nicht versteht. Aber es sind Worte, die den Schatten auflösen. Der fließt still in das Haus, nimmt die Schwelle zur Küche und kommt zurück. Franziska fürchtet sich. Die Mutter nimmt ihr die Puppen weg. Wer trotzt, braucht kein Spielzeug. Die Puppen schlenkern hilflos mit den Armen. Sie verstehen nicht, dass Franziska die Entführung zulässt. Die Kränkung. Sie sind kein Zeug zum Spielen. Sie sind Kinder und werden in den dunklen Schrank müssen. Dorthin verkriechen sich die Schatten, um sich zu stärken. Franziska läuft weinend zum Vater. Sie umklammert seine Beine ängstlich. Die langen Männerarme greifen nach ihr. Sie drücken Franziska an das raue Gesicht. Das reibt schmerzend die Haut auf. Die Mutter droht mit Blicken. Wirst du Vater endlich lieb haben! Franziska nickt brav. Das Gesicht brennt ihr. Der Vater stellt die Tochter auf den Boden zurück. Die Mutter reicht ihr die Puppen. Wenig später schimpft Franziska mit den Puppenkindern. Sie sollen sich vertragen. Sonst holt sie den Schattenmann, der drückt ihnen die Augen in den Kopf. Sie probiert es gerade. Die Mutter ist entsetzt. Sie will herausfinden, warum die Tochter ihre Kinder misshandelt. Franziska schweigt.“
Aber gerade dieses Schweigen lässt einen nicht mehr los und verlangt nach dem Weiterlesen. Wie geht es weiter? Und was passiert mit Bettina und Jule? Und wie ist es überhaupt mit der Liebe? Was ist gut für sie? Und was nicht?
Und so soll dieser Newsletter ebenso überraschend enden wie er begonnen hat – mit einem der frühen Gedichte von Erik Neutsch aus dem Band „Die Liebe und der Tod“:
WIDMUNG
Ein leises Ja von deinen Lippen,
es gibt mir Mut, tilgt alle Schmerzen.
Ein stummes Nicken deiner Augen
ist Balsam meinem wunden Herzen.
Ein leises Ja auf meine Bitten,
ein Liebeshauch wie blühend Flieder,
es tut mir gut, löscht alle Leiden
und gibt mir meinen Frieden wieder.
(23. 1. 49)
Die vor 23 Jahren von Gisela und Sören Pekrul gegründete EDITION digital hat sich seit 2011 verstärkt dem E-Book verschrieben, verlegt aber inzwischen auch zahlreiche gedruckte Bücher – zumeist gleichzeitig als gedruckte und digitale Ausgabe desselben Titels. Zudem bringt sie Handwerks- und Berufszeichen heraus. Insgesamt umfasst das Verlagsangebot derzeit fast 900 Titel (Stand Oktober 2017) von 120 DDR- und anderen Autoren, wie Wolfgang Held, Klaus Möckel, Wolfgang Schreyer und Erik Neutsch sowie den SF-Autoren Carlos Rasch, Heiner Rank, Alexander Kröger und Karsten Kruschel. Nachzulesen ist das Gesamtprogramm unter www.edition-digital.de. Jährlich erscheinen rund 100 E-Books und 15 gedruckte Bücher neu.
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